Helle Gegenwart
Von Erich HacklDie Zeichen stehen auf Weltuntergang, um so verlockender ist es, sich das neue Jahr so vorzustellen, wie es Max Winter getan hat, in seinem einzigen Roman, der 1928 in der E. Laubschen Verlagsbuchhandlung in Berlin erschienen und vor fünf Jahren in der Grazer Edition Geheimes Wissen wieder veröffentlicht worden ist. »Die lebende Mumie«, um die es in dem Buch geht, heißt Richard Fröhlich und darf, was Beruf wie Berufung angeht, als Alter ego des Autors angesehen werden.
Fröhlich wird 2025 das Glück zuteil, als von einem faltigen Hautsack umschlossenes, durch künstliche Ernährung am Leben erhaltenes Gerippe aus einem hundertjährigen Koma zu erwachen. Er hat sich seinerzeit, als Journalist, einem Lufttorpedo anvertraut, um »in die Anziehungszone eines anderen Gestirns zu geraten«, ist dabei ins Meer gestürzt und von malaysischen Fischern geborgen worden. Alle ärztlichen Bemühungen, ihn aus seinem »Betäubungsschlaf« zu wecken, sind erfolglos geblieben. Aber dann, eben im heurigen Jahr, schlägt er in einem Sanatorium, das sich im Föhrenwald bei Wiener Neustadt befindet, wider Erwarten die Augen auf – und sieht sich in eine Welt versetzt, die kaum noch der anderen ähnelt, in der »die lebende Mumie« bis zu ihrem Unfall gelebt hat und wir heute noch leben: Es gibt keine Kriege, keinen Kapitalismus, keine Bettler und Arbeitslosen mehr, die Kirchen sind in Volkshallen umgewandelt und nach Helden der Aufklärung oder der Arbeiterbewegung benannt (der Petersdom in Rom nach Giordano Bruno, der Wiener Stephansdom nach Victor Adler, Kathedralen in Berlin, Prag, Paris nach Rosa Luxemburg, Jan Hus, Jean Jaurès), die Priester umgeschult und von sozialdemokratischen Predigern abgelöst worden, aus Krankenhäusern sind Gesundungsheime, aus Hotels Gästehäuser geworden. Alkohol wird seit drei Generationen nicht mehr getrunken, Tabak verschmäht, statt aus Zeitungen informieren sich die Menschen durch Radio und Radiovisiographen, also Fernsehapparate.
Vernunft und Verantwortung
Am auffälligsten freilich, auch wegen ihrer zwitschernden Geräusche, nehmen sich im Alltag des Jahres 2025 die sogenannten Luftvögel aus, Kleinflugzeuge mit Schwenkflügeln, die für größere Distanzen, aber auch längere Stadtfahrten benutzt werden, zum Starten keinen Anlauf benötigen und auf Flachdächern landen. Diese bemannten Drohnen sind in so großer Zahl unterwegs, dass ihre Piloten sich zur Vermeidung von Unfällen oder Staus an die Wegweiser der Luftbojen halten müssen. Daneben gibt es freilich immer noch Nah- und Fernzüge, nur die Eisenbahnklassen sind abgeschafft, wie übrigens auch die Krawatten, Krägen und Korsette. Denn längst ist der »Tyrannin Mode« der Garaus gemacht worden. Buben wie Mädchen tragen kurze Röckchen, Erwachsene beiderlei Geschlechts Sandalen (im Winter mit Wollsocken), Kniehosen, weite Hemden, darüber bei Bedarf eine Jacke. Die Einheitstracht ist weniger der Bequemlichkeit als der Bewegungsfreiheit und damit der körperlichen Ertüchtigung geschuldet, auf die auch in den Gesamtschulen großer Wert gelegt wird. Größerer jedoch auf Völkerverständigung und Spracherwerb, weshalb alle Jugendlichen nicht nur eine von sechs Weltsprachen (darunter Malaiisch und Chinesisch) erlernen, sondern diese als Austauschschüler auch vertiefen.
