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Aus: Ausgabe vom 19.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Neokolonialismus

Sturm über Mayotte

Die Opferzahlen in der französischen Kolonie sind nicht allein Naturgewalten, sondern auch dem Neokolonialismus geschuldet
Von Bernard Schmid
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Vor dem Tropensturm »Chido« boten die Elendsbehausungen auf Mayotte keinerlei Schutz (Pamandzi, 17.12.2024)

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wird diesen Donnerstag auf Mayotte erwartet. Sein Eintreffen dort wird nach der verheerenden Sturmkatastrophe vom Sonnabend die nationale und internationale Aufmerksamkeit verstärkt auf die Inselgruppe im Indischen Ozean ziehen. Die Naturkatastrophe forderte laut korrigierten offiziellen Angaben vom Mittwoch mindestens 22 Todesopfer, 1.373 Menschen wurden verletzt. In Wirklichkeit dürften die Zahlen jedoch weit höher liegen.

Frankreichs Nochinnenminister Bruno Retailleau, von dem aber erwartet wird, dass er auch unter dem jüngst ernannten Premierminister François Bayrou im Amt bleibt, war am Montag abend auf Mayotte eingetroffen. Am Dienstag erklärte er, dass die islamische Glaubensvorschrift, wonach Verstorbene innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden müssten, es erschwere, die wahre Zahl der Todesopfer zu ermitteln. Denn zahlreiche Verstorbene seien mutmaßlich bereits ohne behördliche Registrierung zu Grabe getragen worden. 99 Prozent der Inselbevölkerung sind muslimischen Glaubens. Es wird deswegen wohl dauerhaft bei einer hohen Dunkelziffer bleiben.

Doch nicht nur der Sturm, dessen Auswirkungen laut einer am Dienstag publizierten Studie des britischen Imperial College durch die menschengemachte Erderwärmung in einer Weise verstärkt wurde, dass er von der Kategorie drei in die Kategorie vier hochgestuft werden musste, wurde auf Mayotte zu einer tödlichen Gefahr. Auch der Neokolonialismus tötete dort.

Der kleine Archipel wurde, zwei Jahre und zwei Tage nach einer Volksabstimmung im Frühjahr 2009, die von gegenüber Frankreich kritischen Kräften boykottiert worden war und an der folglich nur die Unterstützer des »Ja«-Votums teilnahmen, am 31. März 2011 zum 101. Département oder Verwaltungsbezirk der Französischen Republik erklärt. Dadurch wurde sie zugleich zum »ultraperipheren Territorium der Europäischen Union«, wie es auf französisch heißt, oder zum »EU-Gebiet in äußerster Randlage« in der deutschen Amtssprache.

Frankreich hatte dem seit 1892 von ihm kolonisierten Archipel der Komoren, zu dem Mayotte gehört, im Juli 1975 die Unabhängigkeit zurückgegeben. Anders als zuvor angekündigt, wurden die Ergebnisse einer gemeinsamen Volksabstimmung, die zugunsten der Unabhängigkeitsbefürworter ausging, jedoch nicht komplett berücksichtigt. Denn auf Mayotte hatte Frankreich bei der Abstimmung vom Dezember 1974, die unter unlauteren Bedingungen stattfand, eine Mehrheit für den Verbleib bei der früheren Kolonialmacht votiert. Also wurden damals nur drei der vier größten Inseln des Archipels in die Selbständigkeit entlassen. Hintergrund dafür waren unter anderem frühere Regionalkonflikte aus der vorkolonialen Ära, aber auch eine Konzentration französischen Verwaltungspersonals auf Mayotte, das schon früh (1841) vom damals auf Madagaskar ansässigen Sultan an Frankreich »verkauft« worden war.

Daraufhin spaltete die Pariser Politik die Inselgruppe auf, was von den Vereinten Nationen bis heute abgelehnt wird: Eine UN-Resolution von 1976 forderte den »sofortigen Rückzug« Frankreichs von Mayotte. Das Land mischte sich zugleich mit einer Serie von Söldnereinsätzen – deren berühmtester Akteur der 2007 verstorbene »Haudegen« und Söldnerführer Bob Denard war – und mit der Unterstützung von Putschen auf den übrigen Komoreninseln ein, wo die Lebensbedingungen drastisch hinter denen auf Mayotte zurückblieben. Durch Transferzahlungen aus der Metropole versucht Frankreich dort, einen »Attraktivitätsmagneten« zu schaffen, um die Zustimmung für die Aufrechterhaltung seiner auch militärischen Präsenz im Indischen Ozean und in ostafrikanischen Gewässern beizubehalten. Bürgerliche Regierungen auf den Komoren wiederum stellten ihren Staatsangehörigen, erwiesen diese sich als sozial unzufrieden, oftmals die Auswanderung auf Mayotte als einzige Alternative in Aussicht.

