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Aus: Ausgabe vom 22.01.2025, Seite 12 / Thema
Naher und Mittlerer Osten

Unter fremdem Einfluss

Vom Kolonialismus im 19. Jahrhundert bis zum Bürgerkrieg – ein Land im Fokus ausländischer Mächte. Syrien gestern und heute (Teil 1)
Von Tim Krüger
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Baschar Hafiz Al-Assad (l.) galt weithin als »schwacher Nachfolger« seines Vaters Hafiz (r.) und konnte sich aus Sicht vieler Beobachter nur dank des iranischen und des russischen Eingreifens an der Macht halten. Aber auch die islamistische Opposition wurde von außen gestützt, vor allem von der Türkei, Katar und Saudi-Arabien (Amman, 15.3.2013)

Am 27. November startete die islamistische Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) ihre lange vorbereitete Offensive gegen das Assad-Regime in Syrien. Innerhalb weniger Tage eroberte die Dschihadistenorganisation, die 2017 als Nachfolgeorganisation des syrischen Al-Qaida-Ablegers, der sogenannten Al-Fatah-Al-Scham-Front, gegründet worden war, die zweitgrößte Stadt Syriens, Aleppo, und setzte zu einem rasanten Vormarsch an. Nach der Eroberung der beiden Großstädte Hama und Homs marschierten die HTS-Truppen am 8. Dezember 2024 in der syrischen Hauptstadt Damaskus ein. Mit der Flucht Baschar Al-Assads endete nicht nur die 54jährige Regentschaft der Familie Assad, sondern auch die seit 61 Jahren andauernde Herrschaft des Baathismus in Syrien. Auch wenn der rasche Zusammenbruch des Regimes vielen Beobachtern plötzlich und überraschend erschien, war er doch das Ergebnis langfristiger Planungen unterschiedlicher Akteure sowie regionaler und globaler Verschiebungen der Kräfteverhältnisse.

Syrien war schon immer ein Land mit einem komplexen Gefüge ethnischer Vielfalt und unterschiedlicher politischer Visionen und Ziele. Seit Jahrhunderten ist das heutige Gebiet Syriens Ziel ausländischer Einmischung und miteinander konkurrierender Mächte, die die ethnischen, religiösen und politischen Unterschiede nutzen, um Zwietracht und Konflikte zu schüren. Doch es waren letzten Endes die über ein halbes Jahrhundert andauernde tyrannische Herrschaft, die weitverbreitete Korruption und die konsequente Weigerung der herrschenden Baath-Partei, den unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen des Landes eine demokratische Teilhabe zu gewähren, die Syrien zerrissen haben. Während manche meinen, mit den jüngsten Ereignissen sei der seit 13 Jahren wütende Bürgerkrieg in Syrien beendet, bleibt die Lage weiterhin instabil und die Zukunft des Landes mehr als ungewiss. Der Sturz des Assad-Regimes löst nicht automatisch alle Probleme Syriens. Die Frage nach einer politischen Neuordnung des Landes bleibt weiterhin ungeklärt.

Das Gebiet, auf dem heute das Territorium des syrischen Staates liegt, hat im Laufe der Geschichte eine wichtige Rolle für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation gespielt. Das heutige Nord- und Westsyrien war einst Teil des »Fruchtbaren Halbmondes«, wo vor Jahrtausenden die ersten bekannten Methoden des Ackerbaus entwickelt wurden. Der Norden Syriens war Heimat der sogenannten Halaf-Kultur zwischen 6.000 und 4.000 v. u. Z., die heute als Übergangsperiode zwischen dem Neolithikum und den ersten sumerischen Stadtstaaten gilt. Hier entwickelten sich Kunst, Kultur und Wissenschaft zu bis dato in der Menschheitsgeschichte unbekannten Höhen. Auch als Ursprungsort der monotheistischen Religionen besitzt die Region eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Nicht nur die fruchtbaren Böden und die gute Wasserversorgung verhalfen dem Gebiet, das heute durch die Grenzen Syriens abgesteckt wird, zu wirtschaftlichem Aufstieg, auch machte seine günstige geographische Lage das Land seit jeher zu einem wichtigen Handelsplatz. Städte und antike Metropolen wie Palmyra, Aleppo und Damaskus erblühten auf dieser Grundlage.