Während er mit der Milch einer italienischen Amme aufgepäppelt und von einer reizenden russischen Pflegerin umsorgt wird, nimmt Fröhlich anfangs verwirrt, dann mit Staunen und wachsender Begeisterung zur Kenntnis, dass der Sozialismus – auch wenn das Wort im ganzen Roman nur einmal fällt – längst gesiegt hat. Wie das vor sich gegangen ist, irgendwann um das Jahr 1950, wird ihm später, als er wieder zu Kräften gekommen ist, vom Schuldirektor Ensler erklärt, der dem »großen Rat des Kinderamtes« angehört: »Eine Welttagung der Staatsregierungen aller Kontinente machte die Gewinnung der Sonnenenergie zum Weltstaatsmonopol. Damit war praktisch auch die Enteignung aller privaten Betriebe ausgesprochen.« Denn wer die billige Sonnenkraft nutzen wollte, musste sich bereit erklären, die Produktion seines Unternehmens mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen. »Er musste sich einordnen in das Ganze zu seinem und der anderen Besten. Dabei sind die enteigneten Besitzer keineswegs schlecht gefahren. Alles, was sie sich bisher leisten konnten, war ihnen für alle Zukunft verbürgt. Der Unterschied gegen früher bestand nur darin, dass sie sich durch diese reicheren Genussmöglichkeiten nicht mehr von den nichtbesitzenden Bürgern abhoben. Auch die anderen konnten nun die Errungenschaften menschlicher Kultur genießen.«
Überhaupt sind dank der »Internationale aller Arbeiterparteien«, die ihren Einfluss auf eine nicht näher beschriebene, jedenfalls gewaltfreie Art geltend machen konnte, anstelle der Ichsucht Vernunft und Verantwortung für das Gemeinwohl getreten. Dieser kollektive Wandel hat während Fröhlichs hundertjährigem Schlaf alle Lebensbereiche durchdrungen, das wird ihm klar, als er mit Ensler in dessen Luftvogel zu einer Rundreise durch die Vereinigten Staaten von Europa aufbricht. Dabei geht es nicht nur darum, ihn mit den Neuerungen in Wirtschaft, Politik und Kultur vertraut zu machen; Fröhlich ist für die wissbegierigen Jugendlichen, denen er auf der Reise begegnet, der willkommene Zeitzeuge einer barbarischen, unverständlich erscheinenden Vergangenheit.
Durch diese doppelte Funktion seines Protagonisten als Fragender und Befragter macht es einem der Autor möglich, sowohl einen »Blick in das Jahr 2025« (wie der Untertitel des Romans lautet) als auch einen in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu werfen und sich die Hoffnungen und Illusionen zu vergegenwärtigen, die der Journalist und Politiker Max Winter damals gehegt hat, ebenso die Kämpfe, die er und mit ihm die österreichische Sozialdemokratie in der Ersten Republik geführt haben, um die Erziehungsreformen und die Wohnbaupolitik des »Roten Wien« gegen den Widerstand des bürgerlichen Lagers und der Katholischen Kirche durchzusetzen und abzusichern.
Winters besonderes Engagement galt den Kinderfreunden, deren Obmann er war und für die er zahlreiche Initiativen setzte, von der Ächtung der Prügelstrafe über die Einführung des »Kinderhellers«, einer freiwilligen Selbstbesteuerung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, um armen Kindern einen Ferienaufenthalt zu ermöglichen, bis zur Gründung der reformpädagogisch ausgerichteten Erzieherschule im Schloss Schönbrunn. Von daher ist es erklärlich, dass sein Romanheld, dem er eine Vergangenheit als Kinderfreunde-Gruppenleiter andichtet, sich speziell für die pädagogischen und kulturellen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts interessiert. Sicher hat es Winter Vergnügen bereitet, Kirche und Religion als längst überwundene Relikte der Vergangenheit hinzustellen. Schließlich galten dem österreichischen Klerus die Kinderfreunde als das personifizierte Böse. Im Roman erinnert Fröhlich an jenen Hirtenbrief der Bischöfe zu Weihnachten 1925, in dem die Kinderfreunde-Bewegung als »Verderben der Jugend« bezeichnet wurde und es mit Verweis auf das Matthäus-Evangelium hieß: »Wer eines der Kleinen um seinen Glauben bringt und sein ewiges Heil zerstört, der verdient, dass man einen Mühlstein an seinen Hals hinge und ihn in die Tiefe des Meeres versenkte.« In Wirklichkeit, außerhalb der Romanfiktion, hatte sich Winter die Attacke zunutze gemacht, indem er eine Spendenaktion begründete, durch die mit jedem »Mühlstein« (einem bestimmten Geldbetrag) die Grundausstattung einer Kinderbücherei finanziert werden konnte.
