Taten statt Wehklagen
Von Helga BaumgartenDeir Yassin, ein kleines Dorf westlich von Jerusalem mit 400 bis 600 Einwohnern, ist bis heute das Symbol für alle Massaker, die in der Nakba 1947/48 durch zionistische Verbände verübt wurden, sei es die Haganah, aus der nach dem 15. Mai 1948 die offizielle israelische Armee entstand, oder die revisionistischen Gruppen unter der Führung von Menahem Begin und Jizchak Schamir, also Irgun (IZL, Nationale Militärorganisation) und Stern Gang (Lehi oder LHI, Freiheitskämpfer Israels). Was passierte dort am 9. April 1948, also mehr als einen Monat vor der Staatsproklamation?
In einem gemeinsam geführten Angriff von Irgun und der Stern Gang mit Unterstützung durch Haganah-Verbände wurde das Dorf überrannt, zerstört, die Bewohner wurden getötet und vertrieben. Der israelische Historiker Benny Morris geht von 250 Toten, vor allem Zivilisten, aus. Die Menschen wurden regelrecht abgeschlachtet, viele verstümmelt. Frauen wurden vergewaltigt und danach getötet. Deir Yassin hörte auf zu existieren. An seiner Stelle findet man dort heute den israelischen Stadtteil Givat Shaul. Die Überlebenden, viele davon Kinder, die innerhalb von Stunden ihre gesamte Familie verloren hatten, wurden in den Osten der Stadt und in die Altstadt vertrieben.
Hind Al-Husseini, Tochter von Taher Al-Husseini, also ein Spross der sicher wichtigsten Jerusalemer Familie von Notabeln, sah damals auf dem Weg in das Büro ihrer Frauenorganisation eine Gruppe von mehr als 50 kleinen Mädchen, die völlig allein waren und, offensichtlich völlig verstört, nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Hind Al-Husseini, damals gerade 32 Jahre alt, reagierte nicht mit Wehklagen. Sie handelte. Die Waisenmädchen aus Deir Yassin wurden von ihr aufgenommen und erhielten ein neues Zuhause.
Zuerst brachte sie die Mädchen notdürftig in den Büros ihrer Organisation unter. Da die Altstadt aber unter Beschuss gekommen war, nahm sie das Angebot katholischer Nonnen an, die Kinder ins Notre-Dame-Kloster gleich außerhalb der Stadtmauern zu bringen. In der Zwischenzeit arbeitete sie daran, das Haus ihres Großvaters, in dem sie geboren war, für die Aufnahme der Mädchen umzugestalten. Aus diesem Familienhaus wurde zuerst ein Kindergarten für Waisenmädchen, dann eine Schule, in der sowohl Waisenkinder lebten und lernten als auch Mädchen aus Jerusalem und der Umgebung. Der Name der Schule ist »Dar Al-Tifl Al-Arabi« (Haus des arabischen Kindes). Heute lernen dort, angefangen vom Kindergarten bis hin zum Abitur, etwa 800 Mädchen.
Interessanterweise gibt es eine direkte Verbindung der Schule nach Deutschland. 1960 kam eine junge deutsche Studentin aus Damaskus, wo sie kurze Zeit studiert hatte, nach Jerusalem und lernte Hind Al-Husseini kennen. Sie blieb gleich in der Stadt und engagierte sich für die Schule. Ihrem Einfluss ist es zu verdanken, dass das Dar Al-Tifl als einzige palästinensische Schule in Jerusalem Deutsch als Fremdsprache anbietet. Nur die deutsch finanzierte Schmidt-Schule, von katholischen Nonnen betrieben, bietet ebenfalls Deutsch als Fremdsprache an, inzwischen kann man dort sogar das Deutsche Internationale Abitur machen.
Nach einfachen Anfängen hat sich Dar Al-Tifl zu einem großen Komplex entwickelt. Neben der Schule gibt es ein College, 1982 von Hind Al-Husseini etabliert, das seit 1995 von der Kuds-Universität betrieben wird. Auf Initiative von Sitt Hind, wie sie auch genannt wird, entstand 1960 ein Museum für palästinensische Alltagskultur mit einer eindrucksvollen Sammlung von alten Trachten über Haushaltsgeräte bis zu historischen Möbeln, aber auch vielen Handschriften und Dokumenten. 1994 starb Sitt Hind, gerade 78 Jahre alt, an Krebs. Wie sieben Jahre später ihr jüngerer Cousin Faisal Al-Husseini wurde sie mit vielen Ehren, vor allem seitens der Schülerinnen von Dar Al-Tifl, in Jerusalem beerdigt.
Die von Israel verübten Massaker gehen weiter: Seit Oktober 2023 tagtäglich in Gaza. Die Kinder des Küstenstreifens brauchen zahllose Hind Al-Husseinis, um gerettet zu werden.
Dies ist der 19. »Brief aus Jerusalem« von Helga Baumgarten, emeritierter Professorin für Politik der Universität Birzeit. Der 18. Brief »Krieg gegen die UNO« erschien am 21. Dezember
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