Das Gesetz im Pornoheft
Von Andreas HahnEin neuer Archivar und ein neuer Landvermesser kamen in die Stadt und machten die Ansage, dass der Laden zu lange schon zu ordentlich geführt worden war. Die Werke der Philosophie, bemerkte der Landvermesser, stehen im Dienst der Ordnung, sie legen die Plätze fest, stecken die Dinge in Schubladen, bevor sie vielleicht an die Subalternen verteilt werden, sie errichten eine Hierarchie. Davon hatten die Neuankömmlinge, gelinde gesagt, die Schnauze voll. Sie unternahmen den Versuch, den Laden nicht einfach nur auf den Kopf zu stellen und Platz nicht zuletzt für sich selber zu machen, sondern ganz neu aufzumöbeln. Sie hatten genug von Hierarchien und Repräsentationen, sie wollten endlich konkret, auf Augenhöhe, denken.
Einen Körper erfinden
Michel Foucault veröffentlichte 1970 in der Philosophiezeitschrift Critique den Aufsatz »Theatrum Philosophicum«. Er behandelte die ersten beiden Hauptwerke seines Kollegen und Freundes Gilles Deleuze: »Differenz und Wiederholung« (1968) und »Logik des Sinns« (1969). Das Erscheinen der beiden Bücher fällt nicht unzufällig auf den Zeitpunkt der Revolte im Mai 68 (vollständige deutsche Übersetzungen erschienen bezeichnenderweise sehr spät, beide erst in den frühen 90ern), obwohl auf den ersten Blick recht wenig davon die Rede zu sein scheint. Offensichtlich ist nur, dass da jemand neu anfangen will, wie gesagt, die Schnauze voll zu haben scheint, vielleicht auch zu lang zuviel Seminarluft schnuppern musste: »Der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefasst sein mag, definiert die Welt der Repräsentation. Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken«, heißt es vollmundig gleich im Vorwort des Verfassers.
Foucaults Rezension der beiden Bücher enthält ziemlich zu Beginn auch den berüchtigten hyperbolischen Satz, der zum 100. Geburtstag von Gilles Deleuze am 18. Januar wieder das vielzitierte Motto abgeben kann: »Lange glaubte ich, diese beiden Werke kreisten hoch über unseren Köpfen, in rätselhafter Resonanz mit (Pierre) Klossowskis Werken, gleichfalls ein großes, jedes Maß sprengendes Zeichen. Aber eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein.«
Pierre Klossowskis Name steht hier nicht nur, weil ihm in der »Logik des Sinns« ein Kapitel gewidmet ist. Er steht da als Pate des neuen Antikanons: Sade und Nietzsche. Nebenbei gilt unter Kleinkrämern neuerer Philosophiegeschichte die Tatsache, dass Klossowski 1969 sein Buch: »Nietzsche und der Circulus vitiosus deus« Gilles Deleuze gewidmet hat und eben nicht Foucault, wegen der daraus vielleicht resultierenden Eifersucht als ein erster Anlass des Bruchs zwischen den beiden Kollaborateuren, der sich dann aber erst in den späten 70er Jahren tatsächlich vollzog. Äußerlicher Anlass des Bruchs waren übrigens die Demonstrationen und Petitionen im Jahr 1977 gegen die Auslieferung des RAF-Strafverteidigers Klaus Croissant an die BRD. Foucault wurde seinerzeit von der Polizei eine Rippe gebrochen, aber er wollte sich, vereinfacht gesagt, mit der RAF selbst nicht so rückhaltlos solidarisch erklären wie Deleuze und vor allem dessen neuer Kollaborateur Félix Guattari. Sein Buch über Foucault veröffentlichte Deleuze dann 1986, zwei Jahre nach dessen Tod.