Willkürliche Grenzen

Wenn man heute über das moderne Syrien, den Irak, die Türkei, den Libanon, Palästina und Israel oder ganz allgemein über das aktuelle Staatengefüge im Nahen Osten spricht, sollte man sich vor Augen halten, dass die Region im Laufe der Geschichte, insbesondere des vergangenen Jahrhunderts, weitreichende Veränderungen erfahren hat und dass die heutige Zusammensetzung und Grenzziehung wenig mit deren kultureller Beschaffenheit zu tun haben. Die Menschen in den ostsyrischen Wüstengebieten haben oft mehr mit ihren irakischen Nachbarn als mit ihren Mitbürgern in Damaskus gemein, die Kurden in Nordsyrien viel mehr mit den Kurden in der Türkei oder dem Nordirak als mit der arabischen Bevölkerung in Homs. Vermeintlich homogene Nationalstaaten findet man in der Region nur schwerlich. Vielmehr müssen die zumeist von außen aufoktroyierte nationalstaatliche Ordnung und eine Machtpolitik, die seit Jahrhunderten Konfessionen und ethnische Gemeinschaften gegeneinander ausgespielt hat, als die Hauptwurzeln des heutigen Elends betrachtet werden.

Vor dem Ersten Weltkrieg befand sich das Gebiet des heutigen Syriens 400 Jahre lang unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. 1916 unterzeichneten die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich ein folgenschweres Geheimabkommen. Das Dokument, das nach seinen Autoren benannt als Sykes-Picot-Abkommen bekannt werden sollte, bildete den Rahmen für die Aufteilung des Territoriums des Osmanischen Reiches im Falle seiner wahrscheinlichen Kriegsniederlage. 1916 begann ein arabischer Volksaufstand gegen das Osmanische Reich, den Großbritannien großzügig unterstützte. London versprach den Aufständischen gar die Schaffung eines eigenen arabischen Königreichs nach dem Fall des Osmanischen Reiches. Der Aufstand markiert den Beginn der völligen Desintegration des ehemaligen Riesenreiches. Nach der Kriegsniederlage der Mittelmächte teilten die Sieger den Nahen Osten entsprechend der im Sykes-Picot-Abkommen festgelegten Einflussgebiete neu auf. Syrien und der Libanon wurden zu französischen Mandatsgebieten. Der Irak und Palästina fielen an Großbritannien.

Syrien blieb bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein Mandatsstaat unter französischem Protektorat, damit de facto eine französische Kolonie. Doch sowohl im heutigen Syrien als auch im Libanon geriet die französische Herrschaft durch den Druck einer aufstrebenden arabischen Nationalbewegung zusehends in Bedrängnis. Der Wunsch nach Unabhängigkeit führte bereits in den 1920er Jahren zu einem Aufstand, den die französischen Truppen blutig niederschlugen. Der wachsende Einfluss der Nationalisten zwang Frankreich letztlich zu vorsichtigen Zugeständnissen. 1930 wurde so die erste Syrische Republik ausgerufen. Erstmalig fand die »Unabhängigkeitsflagge«, die seit dem Sturz des Assad-Regimes wieder als offizielle Staatsflagge Syriens firmiert, als Hoheitszeichen des neuen syrischen Staates Verwendung. Eine tatsächliche Unabhängigkeit von Frankreich lag allerdings noch in weiter Ferne. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab Frankreich dem Druck der Bevölkerung und der internationalen Diplomatie nach, zog 1946 seine letzten Truppen ab und entließ Syrien damit in die Unabhängigkeit. Noch ein Jahr zuvor hatte sich Frankreich mit allen Mitteln an seine Stellung an der Mittelmeerküste geklammert und Damaskus bombardiert.