Wie man an diesem Beispiel sieht, sind hinter Winters Utopie deren Voraussetzungen zu erkennen – das, was ihn vor hundert und mehr Jahren angetrieben hatte: Seine Erfahrungen mit Not, Elend, Unwissen, sein Mitleid, seine Suche nach Abhilfe, sein ideologischer Horizont, der in den flammenden Farben der »Arbeiter von Wien« leuchtete und manchmal auch mit deren Brettern vernagelt war. Das hat seinerzeit schon Winters Parteigenosse Max Ermers erkannt, der »Die lebende Mumie« für die linksliberale Zeitung Der Tag rezensierte. Der Kunsthistoriker Ermers war wie Winter von 1919 bis 1923 einer der drei Wiener Vizebürgermeister, leitete außerdem das städtische Siedlungsamt, ehe er als Proponent des großflächigen Siedlungsbaus in Opposition zur offiziellen Wohnbauplanung geriet, die nunmehr den verdichteten Hochbau favorisierte. Winters städtebauliche Vision, so wie sie sich im Roman widerspiegelt, stimmte nicht in allen, aber doch in einigen Details mit Ermers’ Vorstellungen überein: Die Gemeindebauten haben maximal drei Stockwerke, in jedem Stock wohnen zwei Familien, je zwanzig Häuser bilden einen Wohnblock, in dem auf ca. 600 Bewohner ein Arzt, ein Kindergarten, ein Kinderspielplatz, ein Hort, eine Bücherei, ein Klubheim und, zusätzlich zu den Kochnischen in jeder Wohnung, eine große Gemeinschaftsküche mit Speisesaal, dazu Säle zum Lesen, Turnen und Musizieren sowie einer »mit kinematographischer und radiographischer Einrichtung« kommen.
Welt des erfüllten Parteiprogramms
Ungeachtet der grundsätzlichen politischen Übereinstimmung mit dem Autor war Ermers, der sich ab 1934 für die von der christlichen und antinazistischen Publizistin Irene Harand initiierten »Weltbewegung gegen Rassenhass und Menschennot« betätigen sollte, von Winters utopischem Roman nicht gerade begeistert. Allerdings ließ er seine Kritik nur zwischen den Zeilen anklingen, durch die ironisch tönende Beteuerung, wie legitim, ja unerlässlich solche literarischen Zukunftsträume seien, auch wenn sie uns, wie im vorliegenden Fall, »in die Welt des erfüllten Parteiprogramms« versetzten.
