Die Moschee in der Hand
Von Pierre Deason-Tomory
An einem Montag im Januar 2000 bin ich frühmorgens mit dem ersten Zug Richtung Hamburg gefahren, um meinen neuen Job anzutreten. Ich hatte für drei Monate als Coach der Morgensendung beim dortigen Oldieradio angeheuert, dessen Zahlen nach einem Formatwechsel hart eingebrochen waren. Ich, genau einunddreißig Jahre alt, war gerade pleite und sah ziemlich abgerissen aus, hatte nicht einmal das Geld für die Zugfahrt. Der Schaffner warf mich trotzdem nicht raus, sondern schrieb mir ein Ticket. Und nach einem Blick auf meinen Ausweis fragte er: »Sie haben heute Geburtstag?«, zerknüllte das Ticket und gab mir einen Freifahrtschein.
Auch beim Sender lief es von Anfang an gut, so gut, dass die Chefs darüber hinwegsahen, dass ich angezogen war wie eine Vogelscheuche, zuweilen in einem schäbigen Gehrock aus dem Fundus daherkam, dessen Ärmel zu weit und zu kurz waren. Der Job hat großen Spaß gemacht und sehr geschlaucht. Ich stieg montags bis freitags um halb fünf Uhr morgens verkatert in einen Aufzug und fuhr hinauf zu den ehemaligen Studios von OK Radio. Dann saß ich bis neun Uhr in meinem Büro, trank Tee, rauchte Kette und hackte in einen Rechner Texte, die das Team im Studio auf die Bildschirme bekam und dann live vorspielte. »Ich bin Schauspieler. Ich brauche einen Text und einen Regisseur, alles andere habe ich«, hatte Markus gesagt, der Hauptmoderator der Show, im ersten Einzelgespräch. In Wirklichkeit hieß er nicht Markus, und on air trug er einen dritten Namen, man sieht, er war professionell bis in die Knochen. Er moderierte fehlerfrei, konnte in der Sendung umgetextete Oldies live singen und sich dazu selbst am Keyboard begleiten. Ist als junger Kerl Punkmusiker gewesen, der zuweilen auch mit Volksmusikcombos durch Bayern getingelt war. Die anderen Mitglieder der Frühsendung waren Anfänger, erst völlig verunsichert, aber dann machten sie richtig mit. Nach jeder Sendung frühstückten wir ausführlich und suchten dabei Themen und Ideen für die nächste Show. Danach produzierten wir schöne, blödsinnige Kurzhörspiele, in denen jeder eine Rolle hatte, und sie spielten bald so, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.
So ging das an jedem Werktag, lange Stunden, irgendwann am Nachmittag bin ich in eine Kneipe, mich betrinken, danach, zumeist zu spät, nach Hause. Ich wohnte bei Sabine in einer WG in einem baufälligen Gründerzeithaus mit Dusche im Flur. Es war das einzige Haus in der Böckmannstraße, in dem Deutsche wohnten, der Friseur unten war türkisch, der Bäcker mit Fernsehraum daneben auch, die Moschee schräg gegenüber war riesig, und dann war da noch die Polizeiwache, die Mützen konnten mir direkt in die Bude schauen. Hier, in den Straßen von St. Georg hinter dem Hamburger Hauptbahnhof, war überhaupt alles ordentlich eingeteilt. In der einen Straße türkische Läden, in der anderen afghanische oder arabische. In dieser Straße standen »normale« Huren, in jener Heroinhuren und auf dem Hansaplatz Crackdealer und kleine Mädchen. Letztere bettelten bei den Dealern, hockten auf der Erde und rauchten oder stiegen in die Autos der Schweine, aus denen sie kurz danach wieder ausgespuckt wurden.
An einer Ecke des Hansaplatzes war meine Münzwäscherei. Das Warten verkürzte ich in einem winzigen Kellerlokal, in dem eine Wirtin um die vierzig Biere und Buletten servierte. Sehr nett und sehr attraktiv, sie hatte volles dunkles Haar und einen schönen Busen, was ich nicht übersehen konnte, weil sie dünne T-Shirts trug und keinen BH. Die Gäste waren Ältere aus dem Viertel, die Zeit hatten für einen Schnack mit Bierchen. Arme Leute, die täglich das große Elend sahen in der Umgebung und voller Mitleid waren. »Bei mir ist gestern einer im Aufgang weggetreten. Der lag da, als ich kam, noch die Pumpe im Arm, hatte überall das Blut herumgespritzt. Ich habe ihn in Ruhe gelassen, etwas später war er weg. Das Blut ist noch da. Aber was sollen die denn machen, die armen Schweine, wo sollen sie denn hin, wenn sie das machen müssen?«
Nach den langen Frühschichten bin ich oft auf die Reeperbahn ins Lehmitz, eine vortreffliche Wirtschaft, in der die Barhocker vor den raumfüllenden Tresen am Boden festgeschraubt waren. Dort habe ich gerne getrunken, alleine, um diese Zeit war kaum jemand da. Hier konnte man auch Gras rauchen, sogar kaufen: »Sorry, ich habe nur Haschisch. Gras hat der Kollege da drüben.« Einmal saß einer der Dealer, Lemmy-Kilmister-Frisur, schwarze Lederjacke, auf der festgeschraubten Bank draußen vor der Tür und bat mich, ihm ein Bier mitzubringen. Er habe Hausverbot, weil er versehentlich einem 17jährigen Dope verkauft hatte. »Ja, macht man nicht. Aber ich wusste nicht, dass der noch klein ist.«
An einem Freitag nachmittag nach einer anstrengenden Woche mit wenig Schlaf saß ich mit Markus im Lehmitz. Ich erzählte ihm von der beschriebenen Kantonisierung in St. Georg, die auch für den Straßenstrich galt, und wir kamen auf die unterschiedlichen Beweggründe der Frauen zu sprechen, anschaffen zu gehen. »Die einen sind gezwungen dazu, die anderen lieben das Geld«, meinte Markus. Weil sie das Geld lieben? »Ja. Wir zwei tun nichts anderes, wir prostituieren uns auch freiwillig«, er als Bühnenhure, ich als Radiosöldner. Er kannte sich aus mit Prostitution, war gerne in einer Bumsfabrik namens Laufhaus. Da wollte er später noch hin, würde, anstatt an diesem Wochenende zur Frau nach Franken zu fahren, in den Puff gehen. Er liebte seine Frau, dennoch schien es ihm, es wäre vorbei mit ihr. Ich wollte diese Woche auch in Hamburg bleiben, schlug aber sein Angebot aus, ihn ins Laufhaus zu begleiten, und unsere Wege trennten sich.
