Links & bündig: Jetzt bestellen!
Gegründet 1947 Freitag, 21. Februar 2025, Nr. 44
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Links & bündig: Jetzt bestellen! Links & bündig: Jetzt bestellen!
Links & bündig: Jetzt bestellen!
Aus: Ausgabe vom 18.01.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Im Schatten der Sphinx

Sozialismus, Sexarbeit, republikanische Flitterwochen und die Entstehung der modernen Prostitution aus dem Geist der Konterrevolution
Von Erwin Grave
»Es hätte nie Revolutionen in Paris gegeben, wenn die zierlichen Beine der Grisetten nicht so herrlich revolutionär über die ganze gute bürgerliche Sitte des Jahrhunderts hinweggesprungen wären.« – Neue Rheinische Zeitung
»Zum Teufel mit der Politik des Schmachtriemens! Wir brauchen Sättigung und Lust, um wieder schaffen zu können. Wir schreien nach dem Exzess, weil wir zu lange hungerten.« – Pranger

Die prinzipielle Haltung des klassischen Sozialismus zur Prostitution findet sich in August Bebels 1878 erschienenem Buch »Die Frau und der Sozialismus« formuliert: »Die Ehe stellt eine Seite des Geschlechtslebens der bürgerlichen Welt dar, die Prostitution die andere. Die Ehe ist der Avers, die Prostitution der Revers der Medaille.« Die der bürgerlichen Ehe gemäße Triebstruktur schafft die Nachfrage, die kapitalistische Armut das Angebot und so versteht es sich, dass die Kritik der Prostitution nur durch die Kritik der Ehe und ihrer materiellen Voraussetzung zu haben ist; die Prostitution ist »zu einer notwendigen sozialen Institution für die bürgerliche Gesellschaft« geworden und wird nur mit ihr verschwinden. Die Bürger können dagegen ihre Grundlage nicht antasten und schwanken zwischen moralischer Verdammung und, da sie die Angelegenheit als »notwendiges Übel« akzeptieren müssen, der polizeilichen wie medizinischen Verwaltung dieses Übels: Die Prostitution ist »für die moderne Gesellschaft eine Sphinx, deren Rätsel sie nicht lösen kann.«

Einige Jahre später hielt Bebel eine Rede zu diesem Thema im Reichstag, der ab 1892 um ein Gesetz zur schärferen Regulierung der Prostitution rang, welches als Lex Heinze bekannt wurde. Die bürgerliche Politik gehe mit diesem Gesetz dazu über, »die Prostitution in polizeilich überwachten Toleranzhäusern zu kasernieren« und sie so ganz offiziell in eine »staatliche Institution« zu verwandeln. Das sei von »ihrem Standpunkt konsequent gehandelt« und indem die bürgerliche Welt damit zugibt, dass die Prostitution »so notwendig ist wie Kirche, Schule und Polizei«, würde sie einmal mehr zeigen, dass man die Sache mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln grundsätzlich angehen müsste. Quod erat demonstrandum.

Die Sache wäre damit eigentlich erledigt gewesen, aber die Verabschiedung des Gesetzes zog sich noch bis 1900 hin, und so ließ Bebel es sich nicht nehmen, mehrmals noch stundenlang zum Thema zu sprechen. Die Ausrichtung dieser Reden ist im Grunde recht bieder, bezeichnenderweise spart er mit Angriffen auf die bürgerliche Ehe, welche den sittlichen Rahmen des im Reichstag Gängigen möglicherweise gesprengt hätten. Bebel folgt dabei im wesentlichen einer Anregung aus einem Brief von Friedrich Engels: »Solange Prostitution nicht ganz abschaffbar, ist nach meiner Ansicht vollständige Befreiung der Mädel von aller Ausnahmegesetzgebung für uns erstes Gebot.« Überhaupt ist Engels gelegentlich geäußerte, reformistische Position zur Prostitution durchaus liberal; der »Freihandel in Hurenfleisch«, schreibt er mit dem ihm eigenen Zynismus an Friedrich Sorge, sei »eine Sache, die an sich manches für sich hat«.