Im Zeichen des Panarabismus

Die zweieinhalb Jahrzehnte bis zur Machtübernahme Hafiz Al-Assads im Jahre 1970 waren geprägt von der militärischen Konfrontation mit Israel sowie heftigen Macht- und Richtungskämpfen innerhalb der arabischen Nationalbewegung, die in einer Reihe von aufeinanderfolgenden Staatsstreichen mündeten. Nach der Niederlage der Arabischen Liga im arabisch-israelischen Krieg von 1948 wurde 1950 eine neue Verfassung verabschiedet, die den Beginn der zweiten Syrischen Republik markiert. Während der Großteil der politischen und militärischen Elite dem Panarabismus anhing, tobten dennoch heftige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fraktionen. 1956 unterzeichnete die 1954 durch einen Militärputsch an die Macht gelangte Regierung einen Pakt mit der Sowjetunion, eine Reaktion auf den NATO-Beitritt der Türkei zwei Jahre zuvor. Spätestens zu diesem Zeitpunkt trat Syrien auch in den Kalten Krieg ein. Beeinflusst durch den wachsenden Zuspruch der Bevölkerung für die Politik des nationalistischen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und der Vision einer vereinigten arabischen Nation unter dem Dach eines Staates schlossen sich Syrien und Ägypten 1958 in der Vereinigten Arabischen Republik zusammen. Doch die Welle der Begeisterung hielt nicht lange an. Die Hoffnung auf Einheit wich dem Gefühl der Fremdbestimmung durch Ägypten. Anstelle des Panarabismus gewann eine spezifisch syrisch-arabische Strömung des Nationalismus an Einfluss, und bereits 1961 setzte ein weiterer Staatsstreich der Vereinigten Arabischen Republik ein abruptes Ende. Syrien wurde zur Arabischen Republik Syrien. Der Name war Programm. Syrien wurde explizit zum Staat der syrischen Araber. Andere Minderheiten, allen voran die kurdische Bevölkerung, hatten mit ihrer Sprache und Identität keinen Platz im neuen Staatswesen. Hunderttausenden Kurden wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, sie wurden als »staatenlos« erklärt.

Als die Baath-Partei im Februar 1963 im Irak die Macht übernahm, nutzte ihre syrische Schwesterpartei kurz darauf die Gelegenheit und ergriff im März 1963 ebenfalls die Macht. Mit dem Putsch, der als »Revolution vom 8. März« bezeichnet wurde, begann die Herrschaft der 1947 gegründeten Partei. Doch die Rivalitäten hielten an, besonders zwischen dem militärischen und dem zivilpolitischen Flügel der Partei sowie ihrem irakischen und syrischen Zweig. 1966 übernahm erneut der militärische Flügel die Macht, und es kam zum definitiven Bruch mit dem irakischen Ableger der Partei. Letztlich waren es die katastrophale Niederlage der arabischen Armeen im Sechstagekrieg 1967 sowie das Scheitern der syrischen Intervention in die als »Schwarzer September« bekanntgewordenen Auseinandersetzungen zwischen der PLO und dem jordanischen Königshaus im Jahr 1970, die den Weg für den Staatsstreich, die »Korrekturbewegung«, ebneten, der im November 1970 den Offizier Hafiz Al-Assad an die Spitze des Staates katapultierte. Anders als seinen Vorgängern gelang ihm die Konsolidierung der Macht. Legitimiert durch den anhaltenden offiziellen Kriegszustand Syriens mit Israel stützte Assad seine Macht auf die Aufrechterhaltung des Kriegsrechts in allen Lebensbereichen, die Stärkung des Militärs sowie einen bis ins kleinste Detail organisierten umfassenden Geheimdienstapparat. Dabei waren die Grundlagen für eine stabile Herrschaft bereits in den vorangegangenen sieben Jahren der Baath-Herrschaft gelegt worden. Die politische Opposition war weitgehend unterdrückt und zerschlagen worden, die Verwaltung war zentralisiert worden. Die neue syrische Verfassung von 1973 erklärte die Baath-Partei offiziell zum Führer von »Gesellschaft und Staat« und ebnete damit den Weg für die dynastische Herrschaft der Familie Assad.

Obwohl es Hafiz Al-Assad immer wieder gelang, zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu vermitteln, war seine Herrschaft bei weitem nicht unumstritten. So sorgte die Verabschiedung der neuen Verfassung von 1973, die Syrien offiziell zu einem säkularen Staat erklärte, für heftige Unruhen unter der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung. Auch wenn Assad im Gegensatz zu früheren Regierungen seine Macht teilweise auch durch die Integration sunnitischer Muslime, Drusen und Christen in das politische System stärkte, so besetzte er dennoch nahezu sämtliche Schlüsselpositionen mit loyalen Anhängern aus der alawitischen Religionsgemeinschaft, zu der auch seine eigene Familie zählte. Gespeist aus dem weitverbreiteten Unmut in der sunnitischen Bevölkerung begann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre unter der Führung der Muslim­bruderschaft (MB) ein Aufstand, der 1982 mit einem Massaker in Hama, der Hochburg der sunnitischen Fundamentalisten, endete, dem Tausende von Menschen zum Opfer fielen. Die erfolgreiche Unterdrückung der Erhebung konnte zwar Assads Stellung ein weiteres Mal festigen, brannte sich aber im kollektiven Gedächtnis der sunnitischen Bevölkerung als ungesühntes Verbrechen ein.

