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Aus: Ausgabe vom 01.02.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Vernichtungskrieg der Nazis

Zum Genozid am sowjetischen Volk

Österreichs Anteil am Vernichtungskrieg der Nazis und am Holocaust war schwerwiegend. Gastbeitrag von Dmitrij Ljubinskij
Von Dmitrij Ljubinskij
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Sowjetische Flugabwehr 1941 vor der Isaakskathedrale während der 872tägigen Blockade Leningrads durch die Wehrmacht

Vor 80 Jahren, am 2. Februar 1945, unternahmen kriegsgefangene Offiziere der Roten Armee einen Ausbruchsversuch aus dem Todesblock 20 im KZ Mauthausen. An einer Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte Mauthausen an diesem Sonntag werden auch Angehörige von Veteranen der Roten Armee aus Russland teilnehmen. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Gastbeitrag von Dmitrij Ljubinskij, Botschafter der Russischen Föderation in Österreich. (jW)

Am 22. Juni 1941 überfiel Nazideutschland im Rahmen der »Operation Barbarossa« die Sowjetunion. Auf Befehl Hitlers führten die Wehrmacht und die SS diesen Feldzug von Beginn an als Vernichtungskrieg, dessen Ziel nicht nur die Eroberung, sondern der Genozid an der sowjetischen Bevölkerung war.

Nach dem »Generalplan Ost« sollte das Volk der UdSSR unterworfen, versklavt und deportiert werden, um für die überlegene »arischen Rasse« neuen Lebensraum zu schaffen – eine Blaupause für die »Germanisierung« der eroberten Gebiete.

Gleichzeitig wurden Soldaten der Wehrmacht durch den »Kriegsgerichtsbarkeitserlass« (13. Mai 1941) und den »Kommissarbefehl« (6. Juni 1941) von der Strafverfolgung für Verbrechen gegen sowjetische Zivilisten und Kriegsgefangene freigestellt, auch wenn es sich um Kriegsverbrechen handelte. Ein Freibrief für die willkürliche Erschießung von Zivilisten.

Das Vordringen der Wehrmacht ging mit einer systematischen Ausraubung und Vernichtung der sowjetischen Bevölkerung einher. Das gesamte Getreide und andere Lebensmittel wurden aus den besetzten Gebieten ins »Dritte Reich« eingezogen oder von der Okkupationsarmee konsumiert. Dass dies den Hungertod von 20 bis 30 Millionen Menschen in der Sowjetunion bedeuten sollte, entsprach voll und ganz den Plänen des Reiches. Fast zwei Millionen Sowjetbürger wurden zur Zwangsarbeit nach Westen verbracht. Der Großteil sollte nicht zurückkehren.

Blockade Leningrads

Infolge der unzähligen barbarischen Greueltaten der Nazis kamen in der Sowjetunion insgesamt 13.684.692 Zivilisten ums Leben. Ganze Dörfer wurden ausgerottet, Unschuldige wurden in KZ zu Tode gefoltert oder starben an den schweren Folgen des Okkupationsregimes. Alleine bei der Leningrader Blockade sind 632.253 Menschen verhungert – die doppelte Einwohnerzahl des heutigen Graz! 1.710 Städte und 70.000 Dörfer sind vernichtet worden, viele davon samt der ganzen Bevölkerung. 25 Millionen Menschen blieben ohne Unterkunft. Fast 32.000 Industriebetriebe, 100.000 Kolchosen, 40.000 Krankenhäuser, 84.000 Schulen und Hochschulen, 427 Museen wurden zerstört.

Gerade vor diesem Hintergrund erscheinen die Versuche einiger westlicher Politiker, die Mitschuld an der Tragödie der überfallenen Sowjetunion aufzuerlegen, besonders obszön. Dabei drücken sich die deutschen Behörden zynisch vor jeglichen Schritten zur Verewigung der Erinnerung an die Millionen von sowjetischen Bürgern, die Opfer des »totalen Krieges« im Osten geworden sind, und verweigern unter anderem Kompensationszahlungen an nichtjüdische Überlebende der Blockade von Leningrad.