Für die Zeit nach der Revolution äußert sich Engels in seinem 1884 erschienenen Spätwerk »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« ausführlicher. Was die Prostitution angeht, ist die Sache einfach: »Mit der Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum verschwindet auch die Lohnarbeit, das Proletariat, also auch die Notwendigkeit für eine gewisse Zahl von Frauen, sich für Geld preiszugeben.« Die Prostitution wird also verschwinden. Aber kann sie »verschwinden«, fragt er sogleich, »ohne die Monogamie mit sich in den Abgrund zu ziehn?« Wenn die »moderne isolierte Familie« aufhört, die »wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft« zu sein und sich kollektive Formen der Haushaltung, insbesondere bei der »Pflege und Erziehung der Kinder«, durchsetzen, »wird das nicht Ursache genug sein zum allmählichen Aufkommen eines ungenierteren Geschlechtsverkehrs«? Er führt die individuelle Liebe ins Feld und spricht sich im wesentlichen für die sequentielle Monogamie aus. Da aber die Männer dieser neuen Gesellschaft nie in die Lage gekommen sein werden, »für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen«, erklärt er sich – Moses darf nicht ins gelobte Land – für unzuständig: Die Männer wie Frauen künftiger Geschlechter werden »sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, dass sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis machen – Punktum.«

*

Diese Formulierung klingt ein wenig wie eine Beichte, und so sei eine Abschweifung in Engels’ junge Männerjahre erlaubt. Engels war 1846 im Auftrag des kommunistischen Korrespondenzbüros nach Paris gezogen und agitierte dort in einer Kneipe hinter der Zollmauer einige deutsche Handwerker, die bereits in den Dunstkreis kommunistischer Sekten geraten waren. Es brach in eben diesem Viertel eine Brotunruhe aus, und einige der von Engels agitierten Arbeiter wurden im Rahmen der folgenden Repression festgenommen und verhört. Sie »bekamen«, schreibt er an Karl Marx, eine »Heidenangst« und »verrieten, was sie wussten und mehr«. Der mittlerweile polizeilich beschattete Engels zog sich darauf von den ihn ohnehin langweilenden Handwerkerkommunisten zurück und widmete sich einem »unschuldigen Nebenvergnügen«: Er führte Grisetten zum Tanz aus. »Wenn die Französinnen nicht wären«, gesteht er Anfang 1847 Marx, »wär’ das Leben überhaupt nicht der Mühe wert. Mais tant qu’il y a des grisettes, va!«

Engels also hat sich mit den Grisetten eingelassen. Es handelte sich hierbei nicht eigentlich um Prostituierte, sondern, wie uns Marxens Schwiegersohn Paul La­fargue aufklärt, um eine »Schicht von Arbeiterinnen, die ausreichenden Lebensunterhalt durch die fleißige Arbeit ihrer Nadel fanden, dabei aber übermütige Dinger waren; Freundinnen von Vergnügungen, das Herz am rechten Fleck, zuversichtlich, den Tag nehmend, wie er kam, und ihre Liebhaber ebenfalls«. Alle Grisetten sind dabei Arbeiterinnen, aber nicht alle Arbeiterinnen Grisetten. Sie nehmen Geschenke und verschenken sich. Sei es der Eintritt für einen Ball, das Ticket für eine Schiffahrt auf der Seine, ein Hut oder eine Hose: Umsonst sind sie nicht zu haben. Engels verdankt diesen hübschen Grisettenbekanntschaften sein Französisch – sie haben, schreibt ihm Lafargue, »ihr Geld so gut verdient, dass Sie sie für diesen Zweck nicht mehr brauchen würden«.

Der Blick durchs Schlüsselloch wäre nicht interessant, hätte er keine politische Bedeutung. Die Grisetten sind weder Huren noch Ehefrauen, und Marx wie Engels sahen sie als Vorschein freier Frauen. Die Grisetten, schrieben sie schon 1844, würden durch »Hinwegsetzung über die Form der Ehe« und ihr »naives Verhältnis« zum Liebhaber einen »wahrhaft menschlichen Kontrast gegen die scheinheilige, engherzige und selbstsüchtige Ehefrau des Bourgeois« ausmachen. Das war noch vor dem Pariser Arbeiteraufstand vom Juni 1848, über den die von Marx besorgte Neue Rheinische Zeitung vom 27. Juni berichtet: »Grisetten sind mit der Fahne auf die Barrikade gestiegen und haben den Tod durch die Kugeln der Nationalgarde gefunden; Frauen halfen Steine tragen und wurden in der Barrikade der Straße St. Jacques kämpfend gefunden.« – Das naive Verhältnis zum Liebhaber übertrug sich auch auf die revolutionäre Aktion, was nach Neuer Rheinischer vom 29. Juli der Grund dafür sei, »warum in einem besondern Artikel über die Klubs es ausdrücklich untersagt ist, Weiber zuzulassen«. In der Ausgabe vom 30. Dezember ging die Zeitung dann sogar so weit, dem »Bein einer Grisette seine weltgeschichtliche Bedeutung« zuzugestehen, da es »nie Revolutionen in Paris gegeben hätte, wenn die zierlichen Beine der Grisetten nicht so herrlich revolutionär über die ganze gute bürgerliche Sitte des Jahrhunderts hinweggesprungen wären«.