Naher Osten im Umbruch

Als Hafiz Al-Assad im Jahr 2000 verstarb und sein Sohn Baschar Al-Assad infolge der Absenkung des Mindestalters für das Präsidentenamt von 40 auf 34 Jahre den Thron bestieg, waren die Hoffnungen auf eine Lockerung des anhaltenden Ausnahmezustandes sowie auf demokratische Reformen groß. Aber auch unter Assad Junior änderte sich wenig am etablierten System. Zugleich fehlten Baschar Al-Assad die Erfahrung und die Autorität seines Vaters. Es gelang ihm nicht, die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, insbesondere die sunnitisch-arabische Mehrheit des Landes, zu integrieren. Als im Frühjahr 2011 die Protestwelle des sogenannten Arabischen Frühlings auch auf Syrien überschwappte, wusste sich der Präsident nur mit dem massiven Einsatz von Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu helfen. So konnte die Macht der Familie Assad nur mit Hilfe der externen Verbündeten im Iran, der libanesischen Hisbollah und Russlands aufrechterhalten werden. Dass es vor allem sunnitische Dschihadisten waren, die in kürzester Zeit die militärische Führung des Aufstandes an sich rissen und dem Regime letztlich den entscheidenden Schlag versetzen sollten, hat jedoch Ursachen, die weiter reichen als bis zur Säkularisierung des syrischen Staatswesens in den 1970er Jahren.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht nur für Syrien eine Zeit des Wandels. Sie brachte für den gesamten Nahen Osten weitreichende Umbrüche. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging die Vormachtstellung Großbritanniens im imperialistischen Weltsystem an die USA über. Washington hatte es verstanden, in beiden Weltkriegen stets auf der Siegerseite zu stehen, war aber bei weitem nicht den Zerstörungen und dem immensen Aderlass ausgesetzt, den die europäischen Mächte und vor allem die Sowjetunion erlitten hatten. Auch Frankreich hatte im Nahen Osten seine Stellung eingebüßt und kämpfte mit dem drohenden Verlust seiner Kolonien in Afrika und Ostasien. Die USA gewannen an Stärke und festigten ihre Position als neue globale Supermacht.

Im 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die britische Politik in der Region vor allem darauf konzentriert, den Einfluss des Osmanischen Reiches zu schwächen und gleichzeitig die eigenen Beziehungen zu den verschiedenen regionalen Gemeinschaften zu stärken. Als Leitlinie der britischen und später der US-amerikanischen Politik kann das Herrschaftsprinzip »divide et impera« gelten. Tribalismus, Nationalismus, Sektierertum und religiöser Fundamentalismus wurden ausgenutzt, um Gemeinschaften zu spalten und den Nahen Osten in kleinere Einheiten aufzuteilen. Die geschwächten Regionalstaaten und lokalen Gemeinschaften waren leichter zu kontrollieren und auszubeuten. Araber, Kurden, Türken und Perser, Christen und Muslime, Sunniten und Schiiten und viele mehr wurden gegeneinander ausgespielt. Dabei war der aus Europa importierte Nationalismus für die westlichen Mächte ein unverzichtbares Werkzeug zur Eroberung der Region. Doch als vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch marxistische und sozialistische Ideen unterschiedlichster Strömungen im Nahen Osten an Stärke gewannen und auch das panarabische nationalistische Denken der Zeit beeinflussten, machte sich im Westen die Angst vor einer sowjetischen Machtübernahme breit.