Ermers’ Unbehagen an dieser Welt hat auch der Historiker Béla Rásky erkannt, der in einem ebenso informativen wie scharfsinnigen Aufsatz, »Max rezensiert Max«, vor achtzehn Jahren beide Texte – Winters Roman und Ermers’ Besprechung – analysierte und dabei die Schwachstellen der »Lebenden Mumie« benannte: das Hinüberschwindeln über die Frage, wie der Kapitalismus überwunden werden konnte, die zeittypischen Vorschläge zur Verbesserung des biologischen Erbgutes sowie den Glauben an die Segnungen der Globalisierung. »Natürlich: Die Visionen sind heute andere. Bei Mango, Papaya und Avocado frisch aus den Tropen denkt man unwillkürlich an den ökologischen Preis, beim Schüleraustausch an die Profite der Vermittler und trotzdem keine Völkerverständigung, bei der Art, wie dieser Schüleraustausch bei Winter vonstatten geht, zudem an die Festschreibungen von Zentrum und Peripherie, bei der Frage der Fortpflanzung bzw. Verhinderung der Fortpflanzung von behinderten Menschen unwillkürlich an Eugenik und Menschenzucht.«
In der Tat wäre es einfach, die sozialistische Idylle, in der Richard Fröhlich aus seinem Koma erwacht, samt ihren kolportagehaften Zügen, ihrer Technikgläubigkeit und ihren obskuren eugenischen Ideen als belanglos abzutun. Aber abgesehen von ihrem Unterhaltungswert ist »Die lebende Mumie« deshalb relevant, weil sie als belletristische Ausformung des Austromarxismus gelesen werden kann. Denn die gesellschaftlichen Gegebenheiten des Romans korrespondieren mit den von Max Adler und Otto Bauer vertretenen Konzepten. Der Historiker Hans Hautmann hat 2007 in einem Vortrag über den theoretischen Anspruch und die politische Praxis des Austromarxismus, auf Adler gemünzt, die »Vereinseitigung der sozialistischen Revolution auf eine geistig-sittliche kulturelle Umwälzung« kritisiert, »der dann sozusagen reibungs- und widerstandslos die materielle Macht in den Schoß fällt«. Dieser von Hautmann angesprochene Glaube, dass die kulturelle Hegemonie quasi automatisch den Sieg des Sozialismus zur Folge haben werde, liegt auch der »Lebenden Mumie« zugrunde.
Das Gleiche gilt für den von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) bis 1933 als Ziel verfochtenen friedlichen Anschluss an die deutsche Republik, der im Roman auf die Mitte des 20. Jahrhunderts datiert und als erster Schritt auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa gewürdigt wird. Und wer bei der Lektüre des Romans jeden Hinweis auf Lenin und die Oktoberrevolution vermisst, findet die Erklärung hierfür in Otto Bauers Idee vom »Integralen Sozialismus«. Damit war die Absicht gemeint, als Partei einen dritten Weg zwischen Reform und Revolution zu beschreiten und Sowjetkommunismus und Sozialdemokratie wieder im Rahmen einer Internationale zu vereinen. In der Praxis simulierte die österreichische Sozialdemokratie diese Wiedervereinigung, indem sie in der unbeirrten Perspektive auf die Machtergreifung der Arbeiterklasse die eine, in den auf kommunaler Ebene erkämpften sozialen Verbesserungen die andere Strömung verkörperte. Winter sah deshalb keine Notwendigkeit, im Roman die Spaltung der Arbeiterbewegung auch nur zu erwähnen.
Antizipatorischer Sozialismus
Schließlich trifft auch der austromarxistische Terminus des »antizipatorischen Sozialismus« auf die Romanhandlung zu. Die Neuen Menschen, denen Richard Fröhlich begegnet, sind das Ergebnis einer beispiellosen Zivilisierung der Massen, die offensichtlich in der Bildungs-, Fürsorge- und Gesundheitspolitik des »Roten Wien« wurzelt. Deren Kehrseite war die Strategie der defensiven Gewalt, die im »Linzer Programm« der SDAP von 1926 formuliert wurde: Nur für den Fall, dass sich reaktionäre Kräfte einem auf demokratischem Weg errungenen Sieg des Sozialismus mit Gewalt entgegenstellten, müsste die Sozialdemokratie deren Widerstand im Bürgerkrieg und kurzfristig mit den Mitteln der Diktatur brechen. Leider sollten die führenden Funktionäre in den entscheidenden Momenten ihr Programm preisgeben und die Partei durch Zögern ins politische Abseits stürzen: bei der Revolte infolge des politisch motivierten Fehlurteils eines Geschworenengerichts im Juli 1927; bei der Zerstörung des Parlamentarismus durch Kanzler Engelbert Dollfuß im März 1933; bei der halbherzigen und zu spät erfolgten Unterstützung des Arbeiteraufstandes im Februar 1934. Aber das konnte oder wollte Winter damals nicht wissen. Wer zu seinem Buch greift, sollte auch dessen hellsichtiges, mitreißendes und anschauliches Gegenstück lesen, Jura Soyfers Romanfragment »So starb eine Partei«, das einen Höhepunkt politisch engagierter Literatur darstellt.
