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Aus: Ausgabe vom 16.12.2024, Seite 16 / Sport
Schach

Niemand stellt einen Läufer in die Ecke

Gukesh Dommaraju ist Schachweltmeister
Von Sören Bär
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Der Kulminationspunkt: Ding bietet mit 55.Tf2?? den Turmtausch an und übersieht den Übergang in ein für Gukesh gewonnenes Bauernendspiel durch 55...Txf2! 56.Kxf2 Ld5!

Die letzte Partie des Schach-WM-Matches in Singapur zwischen Titelverteidiger Ding Liren (China) und Herausforderer Gukesh Dommaraju (Indien) endete dramatisch. Als alles auf ein Remis und einen Schnellschach-Tiebreak hindeutete, verlor der 32jährige Champion am Donnerstag die Nerven und beging einen kapitalen Fauxpas. Gukesh nutzte die Gunst des Augenblicks und krönte sich im Alter von 18 Jahren zum 18. klassischen Schachweltmeister.

Die unerträgliche Spannung entlädt sich im 55. Zug. Ding sieht seine Zeit unerbittlich herunterticken und gibt der Versuchung nach, durch einen Turmtausch seine Qualen zu beenden und endlich das ersehnte Remis zu unterschreiben. Nach dem 7:7 würde er, der brillante Schnellschachspieler, im Rapid-Tiebreak Favorit sein. So hatte er am 30. April 2023 Jan Nepomnjaschtschi geschlagen und den WM-Titel ins Reich der Mitte entführt. So hatte es auch Magnus Carlsen 2016 gegen Sergej Karjakin und 2018 gegen Fabiano Caruana gemacht. Von Beginn an hatte Ding deshalb nichts anderes im Sinn, als die Friedenspfeife zu rauchen. Hatte ihm das hart erkämpfte Remis in der 13. Partie zu viel Energie geraubt? Statt in besserer Position selbst auf Gewinn zu spielen, wollte er vereinfachen, abtauschen und das Brett bis zu den blanken Königen leer saugen. Ohne Not begab er sich in die Bauchlage und machte ein Zugeständnis nach dem anderen. Doch im Schach verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit des Gegners. Gukesh weiß um seine Unterlegenheit im schnellen Spiel und will in der finalen klassischen Partie alles versuchen. Der Druck auf den Champion wächst kontinuierlich an. Ding führt, macht das verhängnisvolle Tauschangebot 55.Tf2?? Im Läuferendspiel wäre das Remis unterschriftsreif, so glaubt er. Gukesh notiert den Zug und erstarrt. Kann das wirklich wahr sein? Er beugt sich nach vorn und schaut ungläubig aufs Brett. Um seinen Mundwinkel spielt ein kaum wahrnehmbares Lächeln ob des unverhofften Glücks. In diesem Augenblick wird ihm klar, dass er – und nur er – diesen Tisch als Sieger verlassen und das Match mit 7,5:6,5 gewinnen wird.

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Vom Wunderkind zum Schachweltmeister: Gukesh Dommaraju

Ding merkt auf. Er sieht seinen schrecklichen Fehler und vergräbt seinen Kopf in seiner rechten Hand. Für eine Sekunde hatte er vergessen, dass sein Läufer in der Brettecke dem Abtausch nicht mehr entkommen kann – ein fataler Irrtum. Agonisierend führt er die forcierten letzten Züge aus. Es gibt keine Rettung mehr. Der ohrenbetäubende Jubel der indischen Fans muss auch innerhalb des Glaskastens zu vernehmen sein. Ding flüchtet mit hängenden Schultern vom Ort des furchtbaren Geschehens. Gukesh – von seinen Emotionen völlig überwältigt – bricht in Tränen aus und baut wie in Trance die weißen und schwarzen Figuren wieder auf. Er, der während des gesamten Wettkampfes am Brett nahezu stoisch gewirkt hatte, realisiert plötzlich, dass es ihm tatsächlich gelungen ist, als zweiter Inder nach Viswanathan Anand Krone und Zepter des königlichen Spiels zu erobern. »Vishy Sir« – wie Gukesh sein Idol nennt – hat das Schachspiel in dem mit 1,426 Milliarden bevölkerungsreichsten Land der Erde zu enormer Popularität geführt. Die Begeisterung wird sich nun in Ekstase verwandeln. Wird es zu einem Aufeinandertreffen Gukeshs mit dem Weltranglistenersten Carlsen kommen? Werden die Inder über Jahre hinaus unbesiegbar bleiben? Wird Ding jemals über diese Tragödie hinwegkommen? Das sind nur einige der Fragen, die sich gegenwärtig in der Schachwelt stellen.