Politischer Islam

Das britische Imperium hatte bereits gute Erfahrungen mit der Unterstützung islamischer Kräfte in der Region gesammelt und wusste um deren großen Einfluss auf die überwiegend ländlich und tribal geprägte Gesellschaft. Der Aufstieg des Wahhabismus in der arabischen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts wurde von der britischen Kolonialmacht aktiv unterstützt, um die osmanische Herrschaft zu untergraben. Mit der Politik des »Grünen Gürtels« ebneten die USA und die NATO nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich den Weg zum Aufstieg des modernen politischen Islam. Die Muslimbruderschaft und andere fundamentalistische Kräfte in Ägypten, Syrien und anderen Ländern wurden gefördert, um eine Art religiösen »­Cordon Sanitaire« gegen den sowjetischen Einfluss in der Region zu legen. Besonders bekannt ist die CIA-geführte »Operation ­Cyclone«, als der US-amerikanische Nachrichtendienst im Verbund mit pakistanischen Geheimdiensten die gegen den Einmarsch der ­Sowjetarmee kämpfenden »Mudschaheddin« in Afghanistan bewaffnete und ausbildete. Auch Osama bin Laden befand sich damals unter den US-gestützten islamistischen Freischärlern, und sowohl die mittlerweile Afghanistan regierenden Taliban als auch Al-Qaida gingen direkt aus diesem Prozess hervor.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hatte auch für den Nahen Osten weitreichende Folgen. Der Kapitalismus verkündete seinen Sieg über den Sozialismus, und die USA wurden mit ihrem riesigen Militärapparat zur unangefochtenen Supermacht. Der Fall des realsozialistischen Lagers hinterließ ein riesiges Vakuum. Während (Süd-)Osteuropa nach dem erprobten Konzept »divide et impera« neu geordnet wurde, rückte vor allem der geostrategisch bedeutsame Nahe Osten ins Zentrum US-amerikanischer Aufmerksamkeit. Doch die alten nationalstaatlichen Regime des 20. Jahrhunderts versperrten sich dem Zugriff der unilateralen US-amerikanischen Globalisierung.

Der Widerspruch zwischen dem US-amerikanischen Imperium und den despotischen Regimen der Region war indes weniger der oft behauptete von Demokratie und Diktatur. Vielmehr ging es darum, dass die Nationalstaaten der Region zu einem Hindernis für den freien Fluss des Kapitals und des weltumspannenden Güterverkehrs geworden waren. Um die alten Regime zu zerschlagen, sie zu ersetzen oder wahlweise so zu transformieren, dass sie sich der neuen Weltordnung unterwerfen, begannen die USA ausgehend vom Zweiten Golfkrieg 1991 sowie vom Einmarsch in Afghanistan und der Invasion im Irak 2003 mit einer umfassenden Intervention zur Neugestaltung der Region. Dabei konnten sich die USA auf ihre traditionellen Verbündeten Israel und Saudi-Arabien, aber auch die Türkei verlassen, wo seit 2002 der türkische Ableger der Muslimbruderschaft, Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die Macht übernommen hatte.

Stellvertreter und Verbündete

Nach der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 schwappte von Tunesien aus eine Welle des Protestes über die gesamte Region. Die Menschen hatten genug von den alten Eliten, der Korruption und der jahrzehntelangen Stagnation des gesellschaftlichen und politischen Lebens. In Tunesien, Libyen, Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, Jemen, Sudan, Algerien und vielen weiteren Ländern kam es zu Aufständen und Massenprotesten. In Tunesien, Libyen, Ägypten und gleich zweimal in Jemen gelang es, die Regierungen zu stürzen, doch Jemen, Libyen, Syrien und der Irak versanken im Bürgerkrieg. Während die Aufstände Ausdruck des demokratischen Willens der Menschen und ihres Kampfes um ein Leben in Freiheit und Würde waren, wurde die chaotische Situation auch von den Interventionsmächten der USA und der NATO genutzt, um sich unliebsamer Regime zu entledigen und eine Neugestaltung der Region nach ihren Vorstellungen voranzutreiben. Regionale Akteure wie die Türkei und Katar, aber auch der Iran nutzten die Situation, um ihre Stellvertreter und Verbündeten an die Macht zu hieven. Die Türkei und Katar koordinierten von Ägypten über Syrien bis in den Irak die Muslimbruderschaft sowie Kräfte der Al-Qaida und sunnitische Dschihadistengruppen, aus denen später der »Islamische Staat« hervorgehen sollte. Der Iran stärkte seinerseits die Hisbollah im Libanon und in Syrien, im Jemen die Ansarollah-Bewegung und im Irak verschiedene schiitische Milizen.