Doch der »Rausch der republikanischen Flitterwochen« währte nur kurz. Der zwecks Mitarbeit bei der Rheinischen Zeitung nach Deutschland zurückgekehrte Engels war im Oktober 1848, also nach der Juniniederlage, gezwungen, Preußen Richtung Paris zu verlassen und schilderte den Kontrast: »Zwischen dem Paris von damals und von jetzt lag der furchtbarste Kampf, den die Welt je gesehen, lag ein Meer von Blut, lagen fünfzehntausend Leichen. Die Granaten Cavaignacs hatten die unüberwindliche Pariser Heiterkeit in die Luft gesprengt.« Eben konnte man dort noch im Weinrausch »alle Zwischenstufen von der Musardschen Quadrille bis zur ›Marseillaise‹, von der tollen Lust des Cancans bis zur wilden Glut des Revolutionsfiebers durchmachen«, jetzt waren die Theater verödet, die Gassenjungen verschwunden; »in der Schule des Belagerungszustands war die ausgelassene Republik gar bald honett, zahm, artig und gemäßigt geworden.« Die Rheinische vom 4. November 1849 ergänzte, dass in diesem Zuge auch »die Grisetten von ihren alten Orten verschwunden« waren und die Prostitution überhandnahm. Die Entstehung der modernen Prostitution aus dem Geist der Konterrevolution, wobei die Wirkungen der Wirtschaftskrise halfen, aus den Grisetten Prostituierte zu machen.

*

Bei Bebel werden die Prostituierten wesentlich als Opfer der Gesellschaft behandelt. Sie sollten nicht als Prostituierte Teil der Arbeiterbewegung sein, vielmehr durch Revolution in produktive Arbeiter verwandelt werden. In den Grisetten dagegen hatte man noch ein Ferment der kommunistischen Umwälzung gesehen; überhaupt war die Revolution eine Angelegenheit, bei der sich, so Engels, »die Leidenschaft des Genusses mit der Leidenschaft der geschichtlichen Aktion« vereinige. An diese Tradition knüpft eine 2023 unter dem Titel »Dialektik der Hure« erschienene Studie von Theodora Becker an, die den Huren in philosophischer Sprache nachsagt, was die Neue Rheinische den Grisetten nachsagte: »Was dem Metier der Hure Substanz verleiht, ist die über das Bestehende hinausweisende Kraft des Begehrens und der erotischen Sehnsucht, der Vorschein darauf, dass die Menschheit wahrhaft lieben könnte.«

Die Abhandlung beginnt mit Bebels Formulierung der Prostitution als für die Bürger unlösbares Sphinxrätsel und widmet sich dann in der Hauptsache den daraus folgenden geschlechtlichen Irrungen und Wirrungen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist daher für das es wohlwollend besprechende Feuilleton wie gemacht, enthält aber auch ein Kapitel, das sich mit der Stellung der Arbeiterbewegung zur Prostitution befasst. Da Becker der »Ausrichtung des Sozialismus am Ideal der produktiven Arbeit« misstraut, bespricht sie vor allem »abweichende Standpunkte unter den Kommunisten«.

So erfahren wir von Katharina »Ketty« Guttmann, einer »rotblonden, alle weibliche Koketterie verschmähenden Frau mit Lodenmantel und Sandalenschuhen«. Sie kam 1920 von der SPD über die USPD zur KPD, aus der sie 1924 wegen linker Abweichung wieder ausgeschlossen wurde. »Während der Novemberrevolution und bei der Märzaktion 1921 tat sie sich als Agitatorin hervor.« Ein von Becker zitierter Populärhistoriker unserer Zeit sieht sie als »Revolution in weiblicher Gestalt« und beschreibt, wie im Hamburger Aufstand 1923 »einige starke Männerfäuste Ketty Guttmann auf das Dach eines Schuppens« heben und sie mit kräftiger Stimme den Arbeitern erklärt: »Die ganze Welt sieht auf Hamburg, wenn Hamburg brennt, brennt die Welt. Ihr seid die Herren im Hause, wenn ihr es wollt. Marschiert mit den Kommunisten, bewaffnet euch.« – »Ihre Wirkung war fulminant.« Vor allem aber war Guttmann Herausgeberin des von 1920 bis 1924 erscheinenden Wochenblatts Pranger, dem »Organ der Hamburg-Altonaer Kontrollmädchen«, sprich der Hamburger Prostituierten.