Aber kehren wir zu Richard Fröhlich und seinem Reiseleiter zurück. Ensler fliegt mit ihm über mehrere Zwischenstationen nach Barcelona. Der katalanischen Hauptstadt und ihrer Umgebung, bis hinauf in die Pyrenäen, sind gleich vier Kapitel gewidmet, was weniger damit zu tun hat, dass Winter die Gegend gut bekannt war – er hatte die meisten europäischen Staaten, außerdem Brasilien, Uruguay und Argentinien bereist –, als mit seiner Wertschätzung des anarchistischen Pädagogen Francisco Ferrer y Guardia. Der Begründer der laizistischen, koedukativen und nach rationalen Prinzipien geführten Escuela Moderna wurde im Oktober 1909, mit vierzig Jahren, in der Festung Montjuïc hingerichtet, nachdem er für schuldig befunden worden war, die blutig niedergeschlagene Revolte der »Semana Trágica« (vom 26. Juli bis 2. August 1909) angezettelt zu haben, die sich an den Zwangsrekrutierungen für Spaniens Kolonialkrieg im Norden Marokkos entzündet hatte. In den Gesprächen, die Ensler und Fröhlich über das einstige »Land der Inquisition« führen, das zum Obstgarten der Vereinigten Staaten von Europa geworden sei, nimmt Ferrer eine zentrale Rolle ein, als »letztes sichtbares Opfer dieses finsteren Geistes des ausgehenden Mittelalters« und als Namensgeber für die zur Kulturhalle umgewandelte Basilika der Sagrada Família, die – im Roman – längst fertiggestellt worden ist, während die Stierkampfarenen dem Verfall preisgegeben sind.
Es war nicht unbedingt zu erwarten, dass der spanische Anarchismus in einem austromarxistisch grundierten und deshalb von Staatsgläubigkeit erfüllten Zukunftsroman derart positiv bewertet wird, aber tatsächlich liest sich der Abschnitt über Fröhlichs Besuch in einem Bergdorf, als hätte ihn ein anarchistischer Agitator und Propagandist geschrieben. Die Ahnen der jetzigen Einwohner – Kleinbauern und Landarbeiter – haben sich in Winters Roman vor fünfzig oder mehr Jahren zu einer Kooperative, eigentlich Kolchose zusammengeschlossen. Ihre Enkel- oder Urenkelkinder wechseln sich im Sechsstundentag (fünf Stunden für Frauen, »die einer Hauswirtschaft vorstehen«) in der Arbeit ab, auf der Weide, im Wald, auf den Feldern und in der Großküche. Einen Monat im Jahr müssen sie in der Stadt verbringen, so wie umgekehrt die Städter für vier Wochen aufs Land ziehen, damit den einen die urbane Kultur nicht fremd wird, die andern sich durch Feld- und Stallarbeit kräftigen.
Ein Tagesausflug nach Montserrat, 46 Kilometer nordwestlich von Barcelona, führt die zwei Reisenden in die Vergangenheit: In der Klosterkirche des ehemaligen – das heißt: aktuellen – Wallfahrtsortes finden sie ein ethnographisches Spezialmuseum vor, in dem »alle Behelfe des Götzen- und Götterdienstes in allen damals bekannten Religionen« ausgestellt sind, von den Werkzeugen indianischer Medizinmänner über den Rosenkranz, »durch den Gott in unzähligen Gebeten belästigt werden sollte«, bis zu tibetanischen Gebetsmühlen. Jeder Gegenstand ist genau beschriftet, denn außer Fröhlich gibt es niemanden mehr auf Erden, der seinen Gebrauch selbst erlebt hat.
