Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 21.12.2024, Seite 15 / Geschichte
Schulwesen

Rechtssicher prügeln

Vor 70 Jahren schränkte Bayern das Züchtigungsrecht für Lehrer ein – aber nur für kurze Zeit
Von Ronald Weber
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Körperstrafen: Lange Zeit das bevorzugte Mittel zur Wahrung der Autorität des Lehrkörpers (Zeichnung von 1839)

Nicht nur im bayerischen Kultusministerium, auch in anderen Landesministerien der Bundesrepublik sowie bei den Lehrerverbänden schrillten die Alarmglocken. Am 17. Juli 1954 hatte der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshof (BGH) ein Urteil gesprochen, das die FAZ auf die Botschaft herunterbrach: »Schlagen von Kindern ist Körperverletzung« (2.11.1954).

Der Anlass war in gewisser Weise alltäglich: Ein niedersächsischer Lehrer hatte Schülerinnen und Schüler im Alter von sieben bis 13 Jahren teils mit dem Stock, teils mit den Händen geschlagen sowie bedroht. Gegen die Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen Körperverletzung und Nötigung hatte dieser Revision eingelegt. Der BGH bestätigte das Urteil, was zu erwarten gewesen war. Schließlich hatte der Lehrer die Schüler wegen geringfügiger Anlässe geschlagen, die von deutschen Gerichten wohl schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine Überschreitung des Züchtigungsrechts beurteilt worden wären: Einen Schüler hatte er wegen Unaufmerksamkeit so sehr am Ohr gezogen, dass dieser blutete. Ein Mädchen hatte er mit dem Stock geprügelt, weil sie ein Wort nicht mit dem Lineal, sondern freihändig unterstrichen hatte.

Grundsätzliche Kritik

Aufhorchen ließ insofern nicht die Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils, sondern die Begründung. Denn der 5. Strafsenat stellte sehr deutlich fest, dass Lehrer den freiwilligen Gehorsam ihrer Schüler durch »überlegene menschliche Führung« erreichen müssten. Die Anwendung körperlicher Strafen komme einem pädagogischen Scheitern gleich. Problematisch sei auch die Vorbildwirkung eines sich mit Gewalt durchsetzenden Lehrers. Es sei daher »zweifelhaft, ob die Erziehung in der Schule überhaupt jemals die körperliche Züchtigung eines Schülers notwendig macht«. Ein generelles Verbot war damit gleichwohl nicht ausgesprochen, denn die Richter gestanden »in seltenen Ausnahmefällen eine maßvolle körperliche Züchtigung« zu, allerdings nur, wenn »die Sorge für die sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes selbst sie zwingend gebietet«.

Das Urteil, das den zunehmenden Einfluss pädagogischer und psychologischer Debatten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts deutlich macht, war ein Bruch mit der bis dahin geübten juristischen Praxis. Und das gleich in dreierlei Hinsicht: Erstens kritisierte es das den Lehrern bis dato zugesprochene, auf das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 zurückgehende Züchtigungsrecht. Zweitens wies es die allgemein gängige Begründung für Körperstrafen, nämlich die Aufrechterhaltung der »Schulzucht«, zurück und fragte nach der pädagogischen Angemessenheit der Strafe (ein Aspekt, der zuvor der Einschätzung der Lehrer überlassen worden war). Und drittens bestritt es die Begründung des vorinstanzlichen Urteils, das sich auf einen niedersächsischen Ministerialerlass von 1946 bezog, der das Schlagen von Schülern in den ersten beiden Schuljahren, bei Mädchen jeden Alters sowie bei schlechten Leistungen verbot, ansonsten aber erlaubte. Ein solcher Erlass sei strafrechtlich irrelevant, alles andere würde zu einem uneinheitlichen Strafrecht führen.

Insbesondere der letzte Aspekt ließ die Beamten im Münchner Kultusministerium aufhorchen. Wenn der niedersächsische Landeserlass, der in ähnlicher Form auch in Bayern existierte, den Lehrer »der Gefahr einer strafrechtlichen Ahndung auch in den Fällen (…), in denen er sich an die Bestimmungen hält«, aussetzte, müsse über die grundsätzliche dienstrechtliche Rücknahme des Züchtigungsrechts nachgedacht werden. Dass am 14. Dezember 1954 eine neue, SPD-geführte Koalitionsregierung ins Amt kam, an der die prügelfreundliche CSU nicht mehr beteiligt war, erleichterte den Schritt. Mitte Dezember wies der parteilose Kultusminister August Rucker – den BGH-Spruch exakt beachtend – an, von der Körperstrafe bis auf weiteres nur dann Gebrauch zu machen, »wenn es die Sorge für die sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes selbst zwingend gebietet«. Im Januar 1955 trat die neue Bestimmung in Kraft.

Damit standen die Zeichen recht deutlich auf Abschaffung des Züchtigungsrechts in der Bundesrepublik. Denn auch andere Länder nahmen das BGH-Urteil zum Anlass, ihre Bestimmungen zu überprüfen oder hatten dies bereits vorher getan. Über alle weiteren Schritte, so hieß es aus Bayern, sollte ein neu zu bildender Landesschulbeirat entscheiden, also ein aus Lehrern und Eltern zusammengesetztes Gremium. Und eben das war das Problem.