Bei diesen stieß das Blatt auf einige Resonanz, während es in bürgerlichen Kreisen schnell als »skandalöser Arschwisch«, »Dreckfetzen« oder »Schmutzblatt« bekannt wurde, worüber sich Ketty dann im Blatt mit ihrer spitzen Feder trefflich mokierte. Der Pranger berichtet aber auch von Kritik aus den eigenen Reihen: »Jetzt kommt nun ein Angriff gegen uns von einer Seite, die wir besonders hochschätzen. Man wirft uns von Seiten der Kommunisten vor, dass wir Unnützes und Schädliches betrieben.« Aus den Erinnerungen Clara Zetkins wissen wir, dass Lenin höchstselbst spottete, dass man in Hamburg die Prostituierten »als eine besondere zünftige revolutionäre Kampftruppe« zu organisieren versuche: »Gibt es in Deutschland wirklich keine Industriearbeiterinnen mehr, die zu organisieren sind, für die es ein Blatt geben sollte?« Man kann in dieser Situation des akuten Kampfes wenig gegen dieses Argument einwenden. Ein Bürgerkrieg musste gewonnen werden, und so war kaum Platz für den »geflügelten Eros« (Alexandra Kollontai).

Guttmann lässt sich nicht in ihre Arbeit hereinreden, fährt mit der Agitation der Prostituierten fort und verteidigt dabei die Bolschewiki auch in schwerer Stunde, etwa als Gerüchte über die Erschießung und Internierung von Huren nach Deutschland dringen. Die Hamburger Prostituierten umgekehrt erwiesen sich nicht als Kommunisten, und vielleicht hätte Guttmann wirklich besser ein Organ für Hafenarbeiter herausgegeben. Aber man muss den eigenwilligen Reiz, den sie auf die Arbeiter ausübte, gerade aus der Tatsache erklären, dass sie den Huren eine Stimme gab. Triebkraft der sozialistischen Revolution, so diszipliniert sie sich auch gerade in der revolutionären Periode von 1917 bis 1923 geben musste, bleibt doch der Eros und der hat in der Agitation des Prangers seinen Platz: »Zum Teufel mit der Politik des Schmachtriemens! Wir brauchen Sättigung und Lust, um wieder schaffen zu können. Wir schreien nach dem Exzess, weil wir zu lange hungerten.« Und wenn es stimmt, dass Ehe und Prostitution zwei Seiten derselben Medaille sind, kann das diesbezüglich kommunistische Programm nicht einfach in der »Zurückführung der Prostituierten zur produktiven Arbeit« (Lenin) bestehen, etwas von ihnen muss in das neue Geschlechtsleben eingehen. Ketty Guttmann gebührt hier die Ehre, im Pranger die Huren nicht einfach als Opfer und »arme Frauenzimmer« (Bebel) angesprochen zu haben, sondern als Huren, die als solche an der Revolutionierung der geschlechtlichen Moral teilhaben, die mit der Umwälzung der Produktionsverhältnisse einhergeht: »Auf euch hoffen wir: Ihr moralischen Nihilistinnen. Wir alle erkennen nichts mehr an, was war. Wir schaffen Neues überall. Die neue Moral, die geschaffen werden muss, die müsst ihr Erfahrenen mit finden helfen.«

Erwin Grave ist Kommunist, arbeitet als Programmierer und schreibt gelegentlich für das Feuilleton dieser Zeitung. Im Hacks-Jahrbuch 2024 erschien von ihm gerade ein Beitrag über Kurt Gossweiler

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Protest gegen »Prostituiertenschutzgesetz«: Sexarbeiterinnen und...
    07.06.2024

    Entkriminalisierung gefordert

    Internationaler Hurentag: Sexarbeit nach wie vor nicht anerkannt. Beschäftigte sind Diskriminierung und Repression ausgesetzt
  • Piratensender mit Powerplay (On-Air-Leuchte im Aufnahmestudio vo...
    13.09.2023

    »Kein Kommerz auf Megahertz«

    Serie. Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 10: Mit Piratensendern und »Freien Radios« wehrte sich die Opposition gegen die Einführung des privaten Rundfunks
  • 19.10.2022

    Nur nicht bequem machen

    »Boum«: Lisa Eckart hat ihre Freude an bösen Pointen

Mehr aus: Wochenendbeilage