Exil im Nachbarland
Von Sara Meyer, BogotáSeit Jahren fliehen Millionen von Menschen aus Venezuela, das – befördert von US- und EU-Sanktionen – mit einer schweren wirtschaftlichen Krise zu kämpfen hat. Laut den Vereinten Nationen haben mehr als 7,7 Millionen Venezolaner ihre Heimat verlassen, und etwa 2,9 Millionen von ihnen haben das Nachbarland Kolumbien bis 2023 als Zufluchtsort gewählt. Damit steht Kolumbien an siebenter Stelle der Länder, die seit 2014 die meisten Geflüchteten gemessen an der Bevölkerungsgröße aufgenommen haben. Dabei sind in dem Land selbst infolge jahrelanger Konflikte fünf Millionen Menschen Binnenvertriebene. Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Konflikten, Verfolgung und Krisen fliehen mussten, ist 2023 auf mehr als 27 Millionen gestiegen.
Der Anfang ist hart
Viele Venezolaner arbeiten in informellen Sektoren, da sie nur schwer Zugang zu regulären Arbeitsplätzen finden. Oft müssen sie mit einem unsicheren Einkommen auskommen, sei es an Straßenverkaufsständen, als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, auf Baustellen mit mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen oder als schlecht bezahlte Fahrradlieferanten. Manche arbeiten in Schönheitssalons oder führen diese selbst als Inhaber, eine Großzahl an Friseuren oder Nagelstudios in der Hauptstadt wird von Einwanderern aus dem Nachbarland geführt. Ebenso sind die »Arepas venezolanas« (Maisfladen), »Arroz venezolana« (Reis) oder die Schilder »billige Anrufe nach Venezuela« aus vielen ärmeren Wohngegenden Bogotás nicht mehr wegzudenken.
Nicht alle Venezolaner fühlen sich in Kolumbien willkommen. Viele berichten von rassistischen Äußerungen oder der Angst, nicht akzeptiert zu werden. »Ich habe oft gehört, wie Kolumbianer schlecht über Venezolaner reden, wenn ich nicht als eine Venezolanerin erkannt werde«, erzählt die 25jährige Genesis Rincón, die seit sechs Jahren in Bogotá lebt. Sie hat, sagt sie, das Glück, sowohl die kolumbianische als auch die venezolanische Staatsbürgerschaft zu besitzen, was ihr einige Vorteile verschafft, den Akzent habe sie sich abtrainiert, um weniger aufzufallen. Doch auch sie merkt den Unterschied: »Ich bin froh, dass ich jetzt ein gesichertes Einkommen habe, aber es ist trotzdem nicht das beste Leben hier.« Seit 2019, als die Zahl der Migranten stieg, häufen sich in sozialen Netzwerken wie Facebook Kommentare in Wohnungsanzeigen oder Jobangeboten wie »Wir vermieten nicht an Venezolaner«. Während der Pandemie wurden die Migranten teilweise für das Einschleppen des Covid-19-Virus verantwortlich gemacht. In einigen Dörfern im Osten Kolumbiens an der Grenze zu Venezuela haben sich lokale Gemeinschaften laut eigenen Angaben zusammengeschlossen und verkündet, den Migranten den Zugang zu Wasser, Nahrung und Arbeit zu verweigern, um zu verhindern, dass diese sich dort niederlassen.
Die Situation in Venezuela bleibt für viele der Grund, warum sie ihre Heimat gezwungenermaßen verlassen haben. »Es gab kein Essen und keine Arbeit, alles war schwer«, erinnert sich Genesis. Viele ihrer ehemaligen Schulkameraden sind ebenfalls ausgewandert. »Es war eine erzwungene Entscheidung, das Land zu verlassen«, fügt sie hinzu. Ihre Familie und Freunde seien inzwischen auf mehreren Kontinenten verstreut, zurückkommen würde sie sofort; aber das, was sie erwartet, wäre nicht dasselbe. »Ohne die Politik wäre ich noch immer mit meinen Schulfreunden zusammen und hätte studiert«, sagt sie.