Schnell werden im Flugzeug noch die ehemaligen Hüttenwerke an der Saar angesteuert, riesige Industrieanlagen mit üppig begrünten Dachgärten, in denen im Sechs-Stunden-Schichtbetrieb Männer wie Frauen dank Sonnenenergie Stahl ohne Umweltschäden produzieren, dann mündet das Geschehen in ein doppeltes Happyend: Richard Fröhlich wird vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa, dem russischen Arzt Doktor Turgenjew (selbstredend ein Nachfahre des Schriftstellers), in der Victor-Adler-Halle zum Bürger Europas ernannt, in der Hoffnung, »dass er das große Glück, das ihm widerfahren ist, zwei Welten zu schauen, die finstere Vergangenheit und unsere hellere Gegenwart, dadurch mit uns teilen wird, dass er sich als Lehrer der schlimmsten sittlichen Verfallsperiode der Menschheit, die er als denkender Mensch miterlebt hat, einordnen wird in unsere Gemeinschaft«. Und noch am selben Tag, kaum dass ihm das Scheckheft ausgehändigt worden ist, mit dem alle Bürger und Bürgerinnen des Kontinents nach Bedarf und Bedürfnis Waren oder Dienstleistungen kaufen können, klettert Fröhlich in ein Lufttaxi. Irgendwo in den Alpen wird er mit Alexandra, seiner russischen Braut, die ihn gesund gepflegt hat, vorgezogene Flitterwochen verbringen.
Meister der Sozialreportage
Max Winter, dem wir das schwülstige Ende des Romans nachsehen wollen, war nicht irgendwer. 1870 in Tárnok bei Budapest als zweites von drei Kindern einer Modistin und eines Bahnbediensteten geboren und in Wien aufgewachsen, machte er eine Kaufmannslehre und veröffentlichte 1894 erste Reportagen im Neuen Wiener Journal. Im Jahr darauf wurde er Redakteur des sozialdemokratischen Parteiorgans Arbeiter-Zeitung, 1914 Chefredakteur der während des Ersten Weltkriegs erscheinenden AZ am Abend. Sieben Jahre lang war er außerdem Herausgeber und leitender Redakteur der Frauenzeitung Die Unzufriedene, die ursprünglich nur der Wahlwerbung dienen sollte, aber so erfolgreich war, dass sie 1930, als er die Leitung des Blatts abgab, eine Auflage von 160.000 Exemplaren erreicht hatte. Winter war von 1911 bis 1918 Abgeordneter zum Reichsrat und von 1923 bis 1930, nach seiner Amtszeit als Wiener Vizebürgermeister, Mitglied des Bundesrats. Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei den Kinderfreunden war er ab 1925 Präsident der Sozialistischen Erziehungs-Internationale.
