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Aus: Ausgabe vom 09.01.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Vom Wald in den Mund

Kerstin Hensels sozialrealistischer Märchenroman »Die Glückshaut« über das Ununglück im Erzgebirge
Von Ken Merten
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Buntscheckiges Romanpersonal: Kerstin Hensel

Symbol schicksalhaften Unheils und durch seine Ausgelatschtheit in der Literatur Symbol des Symbols selbst geworden, Symbol der Verdinglichung: die Gattung Corvus. Die Krähe im Roman von Kerstin Hensel ziert sogar das Cover. Es ist das Einfallsloseste am Buch »Die Glückshaut«, alles andere als ein glücklicher Mantel. Das Federvieh ist Begleiterin von Minna, die dem komischen Kunden aber den Kopf abdreht, als der ihrer Meinung nach Scheiße über ihren Sohn erzählt. Den hatte Minna, 1804 im erzgebirgischen Pfaffroda geboren, durch dermaßen geißelnde Armut gebracht, dass es an sich schon ein Wunder ist, dass das Mittelgebirge nicht längst leergefegt ist.

Das Erzgebirge war und ist, mit Ausnahme von 40 Jahren DDR, eines der Armenhäuser Deutschlands. Wer über die Zustände dort während der Weltwirtschaftskrise lesen möchte, kann das entsprechende Kapitel in Alexander Graf Stenbock-Fermors (2016 dankenswerterweise vom Verlag für Berlin-Brandenburg neu aufgelegter) Reportage »Deutschland von unten – Reise durch die proletarische Provinz« aufschlagen. Für die Situation heute hielt die Agentur für Arbeit vergangenes Jahr einen interessanten Datensatz feil: Demnach erhalten die Lohnabhängigen in den nah beieinander (und nicht weit von Pfaffroda) im mittleren Erzgebirge liegenden Gemeinden Seiffen, Deutschneudorf und Heidersdorf bundesweit die niedrigsten Gehälter.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts leben dort die zu menschlichen Mangelerscheinungen degradierten Landmassen vom Wald in den Mund: Das Sammeln von Pilzen (erzgebirgisch: Schwamme) muss dafür sorgen, dass die Unterernährung nicht fatal wird. Das täuscht etwas Resturkommunistisches vor: die Erde als Nährerin, das Gegenteil von generös zwar, aber doch so, als wäre man auf und von diesem Flecken versorgt. Einen wirklichen Garanten, eine Gesellschaft, die gegen Elend und Hunger eingerichtet ist, gibt es nicht. Und so setzt Minnas Mutter das Kind im Jahr 1813 aus, nachdem es im Quengelmodus versehentlich die Großmutter (die Om) mit einem Holzlöffel tothaute und später, wie Kinder nun manchmal sind, kontraintuitiv die Schwamme beim Suchen im Wald zerstampfte.

Minna enttäuscht: Sie kam in ihrer Fruchtblase zur Welt. »Dos is e Wunnr«, kommentierte das die Om, und: »Dos wird allweil Glick bring.« Mit Glück aber ist wenig gegen absolute Armut auszurichten, der Glaube daran täuscht nur notwendig-falsch über die Ursachen hinweg. Ein Rüstzeug der Verblendung haben die alltagsverständigen Erzgebirger allemal parat: »Barbsch laufen ist gesund!« rechtfertigt die Om die Tatsache, dass sich da, wo der dichte Urwald Miriquidi erst durch Rodung für Menschen bewohnbar gemacht worden ist, kaum wer leisten kann, außerhalb des Hartwinters mit Schuhen umherzulaufen.

Minna also wird verlassen, trifft auf sieben kleine Bergarbeiter, von denen sie den letzten Überlebenden zum Mann nimmt und mit ihm Zwarch Hansel zeugt, ein kleines Arschloch, das seine Mutter schlägt und Unmögliches, wie einen Weihnachtsbraten, verlangt, immer wieder abhaut und nach einer kurvenreichen Berufsbiographie Kommerzienrat im vergleichsweise wohlhabenden Industriestandort Chemnitz (»die Steinreiche«) wird. Minna, die vom Weltverlauf nur gestreift wird (1813 soll, so die Geschichtsbücher, Napoleons Kavallerieoffizier Joachim Murat beim Durchmarsch in Pfaffroda genächtigt haben), macht sich monomanisch auf die Suche nach dem Blag. Als erstaunlich rüstige und im Vergleich zu ihrem Umfeld Hochdeutsch redende Eremitin mit Hang zum Naschen halluzinogener Schwamme landet sie erst in der Psychiatrie und erreicht ein Jahrhundert nach ihrer Geburt Chemnitz mit seinen Straßenbahnen.

Mit dem Auszug aus dem Märchenland endet bei Hensel nicht das Märchenhafte, schließlich sind die Grimmschen Versatzstücke (die Gebrüder sind von ihr in der Danksagung aufgenommen) Rudimente, die die Zeit überdauern, mal zur Jonglage und als Spielzeug genutzt, mal Zeichen fortwährender Bitternis, die vererbter Pauperismus mit sich bringt. Minnas Stammbaum zieht sich weiter durch Nazi-Dresden, durch die DDR und darüber hinaus. Von den Drillingen Rico, Ronny und Felizitas enden gerade die beiden mit den ostdeutschen Klischeenamen nach 1990 in der prekären Selbstaufgabe. Nur Felizitas wird als Akademikerin mit Architekten als Gatten und an die Geige geketteter Tochter das, was man in der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte deklariert. Zwei von dreien sind Wendeverlierer: eine statistische Wahrscheinlichkeit.

Kerstin Hensels Roman, der als Weg zwischen utopischem Glück und grassierendem Unglück etwas vorschlägt, das das Hochdeutsche wie das Erzgebirgische nicht wirklich parat hält und vielleicht am Ehesten mit Ununglück bezeichnet werden kann, ist ein Spagat zwischen Märchen und Sozialrealismus, der nicht in Kehlmannscher, stets widerlich-anbiedernder, weil unterfordernder Irritationsökonomie versackt und magischen Realismus nachäfft. Dafür ist schon Hensels buntscheckiges und unzuverlässiges Personal zu komplex: Ständig kippen Figuren, von denen man dachte, sie seien nun aufgestellt, in einem Akt der Haltungsverweigerung in unerwartete Richtung um. Einzig, dass jeder Mann irgendwann den Frauenhass für sich entdeckt, ist gewiss. Auch wenn etwa der Antisemitismus hergeleitet wird: Dem Buch »Die Glückshaut« ließe sich nur vorwerfen, dass er eine gleichförmige Bewegung durch alle Zeiten – die der vorindustriellen Peripherie, der industriellen Massenvernichtung, der Diktatur des Proletariats, der deindustrialisierten »neuen Bundesländer« – vollzieht, als sei alles im gleichen Gang getan. Gleich dem resilienten Alltagsverstand, der Menschengemachtes als Schicksal verklärt. Oder wie die Om beim Kämmen einem Schmerzensschrei entgegnet: »Haarweh giebt’s net!«

Kerstin Hensel: Die Glückshaut. Quintus-Verlag, Berlin 2024, 176 Seiten, 22 Euro

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