Und was ist mit Österreich? In der Zweiten Republik wurde viele Jahrzehnte im außenpolitischen Narrativ die Rolle »österreichischer« Wehrmachtsangehöriger als jene des Opfers festgelegt. Zeitgleich aber würdigten manche österreichische Bundes- und Landespolitiker bei öffentlichen Gedenkfeiern und Denkmalweihen ehemalige Wehrmachtsangehörige und rechtfertigten den Dienst in der Wehrmacht als »Pflichterfüllung«. Diese zweideutige Interpretation der eigenen Rolle wurde im Bundespräsidentenwahlkampf 1986 brüchig und kippte schließlich im Zuge der Wehrmachtsausstellungen in den 1990er und 2000er Jahren. Trotzdem hat Österreich in Sachen Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit noch einen weiten Weg zu gehen, denn der »Beitrag« dieses Landes zum Holocaust und zum Genozid am sowjetischen Volk war schwerwiegend.

Nach dem »Anschluss« sind ca. 700.000 Österreicher (viele davon begeistert) der NSDAP beigetreten, nicht weniger als 1,3 Millionen dienten in der Wehrmacht, die meisten an der Ostfront. Gerade die Linzer 45. Infanterie-Division hat zum Beispiel am 22. Juni 1941 die Brester Festung gestürmt. Andere »ostmärkische« Divisionen haben bei Moskau, Leningrad, Stalingrad, Kiew, Minsk, Murmansk, auf der Krim und im Kaukasus den Vernichtungskrieg gegen die sowjetischen »Untermenschen« geführt.

Was der österreichische »Anteil« an den NS-Gewaltverbrechen und insbesondere an den Wachmannschaften in Vernichtungslagern sowie in SS- und Waffen-SS-Verbänden betrifft, so gehen die Angaben dazu auseinander. Einige Forscher behaupten aber, dass Österreicher dort überproportional repräsentiert waren.

Auf dem Gebiet des heutigen Österreichs gab es insgesamt mehr als 50 Konzentrationslager, Stalags und Vernichtungsstätten. Mauthausen mit seinen Außenlagern war für seine unmenschlichen Bedingungen besonders berüchtigt. Diesen Bedingungen sowie gezielten Mordaktionen fielen bis 1945 mindestens 90.000 der insgesamt dort eingesperrten 190.000 Häftlinge zum Opfer, darunter mehr als 30.000 sowjetische Häftlinge. Von allen Häftlingsgruppen wurden sowjetische Kriegsgefangene am schlimmsten behandelt.

Ein dramatischer Fluchtversuch sowjetischer Offiziere aus dem »Todes­block« 20 des KZ Mauthausen ereignete sich in der Nacht zum 2. Februar 1945. An der grausamen Hatz, die in den SS-Unterlagen den zynischen Namen »Mühlviertler Hasenjagd« bekommen hatte, nahmen nicht nur die SS, Gendarmerie und der Volkssturm, sondern auch die Einwohner der umliegenden Ortschaften teil. Sie haben 410 Häftlinge gejagt und ermordet. Vermutlich konnten nur elf Menschen überleben.

Befreiung Österreichs

Trotz der unzähligen Verbrechen gegen das sowjetische Volk, an denen Österreicher maßgeblich beteiligt waren, brachte die Sowjetunion ein weiteres Opfer, indem sie für die Befreiung Österreichs mit 26.000 Menschenleben bezahlte. Die Rotarmisten haben am Dach des Wiener Rathauses im April 1945 nicht die sowjetische, sondern die österreichische Fahne gehisst. Sie haben die Zerstörung der österreichischen Hauptstadt, einer der schönsten Städte Europas, verhütet.

Die sowjetischen Truppen haben zahlreiche Quartale Haus für Haus nach Sprengfallen überprüft, die Nazis vor ihrem Abzug miniert hatten. Noch heute findet man in Wien, zum Beispiel am Stephansdom, Inschriften auf russisch: »Quartal überprüft« (Квартал проверен). Die Wiener Bevölkerung wurde von der Roten Armee mit Nahrungsmitteln versorgt, während die Sowjetunion in Trümmern lag. Allein von April bis Juni 1945 hat die sowjetische Militärmacht der Stadt Wien 46.500 Tonnen Getreide, 4.000 Tonnen Fleisch, 2.700 Tonnen Zucker, 2.500 Tonnen Salz, 1.200 Tonnen Fette, 230 Tonnen Kaffee zur Verfügung gestellt. Die Rote Armee hat bis Juni 1946 allein in Wien 33 Brücken wiederhergestellt, die die Nazis gesprengt hatten.