Für einige, wie Isabella Gutiérrez, die mit 20 Jahren aus Maracaibo nach Kolumbien kam, ist die Rückkehr nach Venezuela der größte Traum. Sie hat einen Abschluss in Ingenieurwesen, aber arbeitet derzeit in einer Sicherheitsfirma. »Es ist schwer, sich hier zu integrieren. Meine Familie lebt in verschiedenen Ländern und ich fühle mich oft, als gehöre ich hier nicht hin«, erklärt sie. Isabella hat in Kolumbien Rassismus erfahren und auch in ihrem beruflichen Leben Schwierigkeiten durch ihre venezolanische Herkunft gehabt. »Meine Bewerbungen waren aufgrund meiner Nationalität nicht erfolgreich«, erzählt sie. Trotzdem betont sie, dass Kolumbien im Vergleich zu Venezuela vieles besser mache. Freunde habe sie nur aus ihrer Heimat, die kolumbianischen Freundschaften hätten nicht »gehalten«. Ihre Familie lebt noch in Venezuela, und die Situation dort belastet sie sehr. »Die Regierung ist eine Diktatur, die Wahlen waren ein Putsch«, ist ihre Sicht der Dinge. »Es gibt keine Meinungsfreiheit, und die Menschen werden verfolgt, wenn sie sich gegen die Regierung stellen.«
In Bucaramanga lebt Mirla Cordero, 42 Jahre alt, mit ihren beiden Töchtern und ihrem Mann in einem Armenviertel, Fotos will sie nicht veröffentlicht haben, da sie sich schäme und Angst habe, sagt sie. Die Familie ist vor sechs Jahren nach Kolumbien gekommen und hat ihr Zuhause in Venezuela hinter sich gelassen. Auch sie macht die Regierung dafür verantwortlich und sagt: »Ich glaube, dass Maduro irgendwann verschwinden wird.« Trotz der schwierigen Lebensbedingungen fühlt sie sich mittlerweile gut integriert. Auch wenn sie außerhalb der Familie kaum soziale Kontakte habe, finde sie die Kolumbianer »nett«. Ihr Mann arbeitet als Recycler auf der Straße, und sie kümmert sich um die Kinder. »Wir haben nicht viel, aber wir kommen zurecht«, erklärt sie. Mirla ist froh, dass ihre Töchter in Kolumbien zur Schule gehen können und eine Krankenversicherung haben. Doch der Alltag bleibe schwierig. »Die Lebensumstände sind nicht die besten, aber wir können uns über Wasser halten«, fügt sie hinzu.
Ingrid Ramírez ist die Lehrerin von Mirlas Kindern an einer staatlichen Schule in einem armen Viertel von Bucaramanga. Sie unterrichtet überwiegend venezolanische Kinder. »Viele Eltern müssen als Müllsammler arbeiten, und oft schicken sie ihre Kinder ohne Frühstück zur Schule, weil es nicht anders geht«, erzählt Ingrid. Anstatt des herkömmlichen Unterrichts entscheidet das Lehrpersonal sich oft für therapeutisches Tanzen oder andere Lernansätze, da die Kinder traumatisiert seien und sich nicht konzentrieren könnten. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen bemerkt sie, dass die Kinder sich sehr für die kolumbianische Kultur interessieren.
»Die Kinder sind neugierig auf alles, was mit Fußball zu tun hat. Wenn es Streit gibt, lösen wir ihn oft, indem wir uns an den berühmten lateinamerikanischen Fußballstars als Negativbeispiel orientieren«, erklärt sie mit einem Zwinkern. Das Schulteam findet für alles eine Lösung: »Drinnen regnet es mehr als draußen – wegen der Löcher im Dach. Dann spielen wir in den Pfützen in der Turnhalle.« Am Anfang sei sie überrascht gewesen, dass sie immer wieder 100er-Banknoten venezolanischer Bolívares auf dem Fußboden gefunden habe. Damit spielten die Kinder wie mit Spielgeld, da die Scheine inzwischen fast nichts mehr wert seien.