Aus Gewohnheit

Ob und wann ein Lehrer seine Schüler schlagen dürfe, wurde schon im Kaiserreich debattiert. Vor allem die Sozialdemokratie kritisierte Körperstrafen als Mittel der Schulerziehung, zumal sich diese allzu oft gegen Arbeiterkinder richteten; bürgerliche Schüler wurden seltener geprügelt. Aus strafrechtlicher Sicht stellte die Züchtigung auch Ende des 19. Jahrhunderts schon eine Körperverletzung dar. Die Gerichte machten hier aber eine Ausnahme, da ein sogenannter Rechtfertigungsgrund für das Züchtigungsrecht vorliege, der sich zum einen aus dem Recht und der Pflicht zur Erziehung selbst, zum anderen aus dem Gewohnheitsrecht ergebe. Schließlich sei, wie ein ehemaliger Landgerichtsrat 1888 ausführte, das Recht auf Züchtigung »uralt, wohl so alt, wie das Menschengeschlecht überhaupt, und hat daher von jeher ohne Gesetzgebung bestanden«.

Auch in der Weimarer Republik wurde weiter geprügelt. Einzig Sachsen erließ 1922 ein gesetzliches Verbot. Preußen schränkte das Züchtigungsrecht lediglich durch Erlasse ein. Zu einer Abschaffung konnte sich die SPD nicht durchringen, zumal die Lehrerverbände vielfach protestierten – mit Verweis auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Disziplin nach dem Weltkrieg und die viel zu großen Klassen, die ein hartes Durchgreifen erforderten. Und auch viele Eltern bestanden auf der Prügelstrafe. So argumentierte etwa ein Lehrer in Sachsen vor Gericht, er sei von den Eltern eines Schülers aufgefordert worden, diesen trotz Verbots zu schlagen. Die Gerichte, ohnehin vielfach noch mit Richtern aus der Kaiserzeit besetzt, folgten der Argumentation einer Übertragung des elterlichen Züchtigungsrechts auf den Lehrer bereitwillig. So gab es zwar, wie die historische Forschung bestätigt, gegen Ende der Weimarer Republik weniger Prügel als zuvor, der Faschismus aber brach dann diese Entwicklung ab. Und auch wenn die Nazis das Züchtigungsrecht nicht im vollen Umfang wiederherstellten, durften die Lehrer in den Schulen ab 1933 wieder mehr oder weniger ungestört ihrer »schweren Pflicht« nachkommen – vor allem, wenn es gegen Schüler aus politisch unzuverlässigen Familien ging.

Zickzackkurs

Nach der Befreiung vom Faschismus setzte auch der reformpädagogische Diskurs wieder ein, wobei die Deformierung der Subjekte durch Prügel als eine der »Wurzeln der Knechtsgesinnung«, die die nazistischen Massenverbrechen erst möglich gemacht habe, zeitweise ins Zentrum rückte. Die Hoffnung aber, das »Mittel der Dressur« nun endgültig loszuwerden, war trügerisch. Zwar kam es in Hessen im Mai 1946 zu einem gesetzlichen Verbot, das im Oktober 1949 noch einmal erneuert wurde. Andere Länder aber begnügten sich, wie bereits erwähnt, mit der Einschränkung des Züchtigungsrechts per Erlass.

Eine Ausnahme bildete Bayern, wo SPD-Kultusminister Franz Fendt das Prügeln im Juni 1946 per Erlass komplett verbot. Das Verbot aber währte nicht lange, denn mit dem Regierungswechsel im Dezember kam der CSU-Mann Alois Hundhammer ins Amt, der im März 1947 im Landtag freiheraus bekannte, »dass gerade auch den jungen Lausbuben ein Dienst erwiesen ist, wenn man ihnen rechtzeitig eine herunterhaut«. Statt den Fendt-Erlass zu kassieren, wählte Hundhammer aber ein »demokratisches« Mittel: Er leitete im Mai 1947 eine Elternbefragung ein, die eine Zustimmung von 61,2 Prozent für die Wiedereinführung der Körperstrafe ergab. Die Lehrer waren ohnehin mehrheitlich gegen das Verbot gewesen, galt ihnen doch das Schlagen als Ultima Ratio zur Durchsetzung ihrer Autorität. Der Vorsitzende des Bayerischen Lehrervereins Franz Xaver Hartmann bekannte: »Positive Erziehung kann nicht gedeihen in Lebensnot, Raumnot, Wohnungsnot, Nahrungsnot und Lehrernot.« Ganz ähnlich argumentierte gut zehn Jahre später auch der bayerische Landesschulbeirat, der sich im September 1956 mit 17 zu acht Stimmen gegen eine Aufhebung der ministeriellen Züchtigungseinschränkung aussprach.

Ein Jahr später gab es schließlich auch wieder Rechtssicherheit. Im Oktober 1957 widersprach der 2. Strafsenat des BGH dem Urteil von 1954 und leitete eine 180-Grad-Wende ein: Das Züchtigungsrecht, so die Richter, sei ein Gewohnheitsrecht, das lediglich durch ein Gesetz oder aber durch ein »entgegenstehendes Gewohnheitsrecht« eingeschränkt werden könne. Ein solches aber brauche eine »langandauernde Übung« und müsse erst »Rechtsüberzeugung« werden, womit der Zirkelschluss perfekt war, denn ein neues Gewohnheitsrecht in Form eines Züchtigungsverbots kann sich dieser Auffassung nach erst dann herausbilden, wenn Gerichte in diesem Sinne entschieden. Und das taten sie auch in Zukunft nicht. Während zu Beginn der 1970er Jahre endlich alle Bundesländer – mit Ausnahme Bayerns, wo es bis 1983 dauerte – per Erlass explizite Verbote erließen, sprachen Richter noch bis weit in die 1970er Jahre schlagende Lehrer mit dem Verweis auf das Gewohnheitsrecht von der Anklage der Körperverletzung frei.

Postskriptum. Die DDR übrigens hat das Prügeln in Schulen schon 1949 abgeschafft. Aktuelle Studien kommen zu dem Ergebnis, dass dieses Verbot mit dazu beitrug, dass Kinder in der DDR weniger traumatisiert wurden als im Westen.

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