Auch wenn die Türkei wie die anderen Akteure auch nach mehr regionaler Macht und Einfluss strebt, kann das Engagement Ankaras nicht außerhalb der US-Strategie verstanden werden. Als sich 2011 der Aufstand in Syrien ausbreitete, nutzten die USA, die NATO, die Türkei und Katar die Gunst der Stunde und begannen mit der Bewaffnung und Ausbildung zumeist islamistischer sunnitischer Oppositionsgruppen in Syrien. Im Rahmen des unter der Regie der CIA geführten Programms »Timber Sycamore« wurden Gruppen der damals noch unter dem Namen »Freie Syrische Armee« (FSA) agierenden Kräfte mit Sturmgewehren, Granatwerfern und Panzerabwehrwaffen aus US-Beständen regelrecht überflutet. Der Türkei gelang es im Zuge der Unterstützung für dschihadistische Milizen in Syrien, auch den anfangs bestehenden saudischen Einfluss in der Opposition zurückzudrängen und sich zum Schutzpatron der »syrischen Opposition« aufzuschwingen. Als die FSA auch dank der ausländischen Unterstützung weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatte, zögerte auch der Iran nicht, seinem langjährigen Verbündeten in Damaskus unter die Arme zu greifen. Teheran schickte Berater und Waffen, ließ die libanesische Hisbollah in das Kriegsgeschehen eingreifen und entsandte schiitische Milizen aus der gesamten Region, um die Regierung Assad am Leben zu erhalten. Angesichts der Bedrohung durch den vorrückenden »Islamischen Staat« rief die syrische Regierung 2015 auch die Russische Föderation um Hilfe. Die Luftunterstützung Russlands sollte vor allem in den Schlachten um die Rückeroberung syrischer Großstädte wie Aleppo eine entscheidende Rolle spielen.

Die syrische Revolution von 2011 war in ihren Anfängen keine homogene Bewegung. Die Opposition war ein Konglomerat verschiedenster politischer Fraktionen, Ethnien und Glaubensrichtungen. Sie bestand sowohl aus säkularen als auch aus religiösen, liberalen, konservativen, nationalistischen und auch sozialistischen Kräften. Es waren nicht zuletzt die Waffenlieferungen und die Ausbildungsprogramme der USA und der Türkei, die ganz bestimmten Gruppen zugute kamen, so dass die Islamisten ihre Vormachtstellung in der Opposition ausbauen konnten. Während Kräfte wie die Al-Fatah-Al-Scham-Front erstarkten, verschwanden säkulare Kräfte in der Bedeutungslosigkeit. Die »Opposition« war zu einer sunnitisch-islamistischen geworden. Minderheiten wie Christen, Alawiten und Drusen mussten bald erkennen, dass diese Opposition nicht mehr die ihre war.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. November 2024 über die langjährige Partnerschaft zwischen Deutschland und der Türkei.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (25. Januar 2025 um 11:56 Uhr)
    Die westlichen Aufrüstungsprogramme für aufständische Islamisten in Afghanistan oder Syrien sind schamlose Einmischungen in die inneren Angelegenheiten dieser Länder, die die westlichen Anklagen gegen vorgebliche aber unbewiesene russische Einflussoperationen auf die westliche Öffentlichkeit als hysterisch überdreht und unehrlich entlarven. Ein Punkt wäre aus meiner Sicht aber klarzustellen. Die Türkei hat zwar ein Interesse an der Schwächung der syrischen Kurden und hat in Syrien nach eigenem Gutdünken völkerrechtswidrig mal mehr, mal weniger direkt eingegriffen. Dem vermittelten Eindruck, dass die Türkei auch die amerikanische »Invasion im Irak 2003« unterstützt hätte, muss allerdings widersprochen werden. Tatsächlich hatte die Türkei sich damals den US-amerikanischen Invasionsplänen deutlich entschiedener widersetzt als etwa Deutschland und den NATO-Stützpunkt Incirlik für den amerikanischen Angriffskrieg gegen die Irak gesperrt. Der Krieg konnte damit zwar nicht verhindert, aber doch um einige Wochen verzögert werden.

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