Provokateur mit doppeltem Boden
Von Bernard Schmid![imago792432349(1).jpg](/img/450/204261.jpg)
Nehmen wir an, man hätte Jean-Marie Le Pen vor, sagen wir, 25 Jahren solches prophezeit – er hätte es wohl als Alptraum abgetan. Hätte man ihm gesagt, seine Lieblingstochter würde die von ihm im Oktober 1972 gegründete Partei anführen, hätte ihn aber aus derselben ausgeschlossen, und von seinem Ableben hätte sie in Afrika Kenntnis genommen … Nicht auszudenken, wie der 1928 geborene und am 7. Januar dieses Jahres verstorbene, rechte Langzeitfunktionär reagiert hätte.
An der falschen, weil nachträglichen Prophezeiung ist so viel richtig, dass Marine Le Pen, die im Januar 2011 den Vorsitz des damaligen Front National (FN) – die Partei wurde von ihr gut sieben Jahre später in Rassemblement National (RN), »Nationale Sammlung«, umbenannt – von ihrem Vater übernahm, auf afrikanischem Boden von dessen Tod erfuhr. Die 56jährige Politikerin, die seit zwei Jahren den Fraktionsvorsitz ihrer Partei in der Nationalversammlung innehat und das Amt des Parteivorsitzenden an den jungen Jordan Bardella, Jahrgang 1995, abgegeben hat, befand sich auf dem Rückflug von der zu Frankreich gehörenden Inselgruppe Mayotte im Indischen Ozean. Bei der Zwischenlandung in Kenia wurde sie durch mitreisende Journalisten informiert.
Auch dass Jean-Marie Le Pen im August 2015 aus der damals noch FN heißenden Partei ausgeschlossen wurde, ist zutreffend. Voraus gingen mehrere antisemitische Provokationen in der Öffentlichkeit, die durch seine Nachfolgerin im Parteivorsitz und deren Berater als strategisch kontraproduktiv und parteischädigend wahrgenommen wurden. Zuletzt hatte Jean-Marie Le Pen der faschistischen Wochenzeitung Rivarol ein Interview gegeben. Wer je deren Chefredakteur Jérôme Bourbon mit buchstäblich geschwollener Zornesader und hochrotem Kopf über Marine Le Pen – in seinen Augen eine Verräterin an den echten faschistischen Ideen – hat reden sehen, ahnt, warum dies ein rotes Tuch war.
Doch die Sache ist wesentlich doppelbödiger, als sie den Anschein hatte. Zum einen blieb Jean-Marie Le Pen in den Reihen seiner früheren Partei nach wie vor populär. Dass die Distanzierungen taktischer Natur waren, ansonsten aber nicht viel wogen, zeigt etwa das Verhalten von Louis Aliot. Der 55jährige war früher Lebensgefährte von Marine Le Pen und ihr Vizeparteivorsitzender, heute regiert er im Rathaus der einwohnerstärksten RN-geführten Stadt, Perpignan. Ab 2013 war er eine der treibenden Kräfte dabei, Jean-Marie Le Pen wegen von ihm als kontraproduktiv betrachteter Äußerungen von Antisemitismus zu isolieren. Auf seinen Tod reagierte er jedoch mit den Worten: »Der letzte Große der französischen Politik hat uns verlassen.« Keine Spur von Distanzierung. Marine Le Pen erklärte anlässlich von dessen Tod, sie könne es sich »nie verzeihen«, den Herrn Papa ausgeschlossen zu haben, und der Jungvorsitzende Bardella nahm am 11. Januar an der Trauerfeier in der Kirche von Jean-Marie Le Pens bretonischer Geburtsstadt La Trinité-sur-Mer teil, drückte sich jedoch tunlichst vor den Kameras zur Seite.
Auch in der Haltung zum Antisemitismus selbst ware Jean-Marie Le Pen wie andere Parteigranden oft doppelbödig. Der Parteigründer sympathisierte einerseits quasi offen mit Adolf Hitler, wie bereits im Jahr 1956 in einer Telegrammnachricht der Pariser US-Botschaft nach Washington, D. C., zu lesen stand, nachdem man Le Pen dort kurz empfangen hatte – eine Sammlung solcher Telegramme publizierte vierzig Jahre später das Wochenmagazin Le Nouvel Observateur aus Archivbeständen. Andererseits war Le Pen in der Nachkriegszeit stets auch der Auffassung, dass man außenpolitisch das Bündnis mit der israelischen Rechten suchen müsse, etwa im Kontext der Kolonialkriege in Algerien und Ägypten. In jener Zeit verglich Jean-Marie Le Pen, der ein Glasauge hatte und über diesem bis in die siebziger Jahre hinein eine Augenbinde trug, sich wegen dieses Accessoires selbst mit dem israelischen General Mosche Dayan. Beide Positionen zusammen standen in einem labilen Gleichgewicht. Die heutige Parteiführung hat, jedenfalls in der Öffentlichkeit, die zweite Komponente beibehalten, die proisraelische Position hat sich also durchgesetzt. Auch und besonders stark im Kontext der Debatte um die Massaker in Gaza.
Jean-Marie Le Pen hinterlässt eine Partei, die stärker denn je aufgestellt ist, weniger aufgrund eigener »Verdienste« denn aufgrund der Bilanz, die die übrigen Parteien hinterließen, welche sich an der Regierung abwechselten. Eine Machtteilhabe des RN scheint möglicher, ja wahrscheinlicher denn je. Doch wird Jean-Marie Le Pen sie nun nicht mehr erleben.
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