Ding Liren – Gukesh Dommaraju, Schachweltmeisterschaft 2024, Singapur, Runde 14, 12. Dezember 2024, Grünfeld-Indisch im Anzuge

1.Sf3 d5 2.g3 c5 3.Lg2 Sc6 4.d4 (Damit ist Grünfeld-Indisch mit vertauschten Farben erreicht.) 4…e6 5.O-O (5.c4 würde in Katalanisch überleiten.) 5…cxd4 6.Sxd4 Sge7!? (Eine Überraschung: Üblich sind 6…Lc5 und 6…Sf6, während 6…e5?! 7.Sxc6 bxc6 8.c4! Le6 9.Sc3 nach 9…Se7 10.Da4 oder 9…Sf6 10.Lg5 Weiß klaren Vorteil einbrächte.) 7.c4 Sxd4 8.Dxd4 Sc6 (Durch den Angriff auf die Dame gewinnt Schwarz ein Tempo für 9…d4.) 9.Dd1 d4 10.e3! Lc5 11.exd4! (11.Dh5 Db6 12.exd4 Lxd4 13.Sc3 0-0 =) 11…Lxd4 12.Sc3 O-O 13.Sb5 Lb6 14.b3 a6 15.Sc3 Ld4 16.Lb2 e5 17.Dd2 Le6 18.Sd5! +/= (Mit diesem Zentralspringer hat Ding ideale Voraussetzungen für ein Spiel auf nur zwei Resultate geschaffen, doch im Folgenden kommt er vom rechten Wege ab.) 18…b5! 19.cxb5?! (Mit 19.Lxd4! Sxd4 [19…exd4 20.Sf4! +/-] 20.f4! bxc4 21.bxc4 Tc8 22.Tac1 Dd6 23.fxe5 Dc5 24.Kh1 +/= konnte Ding auf Gewinn spielen, weil 23…Dxe5?? 24.Tfe1 +- den Springer verlöre.) 19…axb5 20.Sf4 exf4 21.Lxc6 Lxb2 22.Dxb2 Tb8 23.Tfd1 Db6 24.Lf3 (Ein reines Schwerfigurenendspiel mittels 24.Ld7 Tfd8 25.Lxe6 Dxe6 26.Dc3! = war vorzuziehen. Damit hätte Ding auch das lästige 26…b4? verhindert, denn nach 27.Dxb4! +/- scheitert 27…Txb4?? an 28.Txd8+ De8 29.Txe8#.) 24…fxg3 25.hxg3 b4! (Gukesh legt die Bauernstruktur am Damenflügel fest und setzt auf zwei Trümpfe – das Spiel gegen a2 und seinen Mehrbauern am Königsflügel.) 26 a4? (Ding will sich sofort der Schwäche a2 entledigen. 26.Td4 oder 26.Ld5 waren vorzuziehen.) 26…bxa3 27.Txa3 g6 28.Dd4 Db5 (28…Lxb3 29.Dxb6 Txb6 30.Tb1 Tfb8 31.Ta8 Txa8 32.Lxa8 Ta6 33.Txb3 Txa8 hätte dieselbe Konstellation im Turmendspiel ergeben wie in der 13. Partie.) 29.b4?! (Statt 29.Td3 = will der Weltmeister den Damentausch sowie den Abtausch eines Turmpaares erzwingen und das Endspiel mit Minusbauer verteidigen.) 29…Dxb4 30.Dxb4 Txb4 31.Ta8 Txa8 32.Lxa8 (Weiß kann diese statische Stellung trotz seines Minusbauern objektiv nicht verlieren. Doch der Weg zum Remis führt über endlose Qualen …) 32…g5 33.Ld5 Lf5 34.Tc1 Kg7 35.Tc7 Lg6 36.Tc4 Tb1+ 37.Kg2 Te1 38.Tb4 h5 39.Ta4 Te5 40.Lf3 Kh6 41.Kg1 Te6 42.Tc4 g4 43.Ld5 Td6 44.Lb7 Kg5 45.f3 (Schwächt die zweite Reihe, aber Ding will nach 45.Ta4 nicht auf 45…f5 46.Tc4 h4! warten.) 45...f5 46.fxg4 hxg4 47.Tb4 Lf7 48.Kf2 Td2+ 49.Kg1 Kf6 50.Tb6+ Kg5 51.Tb4 Le6 52.Ta4 Tb2 53.La8?! (Ouvertüre des Fehlers: Man sollte einen Läufer nicht freiwillig in die Ecke stellen. Korrekt war 53.Lc6.) 53…Kf6 54.Tf4 Ke5 55.Tf2?? (Ding vergisst für einen Moment, dass sein Läufer auf a8 steht. Er musste mit 55.Ta4 weiter abwarten, wonach Gukesh wohl mittels 55…La2 56.Lc6 Lb1 die Überführung des Läufers nach e4 angestrebt hätte.) 55…Txf2! 56.Kxf2 Ld5! (Erzwingt den Läufertausch und den Übergang in ein gewonnenes Bauernendspiel.) 57.Lxd5 (Der Titelverteidiger muss sich ins Unvermeidliche schicken, denn das Brett ist nach acht Reihen zu Ende und deshalb 58.Lb9 kein regulärer Zug …) 57…Kxd5 58.Ke3 Ke5 (Gukesh ist neuer Weltmeister, denn nach 59.Kd3 f4 60.Ke2 f3+ 61.Ke3 erfüllt sich die Hoffnung auf 61…Kd5 62.Kf2 Ke4 63.Kf1 Ke3 64.Ke1 f2+ 65.Kf1 Kf3?? = patt nicht, sondern Schwarz gewinnt mit 61…f2! 62.Kxf2 Kd4! 63.Ke2 Ke4 64.Kf2 Kd3 65.Kf1 Ke3 66.Kg2 Ke2 67.Kg1 Kf3 68.Kh2 Kf2 69.Kh1 Kxg3 70.Kg1 Kh3! 71.Kh1 g3 72.Kg1 g2 73.Kf2 Kh2 und eskortiert den g-Bauern zur Dame.) 0:1

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