In seinem Urteil hielt das Nürnberger Tribunal fest, dass die Kriegsverbrechen der Nazis in einem früher nie dagewesenen Umfang begangen wurden und von unvorstellbarer Grausamkeit und Terror begleitet waren. Die Tötungen und Misshandlungen der Zivilbevölkerung erreichten in der Sowjetunion ihren Höhepunkt. Sich auf massive Beweise stützend, stellte das Tribunal fest, dass diese Verbrechen nicht nur mit dem Ziel der Unterdrückung des Widerstandes gegen die Okkupationsmacht begangen wurden, sondern eben Teil eines umfassenden Plans zur Ausrottung der Zivilbevölkerung und der weitgehenden Kolonisierung der eroberten Gebiete waren. Daher ist zu unterstreichen, dass die unzähligen Fälle der Vertreibung und Ermordung von Sowjetbürgern durch die Nazis sowie deren Schergen, die vom Tribunal dokumentiert wurden, klar unter den Tatbestand des Genozids im Sinne der UN-Völkermordkonvention von 1948 fallen und auch als solcher betrachtet werden sollen.

Es ist das Gebot der Stunde, der größten humanitären Katastrophe der Menschheitsgeschichte zu gedenken und an das Leiden und den Opfermut des sowjetischen Volkes zu erinnern. Versuche westlicher politischer Eliten, die Geschichte zu verdrehen, sie umzuschreiben, sind zum Scheitern verdammt. Die Erinnerung an den Genozid am sowjetischen Volk durch Nazideutschland ist in unsere DNA gebrannt; nichts wird sie verblassen lassen. Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen.

Hintergrund: Ausbruch aus Block 20

In Mauthausen, nahe der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz, stand das einzige Konzentrationslager auf dem Boden des heutigen Österreich. Es unterhielt im ganzen Land Neben- und Außenlager.

Vor 80 Jahren, in der Nacht zum 2. Februar 1945, unternahmen etwa 500 »K«-Häftlinge des Blocks 20 einen Ausbruchsversuch. Diese Häftlinge wurden ab Frühjahr 1944 aufgrund des »Kugel-Erlasses« nach Mauthausen deportiert. Dieser Erlass vom 4. März war ein Geheimbefehl mit der Weisung, aus deutschen Kriegsgefangenenlagern entwichene Offiziere sowie ranghöhere Unteroffiziere nach ihrer Ergreifung in das KZ Mauthausen zu überführen und sie dort »im Rahmen der Aktion Kugel« erschießen zu lassen. Anlass war die Flucht von 150 niederländischen Offizieren aus deutscher Haft. Ausgenommen vom Befehl waren britische und US-amerikanische Gefangene.

Die Situation im isolierten Block 20 war verheerend: Abgeschirmt vom Rest des KZ, wurden die Häftlinge dem Sterben überlassen. Sie mussten auf dem Boden schlafen, erhielten kaum Nahrung und hatten keine Chance zu überleben.

Es waren vor allem sowjetische Offiziere, die Fluchtversuche unternommen hatten, sowie Zwangsarbeiter, die der Sabotage oder politischen Betätigung bezichtigt worden waren.

Bewaffnet mit Pflastersteinen, Feuerlöschern, Seifen- und Kohlestücken griffen sie in der Nacht zum 2. Februar 1945 die Wachtürme an und warfen feuchte Decken über den elektrisch geladenen Stacheldraht. Der dadurch herbeigeführte Kurzschluss ermöglichte es ihnen, die Lagermauer zu überwinden. Viele starben bereits beim Ausbruchsversuch, doch 419 Personen gelang es zu entkommen.

Die SS leitete eine Großfahndung ein, an der sich neben SS, Gendarmerie, Wehrmacht und Volkssturm auch zahlreiche Zivilpersonen aus dem lokalen Umfeld beteiligten. Fast alle Geflüchteten wurden wieder ergriffen und an Ort und Stelle ermordet. Die Such- und Mordaktion wurde zynisch als »Mühlviertler Hasenjagd« bezeichnet.

Nur elf überlebten. Die Angehörigen von drei russischen Überlebenden werden in den kommenden Tagen an mehreren Gedenkveranstaltungen in Oberösterreich und Wien teilnehmen. (dr)

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