Revisionisten am Werk
Von Frederic SchnattererDas vergangene Jahr endete in Argentinien mit einem Anschlag auf die Erinnerungskultur. Nur wenige Stunden vor Neujahr teilte das Sekretariat für Menschenrechte rund 50 Angestellten des Kultur- und Erinnerungszentrums Haroldo Conti in Buenos Aires mit, dass ihre Arbeitsstätte ab dem 2. Januar 2025 geschlossen bleibe. Grund dafür, so der Inhalt der Whats-App-Nachricht, sei die Notwendigkeit, das Zentrum »auf angemessene Weise intern umzustrukturieren, die Arbeitsteams neu zusammenzusetzen und die Planung des Programms für das kommende Jahr zu überprüfen«. Daher sollten die Mitarbeiter zu Hause bleiben und warten, bis sie angerufen würden.
Nur eine vorübergehende Maßnahme also? Mitnichten, betonen Gewerkschafts- und Menschenrechtsvertreter. Sie sehen darin eine weitere Eskalation der Angriffe der Regierung von Javier Milei auf die vermeintlichen Grundfesten der argentinischen Gesellschaft. Während der Präsident einerseits den Staatsapparat aushöhle, attackiere seine ultrarechte Regierung gleichzeitig die Erinnerungspolitik des Landes.
Das Kultur- und Erinnerungszentrum Haroldo Conti steht wie wenige andere Einrichtungen in Argentinien für die Thematisierung der Verbrechen der brutalen Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 herrschte. Die Mitarbeiter des »Conti« haben sich der Verbreitung und Förderung von Kultur und Bildung verschrieben; das Programm umfasst die Bereiche Theater, Literatur, Tanz, Fotografie und Musik. Das, so die Zielsetzung der Milei-Regierung, soll sich ändern. Alberto Baños, Chef des Sekretariats für Menschenrechte, erklärte gegenüber der Tageszeitung La Nación, nach seiner Wiedereröffnung solle sich das Zentrum nicht mehr ausschließlich mit der Militärdiktatur und deren Verbrechen auseinandersetzen, sondern auch »andere Menschenrechtsfragen« behandeln.
Gegründet wurde das Conti 2008 auf dem Gelände der früheren Escuela Superior de Mecánica de la Armada (Mechanikschule der Marine, ESMA), deren Lehrbetrieb 1998 eingestellt wurde. Dort, auf einem großen Areal im Norden der Hauptstadt Buenos Aires, hatte die Marine während der Jahre der Militärdiktatur eines der größten Haft-, Folter- und Vernichtungszentren des Landes betrieben. Angehörige der Streitkräfte ermordeten in den Räumlichkeiten der ESMA schätzungsweise 5.000 Oppositionelle, Andersdenkende und Dissidenten – viele von ihnen wurden im Rahmen der sogenannten Todesflüge betäubt aus einem Flugzeug in den nahegelegenen Río de la Plata oder ins Meer geworfen. Insgesamt, so wird geschätzt, fielen der brutalen Militärdiktatur und ihrem von den Diktatoren der Region sowie den USA und auch Westdeutschland unterstützten »Kampf gegen den Terrorismus« rund 30.000 Menschen zum Opfer.
Nach breiten Protesten von Angestellten und solidarischen Gruppen, darunter einem großen Festival auf dem ehemaligen ESMA-Gelände Anfang Januar, urteilte am Dienstag vergangener Woche ein Richter in Buenos Aires, eine Schließung des Conti wäre illegal. In dem Gerichtsentscheid heißt es, die Milei-Regierung habe den Betrieb des Zentrums sowie den aller anderen Gedenkstätten zu garantieren. Dazu gehöre, dass ausreichend Personal vorhanden sei. Zuvor hatte beispielsweise die Entlassung aller sieben Mitarbeiter der Gedenkstätte Virrey Cevallos, ebenfalls in Buenos Aires, de facto zu deren Schließung geführt.
Doch auch wenn mit dem Urteil das Ende des Conti zunächst vom Tisch ist: Es ist davon auszugehen, dass die Milei-Regierung auch weiter gegen die aus ihrer Sicht »einseitige« Erzählung der von der Militärdiktatur begangenen Verbrechen vorgehen wird. Das tut sie seit ihrem Amtsantritt am 10. Dezember 2023 einerseits mittels organisierten Kahlschlags, der das Fortbestehen von immer mehr Einrichtungen und Institutionen gefährdet. Dazu gehören auch und gerade solche, die für die juristische Aufarbeitung der zahlreichen Verbrechen der Militärs zentral sind. So wurde mit der Nationalen Kommission für das Recht auf Identität (Conadi) eine Institution zerschlagen, die vom Regime geraubte Kinder bei deren Suche nach ihren leiblichen Eltern unterstützt hatte. Auch im Nationalen Erinnerungsarchiv, das wie das Conti auf dem Gelände der Ex-ESMA liegt, wurden Mittel und Stellen gestrichen.