Die vielen Funktionen und Verpflichtungen hielten ihn nicht davon ab, mehr als 1.500 Sozialreportagen zu veröffentlichen, die in ihrer Unbestechlichkeit, Parteilichkeit und Originalität bis heute nicht übertroffen worden sind. Winter änderte Aussehen und Identität, um an seinen »Expeditionen« in die Randschichten der Gesellschaft nicht gehindert zu werden, gab sich den Menschen, deren soziale Realität er erkundete, aber immer zu erkennen, hatte ein feines Gehör für sprachliche Nuancen, einen scharfen Blick, die Gabe ungetrübter Erinnerung, und er stellte sich selbst nie in den Vordergrund. Er war mitfühlend, aber frei von Rührseligkeit, besaß Humor, der nie auf Kosten anderer ging, und verfügte über die Fähigkeit, für jeden Stoff die angemessene Form und Sprache zu finden – und dies in der Eile des Tagesjournalismus. Für ihn gilt, was Alfred Polgar anlässlich des Erscheinens seines Sammelbandes »Im dunkelsten Wien« (1904) geschrieben hat: »Viele haben ihn imitieren wollen. Aber keiner hat die schmucklose Geradheit, die unsentimentale Wärme, die ruhige, so wirksame Sachlichkeit seiner Schilderungen erreicht.«
Unmittelbar nach den Februarkämpfen 1934 brach Max Winter zu einer Vortragsreise in die USA auf. Nachdem ihn das austrofaschistische Regime wegen seiner öffentlichen Kritik an Kanzler Dollfuß ausgebürgert hatte, schlitterte er im Exil in die Armut – trotz aller Bemühungen, mit Drehbüchern in der Filmbranche und mit einem eigenen Feuilletondienst, der Californischen, später Cosmopolitischen Korrespondenz, sowie als Märchenerzähler für Kinder Fuß zu fassen. Am 11. Juli 1937 starb er in einem Krankenhaus von Los Angeles: an Magenkrebs oder (seiner Enkelin zufolge) an gebrochenem Herzen. Als seine Urne zwei Monate später auf dem Matzleinsdorfer Evangelischen Friedhof in Wien beigesetzt wurde, fanden sich trotz Versammlungsverbot Tausende Menschen ein – und ein großes Polizeiaufgebot.
Fast vergessen
Ungeachtet seiner immensen Bedeutung als Chronist und Kritiker der sozialen Missstände ist Max Winter heutzutage weitgehend unbekannt. Alle paar Jahre bringt jemand, der sich als Entdecker brüstet, einen Auswahlband von ihm mit immer denselben Reportagen heraus. Der Kinderfreunde-Verlag Jungbrunnen, den Winter seinerzeit mitgegründet hatte, ist nie auf die Idee gekommen, sein Gesamtwerk zu publizieren. Und die Wiener Stadt- und Landesbibliothek, die seit längerem auf den modischen Namen »Wienbibliothek« hört, hat meines Wissens nichts unternommen, um Winters Nachlass der Öffentlichkeit vorzustellen.
Immerhin, im Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus betreibt der Arbeiter-Samariter-Bund das »Haus Max Winter« für betreutes Wohnen – eine Einrichtung, über die er sich gewiss freuen würde –, und im schäbigen Stuwer-Viertel der Leopoldstadt trägt seit 1949 ein weiträumiger Platz seinen Namen. Dort gibt es eine Schule, einen Kinderspielplatz, ein Denkmal (Betonblock mit Relief des Autors), das oft beschmiert und erst nach Anzeige gereinigt wird. Das Kinderfreibad auf dem Platz wurde 2007 aufgelassen, so dass man es in den heißen Klimawandelsommern schmerzlich vermisst. Im Eckhaus schräg gegenüber gibt es eine zweite Einrichtung, die nach ihm benannt ist: das »Laufhaus Max Winter«. Es wirbt auf seiner Homepage mit den Worten: »Ich bin Max Winter, weit gereist, um die schönsten Frauen der Welt zu kriegen«, und vermietet Zimmer an »selbständige SexdienstleisterInnen«. Das bringt mich auf den Gedanken, dass Winter uns in seinem Roman im Ungewissen gelassen hat, wie es 2025, im fiktiven Heute, um die Prostitution bestellt ist. Gibt es sie noch, wie in seinen Prater-Reportagen aus dem Jahr 1903, oder ist sie wie Alkohol, Kirche und Kapitalismus in Vergessenheit geraten?
Erich Hackl ist Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt »Rudolf Schönwald: Die Welt war ein Irrenhaus. Meine Lebensgeschichte. Nacherzählt von Erich Hackl« (Wien 2022). Er schrieb an dieser Stelle am 21. März 2024 über spanisch-deutsche Lebensläufe: »In Erinnerung bleiben«
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 16.10.2024
Leben gegens Absolute
- 20.01.2024
»Die Worte sind nur der Schaum auf den Wellen«
- 30.03.2023
Mit Donaugrüßen