Seitdem Frankreich 1995 eine Visumspflicht zwischen den Inseln einführte, ertranken mehr als zehntausend Menschen in der siebzig Kilometer breiten Meerenge zwischen Mayotte und dem benachbarten Anjouan, und viele komorische Staatsangehörige müssen ein Leben in der »Illegalität« auf Mayotte führen, wo sie den Löwenanteil der abhängigen Arbeitskräfte darstellen, obwohl sie sich nach eigener Überzeugung in Wirklichkeit im eigenen Land befinden. Nun haben sie dafür einen gigantischen Preis bezahlt.

Patrick Karam, ein früherer französischer »Überseepolitiker« unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys (2007–2012), erklärte am Dienstag abend in einem Fernsehinterview, schon zu jener Zeit sei ihm gegenüber die Anzahl der »illegal« auf Mayotte lebenden Komorer auf 100.000 beziffert worden. Heute liege ihre tatsächliche Anzahl in Wahrheit zwischen 200.000 und 250.000.

Die Elendsbehausungen dieser Bevölkerung, die zum Gutteil in Wellblechvierteln lebt, wurden durch die Naturkatastrophe weitestgehend zerstört. Vielfach hatten deren Einwohner zuvor den Aufforderungen der Behörden, sich vor dem Sturm in Aufnahmezentren zu begeben, nicht Folge geleistet, da sie oft damit rechneten, es handele sich um eine Falle, um sie festzunehmen und abzuschieben. Auch wurde der Zyklon vielfach unterschätzt, da es bei früheren Stürmen häufig zunächst Alarm und dann Entwarnung gegeben hatte. Bei Windgeschwindigkeiten von 220 Kilometern pro Stunde schossen Wellblechstücke jedoch wie Hieb- und Stichwaffen durch die Luft.

Hintergrund: Überseegebiete

Unter dem Sammelbegriff »Überseeterritorien« werden im französischen Staatsverband derzeit insgesamt zwölf Gebiete zusammengefasst. Diese reichen von den unbewohnten Crozet- und Kergueleninseln in der Nähe der Antarktis über Französisch-Polynesien, Wallis und Futuna sowie Neukaledonien im Pazifik, La Réunion und Mayotte im Indischen Ozean bis zu Saint-­Pierre-et-Miquelon vor den Küsten Kanadas. Bei den meisten dieser Gebiete handelt es sich um Inseln oder Inselgruppen, doch Französisch-Guyana zählt zur Landmasse Südamerikas und Adélieland zu jener der Antarktis.

Die koloniale und eurozentristische Prägung des Begriffs »Übersee« (Outre-mer) ist offenkundig, gründet der Begriff doch auf der Vorstellung, dass diese Inseln und Landstriche »jenseits des Meeres« lägen. So stellt sich ihre geographische Lage dar, betrachtet man sie vom europäischen Frankreich aus. Von den Gebieten selbst aus gesehen, liegen sie jedoch nicht »auf der anderen Seite des Meeres«, sondern am jeweils eigenen Ufer.

In mehreren der betreffenden Territorien wird die Zugehörigkeit zu Frankreich jedoch von Teilen der Bevölkerung angefochten und abgelehnt. Die sozioökonomischen Auswirkungen dieser Situation finden noch mehr Widerspruch – das gilt vor allem für die Konsequenzen hinsichtlich der Versorgung mit Verbrauchsgütern über einen »Konsumkorridor« aus dem Tausende Kilometer entfernten europäischen Frankreich, anstatt Handel in und mit Ländern ihrer geographischen Umgebung zu betreiben.

Zuletzt fanden im September, Oktober und November Massenproteste von Demonstrationen bis zu gewaltförmigen Riots auf der ebenfalls zu Frankreich gehörenden Karibikinsel La Martinique statt. Dabei ging es um die gigantisch erhöhten Konsumentenpreise – im Durchschnitt liegen sie um 40 Prozent höher als im französischen »Mutterland«, einige Nahrungsmittel sind für die breite Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich teuer. Das Preisniveau resultiert nicht allein aus der ökonomischen Anbindung an die Metropole in Europa, sondern auch aus der Monopolstruktur von Handel und Vertrieb in der Karibikregion.

Im Mai dieses Jahres fanden Massenproteste auf dem im Westpazifik liegenden Archipel Neukaledonien statt. Dabei ging es um ein Wahlgesetz, das es in jüngerer Zeit aus Europa neu eingetroffene Franzosen erlaubt hätte, bei einem von den Unabhängigkeitsbefürwortern geforderten künftigen Referendum über die Zukunft der Insel mit abzustimmen. Die dafür erforderliche Verfassungsänderung hätte laut Plänen der damaligen Regierung vor dem 1. Juli stattfinden müssen, scheiterte jedoch daran, dass Ende Juni und Anfang Juli vorgezogene Neuwahlen in Frankreich stattfanden und das bisherige Parlament vorzeitig aufgelöst wurde. (bs)

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