Andererseits werden derlei Angriffe von einem offen revisionistischen Kurs flankiert, dessen Ziel eine völlige Umdeutung der Diktatur ist. Demnach sei der Putsch der Militärs eine notwendige »Reaktion« auf das im Argentinien der 1970er Jahre herrschende Chaos gewesen; die Bekämpfung kommunistischer und linker Gruppe durch die Militärs habe das Land »befriedet«. Diese Linie wird zum einen von Personen wie Vizepräsidentin Victoria Villarruell repräsentiert, die zu einer Familie einflussreicher Militärs gehört, die schwere Verbrechen begangen haben, seit Jahrzehnten Geschichsrevisionismus betreiben und um Schuldumkehr bemüht sind. Zum anderen lässt sich, sobald das offiziell konstruierte historische Gedächtnis entsprechend neu formatiert sein wird, gut argumentieren, wie das Militär auch künftig mit »Terroristen« umzugehen habe.
Als Präsidentin Isabel Perón am 24. März 1976 vom Militär weggeputscht und durch eine Junta ersetzt wurde, konnte das nur die wenigsten überrascht haben. Oft genug hatten die wichtigsten Vertreter der Streitkräfte mit einem Staatsstreich gedroht, sollte Perón nicht freiwillig zurücktreten. In den Jahren zuvor hatte die Aktivität von linken und kommunistischen Organisationen, die teilweise auch am bewaffneten (Guerilla-)Kampf beteiligt waren, deutlich zugenommen.
Das Ziel der Machtübernahme durch die Militärs – im Verbund mit Unternehmern und der Kirche –, war die Eliminierung der »kommunistischen Gefahr«. So erklärte beispielsweise General Luciano Menéndez bereits zu Beginn der Militärdiktatur: »Wir werden 50.000 Menschen töten müssen. 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten, und wir werden 5.000 Fehler machen.« Die Unterstützung durch die USA, die sich im Kalten Krieg mit der Sowjetunion befanden, war der Junta dabei gewiss. Bis zum Ende der Diktatur 1983, besonders jedoch während der Zeit bis 1978, die als »schmutziger Krieg gegen die Guerilla« in die Geschichte eingegangen ist, betrieb das Militär eine brutale »Säuberungskampagne« der argentinischen Gesellschaft, die offiziell als »Prozess der Nationalen Reorganisation« bezeichnet wurde.
Das Ausmaß der Verbrechen ließ erstmals ein Bericht erahnen, den die Nationalkommission über das »Verschwindenlassen« von Personen (Conadep) am 20. September 1984 vorlegte. Er trug den Namen »Nunca más«, zu deutsch: Nie wieder. In weniger als einem Jahr hatte die Kommission, an deren Spitze der Schriftsteller Ernesto Sábato stand, Informationen über entführte, gefolterte und ermordete Dissidenten gesammelt, deren Leichname später anonym verscharrt oder die mit sogenannten Todesflügen ins offene Meer oder den Río de la Plata geworfen wurden. Heute wird davon ausgegangen, dass rund 30.000 Personen der Diktatur zum Opfer fielen.
Der erste demokratisch gewählte Präsident nach der Diktatur, Raúl Alfonsín, strebte eine umfassende juristische Aufarbeitung der Verbrechen an und widerrief ein noch kurz vor ihrem Ende von der Junta verabschiedetes Amnestiegesetz für Militärangehörige. 1985 kam es zum zentralen Prozess gegen die wichtigsten Persönlichkeiten der Diktatur. Sein Abschlussplädoyer beendete Staatsanwalt Julio Strassera mit den Worten: »Ich möchte einen Satz verwenden, der nicht mir gehört, denn er gehört schon jetzt dem gesamten argentinischen Volk. Meine Herren Richter: Nie wieder.« Wegen heftigen Drucks der Streitkräfte wurde die Verfolgung der Verbrechen jedoch bald eingestellt. Erst ab 2003 unter Präsident Néstor Kirchner wurden viele Gerichtsverfahren wieder aufgenommen und neue angestrengt. Stand heute wurden 1.187 Personen für während der Diktatur begangene Verbrechen verurteilt. (fres)
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 13.06.2024
Modernisierung per Kahlschlag
- 30.12.2023
»Wir erleben das Trauma von damals noch einmal«
- 15.11.2023
Klage gegen Uribe
Regio:
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Die Großmütter geben nicht auf
vom 22.01.2025