Milliardenbetrug nicht vorbei
Von Sebastian EdingerDer größte Steuerraub in der Geschichte Europas ist längst nicht beendet. Zwar traten in Deutschland bereits 2012 Gesetzesänderungen in Kraft, mit denen sogenannte Cum-Ex-Geschäfte unmöglich gemacht werden sollten. Doch die frühere Chefermittlerin der federführenden Staatsanwaltschaft Köln, Anne Brorhilker, ist überzeugt, dass die kriminellen Banker- und Beraternetzwerke weiterhin tief in die Kassen der Finanzämter greifen. »Die Deals sind definitiv immer noch möglich«, sagte die heutige Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.
Die Cum-Ex-Masche hatte ihre Hochphase zwischen 2006 und 2012. In undurchschaubaren Netzwerken waren Aktien rund um den Dividendenstichtag hin und her geschoben worden, um die Eigentümerschaft zu verschleiern und sich einmalig abgeführte Kapitalertragssteuer mehrfach vom Staat rückerstatten zu lassen. Der Schaden wird auf weltweit 150 Milliarden Euro beziffert, wobei der deutsche Fiskus mit Einbußen von 36 Milliarden Euro der Hauptleittragende ist, wie der Steuerexperte Christoph Spengel 2021 schätzte. Dabei steht die juristische Aufarbeitung noch weit am Anfang: Hunderte Beschuldigte warten derzeit auf ihren Prozess – und jede Verhandlung zieht weitere Verdachtsmomente und Ermittlungen nach sich.
Nachdem die Tricks in den späten Nullerjahren bekannt geworden waren, hatte die damalige Bundesregierung das Steuerrecht geändert. 2012 wurde eine Regel eingeführt, laut der die Erstattung der Kapitalertragssteuer nur dann möglich ist, wenn tatsächlich entsprechend Steuern abgezogen wurden. Zudem wurden einige technische Anpassungen vorgenommen, um das Betrugsmodell zu behindern. Folgt man Brorhilker, wurden die kriminellen Machenschaften durch diese Maßnahmen jedoch keineswegs abgestellt. Hauptgrund: Die international agierenden Banken können nationale Regeln und Kontrollstrukturen leicht umgehen.
»Die Täter müssen die Deals vielleicht etwas anders abwickeln«, so Brorhilker. Möglich seien sie aber noch. Und das Risiko, beim Cum-Ex-Betrug erwischt zu werden, sei nach wie vor sehr gering. Brorhilker: »Die Banken wissen: ›Keiner kann es uns beweisen.‹ Wir haben ein Kontrolldefizit, egal, welche Regeln wir aufstellen. Und die kriminelle Energie der Branche versiegt nicht.« Ein großes Problem sei etwa, dass Banken und Steuerberater große Datenmengen in nahezu rechtsfreie Räume in anderen europäischen Staaten verschieben können, während die Kontrollen an der deutschen Grenze enden. Die frühere Oberstaatsanwältin fordert daher eine Pflicht für Banken, ihre Daten im Inland zu speichern.
Brorhilker war von 2012 bis 2023 bei der Staatsanwaltschaft Köln für die Aufarbeitung des Cum-Ex-Betrugs zuständig und hatte zahlreiche große Fälle auf ihrem Schreibtisch. So etwa jenen der Hamburger Privatbank M. M. Warburg & CO, in den auch der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verstrickt ist. Irgendwann wurde die versierte Ermittlerin für zu viele mächtige Vertreter von Finanzindustrie und Politik zu gefährlich. Im September 2023 entmachtete sie der nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen). Ihre Behörde wurde aufgespalten, die Zahl der Ermittler deutlich reduziert. Im April 2024 verkündete Brorhilker ihren Rückzug aus der Justiz.
Die bisherige Behördenstruktur ist nach Einschätzung der Juristin vollkommen unzureichend. Gegenüber dpa forderte sie nun eine zentrale Behörde gegen schwere Wirtschaftskriminalität nach österreichischem Vorbild. In der BRD hake es in der Zusammenarbeit zwischen Behörden wie der Finanzaufsicht Bafin, dem Bundeszentralamt für Steuern, den Betriebsprüfern des Bundesfinanzministeriums (BMF) und den ebenfalls zuständigen Landesfinanzbehörden. Es mangle zudem an spezialisierten und erfahrenen Staatsanwälten. Zu häufig wechselten Beamte die Abteilung, um verschiedene Gebiete kennenzulernen. »Im Ergebnis haben die Ermittler nicht genug Zeit, sich in die komplexe Cum-Ex-Materie einzuarbeiten.«
Wie schleppend die Aufklärung läuft, zeigen auch Zahlen des BMF. Laut diesen hat sich der deutsche Fiskus bis Ende 2023 erst 3,1 Milliarden durch Cum-Ex-Geschäfte entwendete Euro rechtssicher zurückgeholt. Weitere 380 Fälle mit einem Gesamtvolumen von 3,8 Milliarden Euro sind in Bearbeitung. Von der künftigen Bundesregierung erhofft sich Brorhilker mehr Engagement: »Ich erwarte, dass sie den Kampf gegen Wirtschaftskriminalität zur Chefsache macht. Sonst werden viele Fälle verjähren und Milliarden an Steuergeld sind unwiderruflich weg.«
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