Luis Valera, 34 Jahre alt, ist ein Automechaniker aus Maracay, der vor sieben Jahren nach Kolumbien kam und sechs Tage die Woche in der Werkstatt verbringt. Er arbeitet in Bogotá in einer weniger privilegierten Gegend als Mechaniker. »Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit, aber es ist schwer, hier soziale Kontakte zu knüpfen«, erklärt er. Die meisten seiner Freunde sind Kolumbianer. »Es gibt keine Freizeit, weil ich so viel arbeite«, fügt er hinzu. Für seine Familie und Freunde, die keine Dollar haben, gibt es nur die Möglichkeit, frühzeitig anzustehen oder vorab zu bestellen, um an die nötigsten Waren zu kommen – und das zu »völlig überteuerten« Preisen.
Trotz der schwierigen Umstände hat Luis die Hoffnung, eines Tages zurückzukehren – wenn sich die politische Situation in Venezuela ändert. »Ich würde gerne zurück, aber nur, wenn Maduro nicht mehr Präsident ist«, sagt er. Über die Präsidentschaftswahlen in Venezuela behauptet er: »Es war alles Lug und Trug, totale Korruption.« Wenn man ihn fragt, ob ein neuer Präsident Hoffnung bringen würde, antwortet er etwas naiv: »Es ist immer ein Risiko. Eines steht fest: Ein neues Staatsoberhaupt wird immer Veränderungen mit sich bringen – ob diese gut oder schlecht sind, aber es wird sich etwas verändern.«
Gemeinsam zum Ziel
Unter der Präsidentschaft des linken Gustavo Petro, der seit 2022 im Amt ist, hat sich Kolumbien der venezolanischen Regierung unter Nicolás Maduro nach Jahren eher spannungsgeladener Beziehungen unter den vormaligen rechten Regierungen angenähert. Petro setzt auf eine Politik der Versöhnung und Zusammenarbeit und hat sich auch dafür ausgesprochen, dass Venezolaner weiterhin in Kolumbien bleiben können, ihnen Arbeitsrechte gewährt werden und sie sozial abgesichert sind.
Seine Entscheidung, aktiv in diplomatische Gespräche einzutreten, hat sowohl Unterstützung als auch Kritik hervorgerufen. Einige Politiker und Aktivisten werfen ihm vor, Menschenrechtsverletzungen in Venezuela zu verharmlosen, während andere die Notwendigkeit betonen, sich mit der Regierung in Caracas auseinanderzusetzen. In diese Richtung geht auch die gemeinsam mit Mexikos neuer Präsidentin Claudia Sheinbaum am 24. Dezember bekanntgegebene Entscheidung, Maduro nach seiner Amtseinführung am 10. Januar als Präsident von Venezuela anzuerkennen. Teilnehmen soll nach Worten des stellvertretenden Außenministers Jorge Rojas Rodríguez der kolumbianische Botschafter in Venezuela. Dies steht im Einklang mit Petros Vision, Kolumbien als regionalen Vermittler in Südamerika zu etablieren, um Lösungen für regionale Krisen zu finden.
Für viele venezolanische Migranten ist Kolumbien sowohl ein Land, das Zuversicht geben kann, als auch ein Ort der Entbehrung. Viele arbeiten hart, um über die Runden zu kommen, während sie von der politischen und wirtschaftlichen Lage in Venezuela belastet sind und Klagenachrichten aus der Heimat erhalten. Die Integration ist ein langsamer Prozess, aber einige berichten, dass sie sich trotz der Herausforderungen wohlfühlen. »Ich habe viele gute Menschen kennengelernt, aber es fühlt sich immer noch nicht wie zu Hause an«, sagt Isabella. Für die meisten Venezolaner in Kolumbien bleibt also eines sicher: So schnell wie möglich heimkehren zu wollen.
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