Nietzsche ist jedenfalls das Stichwort (Deleuze und Foucault waren auch Herausgeber der kritischen französischen Gesamtausgabe). »Nietzsche und die Philosophie« heißt 1962 auch Deleuzes erstes größeres Buch, in dem nicht zuletzt der Relationismus und der Pragmatismus seiner Philosophie offenbar werden: »Niemals werden wir den Sinn von etwas erfassen (…), sofern wir nicht erkennen, welche Kraft sich das Ding aneignet, es ausbeutet, sich seiner bemächtigt oder in ihm sich zum Ausdruck bringt.«
Für Deleuze ist der von ihm neu erfundene Nietzsche ein Fluchtweg von Marxismus und Psychoanalyse, die seine philosophische und politische Umgebung weitgehend dominiert haben. Nietzsche, zumindest der Deleuzesche Nietzsche, ist an einem anderen Ort: »Quer zu allen Codes der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht es ihm darum, etwas passieren zu lassen, das sich nicht codieren lässt und sich nicht codieren lassen wird. Es passieren lassen auf einem neuen Körper. Einen Körper erfinden, auf dem das passieren und fließen kann« (»Nietzsche«, 1965). Der »organlose Körper«, den Deleuze/Guattari später, frei nach Antonin Artaud, als eine »Grenze« des Machbaren postulieren werden, ist an dieser Stelle der Nietzsche-Lektüre bereits antizipiert.
Unbefleckte Empfängnis
Zu Beginn betrieb Deleuze noch gute altmodische Philosophiegeschichte und verfasste Aufsätze vornehmlich über (im Kontext der frühen 1960er) Außenseiterfiguren wie David Hume, Henri Bergson, Spinoza (die alle im Deleuzeschen Werk regelmäßig wieder auftauchen werden). »Meine Art, heil da herauszukommen, bestand, glaube ich, darin, die Philosophiegeschichte als eine Art Arschfickerei zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Empfängnis. Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seins, aber trotzdem monströs wäre. Dass es seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor musste tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ« (»Brief an einen strengen Kritiker«, 1973).
Seine böswillige, aber dem Ideal nach penible Lektürefähigkeit war wohl früh angelegt. Ein alter Schulkamerad aus seiner Zeit am Pariser Lycée Carnot, der Schriftsteller Michel Tournier, erinnert sich: »Er besaß die außerordentlichen Kräfte der Übersetzung und des Neuarrangements: Die ganze erschöpfte Philosophie und das ganze Curriculum gingen durch ihn hindurch und tauchten nicht mehr wiedererkennbar, aber verjüngt mit einem frischen, unverdauten, bitteren Geschmack der Neuheit wieder auf, den wir schwächeren, fauleren Geister irritierend und abstoßend fanden« (»Der Wind Paraklet«, 1977).
Wenn das Leben der Professoren, wie Deleuze sagt, schon selten interessant ist, so sollte ihre Arbeit wenigstens von einem besonderen Humor angeleitet sein. Hau drauf und weg: »Humor ist die Kunst der Konsequenzen oder Effekte: Einverstanden, einverstanden mit allem, gebt ihr mir dafür das da? Ihr werdet sehen, was rauskommt. Der Humor ist verräterisch, ist Verrat. Der Humor ist atonal, absolut unsichtbar, er lässt etwas davonflitzen. Er ist immer mittendrin, auf dem Wege. Nie steigt er oder schraubt sich in die Höhe, er bleibt auf der Oberfläche – dort bildet er seine Effekte. Der Humor ist eine Kunst der reinen Ereignisse« (»Dialoge« mit Claire Parnet, 1977, deutsch 1980).
Die Philosophie des Ereignisses (wie die Nietzsches oder die von Deleuze) ist eine Lachnummer: »Wer Nietzsche liest, ohne oft und manchmal wie verrückt zu lachen, für den ist es, als ob er Nietzsche nicht läse.« Die Lachnummer hat aber Fürsprecher, Vorbilder, ein Programm: »der masochistische Humor gegen die sadistische Ironie, der Humor Prousts gegen die Ironie Gides«. In diesem Sinne führt auch beispielsweise die »Obszönität des Gesetzes« im Kafka-Buch von Deleuze/Guattari zu der nicht von der Hand zu weisenden Feststellung: »Das Gesetz steht in einem Pornoheft.«
Ist das 20. Jahrhundert nun deleuzianisch geworden – »oberflächlich«, »undialektisch«, »pragmatisch«, »vitalistisch«? Seine politischen Prognosen für das 21. zumindest sind nicht weit von der Realität entfernt: »Man bringt uns bei, dass die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckensmeldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren. Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch. Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, dass drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur Einsperrung. Die Kontrolle wird also nicht nur mit der Auflösung der Grenzen konfrontiert sein, sondern auch mit dem Explodieren von Slums und Ghettos« (»Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, 1990).
Am 4. November 1995 begeht der unheilbar lungenkranke, an Schläuche und Sauerstofflaschen gefesselte Gilles Deleuze Suizid.
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