Es kam selten vor, dass ich nicht am Freitag bereits stehend k. o. die elend lange Bahnfahrt nach Weimar antrat. Ich habe nebenher, an den Wochenenden, auch noch die Moderatoren des neuen lokalen Bürgerradios trainiert, aber noch mehr zog mich die Sehnsucht nach Anne ins Dichterdorf. Anne studierte Kunst an der Bauhaus-Universität, war selbst ein Bild, wenn sie nachlässig gekleidet und mit aufgelöster blonder Mähne vor der Staffelei stand, die Zigarette in der linken Hand, den Stift in der rechten, mit den tiefen Augen aus weiter Ferne streng auf die Zeichnung blickend. Mir gefiel, was sie zeichnete, ich liebte, wie sie zeichnete. Sie fotografierte auch und bearbeitete dann die Bilder ewige Stunden lang am Rechner auf dem verwüsteten Schreibtisch, immer ein Radeberger neben dem niemals geleerten Aschenbecher, bis sie den Computer herunterfuhr, sich frisch machte und wir in die Gerber gingen, in Henrys Bar oder woanders hin, wo man uns Bier und Aschenbecher hinstellen würde.
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Beim Trinken redete sie wenig, sonst fast gar nicht. Ihr Gesicht sprach aus, was ihren Mund nicht verließ, man musste sie lesen, um sie zu verstehen, und das wenige, das sie sagte, war konfus oder das Gegenteil des Gemeinten. Sätze, gesprochen ohne Satzzeichen, Adjektive ohne Hauptwort, Vorsilben, die an das falsche Wort gerieten. »Ich bin nicht beärgert« war ein Anne-Zitat, das ich in meinem Hamburger Büro über dem Schreibtisch hängen hatte. Sie war ein Rätsel, das erstaunt durchs Leben geht. Zwei- oder dreimal kam sie für ein paar Tage zu mir nach Hamburg, ich denke, sie fand es spannend. Und fremd. Sie hat sich konsequent danebenbenommen in einem Sternerestaurant, in dem wir zwei zusammen mit dem wie immer übermüdeten Morningteam aus geschäftlichen Gründen tafelten, ein Fünfgängemenü serviert bekamen, zu dem eine Schauspielerin fünf chinesische Märchen vortrug.
Nun hatte ich also einmal zwei Tage Ruhe. In meiner nahöstlichen Nachbarschaft aus der U-Bahn geklettert, aß ich bei einem Araber, trank zwei Tassen Tee gegen die Müdigkeit und ging in einen der türkischen Gemischtwarenläden, um einen Wecker zu kaufen, den man nicht überhören kann, ich hatte mich am Morgen fast verspätet. Ich wusste, was ich wollte, und fand es, eine zigarrenkistengroße Plastikmoschee in knallenden Farben, grün und golden. Mit fünf Weckzeiten, jedesmal rief der Muezzin in der Schachtel andere Verse. Ich ließ ihn ein paarmal rufen, und die bärtigen Männer im Laden lachten sich über mich tot. Dann war ich zu gut gelaunt, um schon nach Hause zu gehen und im Sessel einzuschlafen, und steuerte mit Moschee in der Hand das Theater-Café an, ein Kellerlokal in einer Seitenstraße, in der Pfandleiher in ihren Läden Diebesware vertickten.
Dieses Etablissement war das erste, in das ich Mitte der neunziger Jahre reingeraten war, als ich zu meinem ersten Engagement in der Stadt eintraf, als Formatchef bei Radio Hamburg. »Einen Imbiss kriegen Sie im Theater-Café gegenüber, die machen Ihnen eine Bockwurst«, hatte der Mann an der Rezeption gesagt, beim Einchecken am späten Sonntag abend im Hotel. Ich ging die Treppe herunter und betrat einen Raum, in dem links an einem großen Tisch Huren und Luden eng zusammensaßen. Nach rechts ging es in einen zweiten Raum mit einer kleinen Bar und ein paar Tischen, fast ohne Gäste, an einen setzte ich mich und bestellte eine Bockwurst und ein Bier. An den Wänden hingen signierte Künstlerfotos, alt und vergilbt, die Tische waren so leer wie die Bar, und die Barkeeperin, die mir Wurst und Bier brachte, war die Ehefrau des Zuhälters, der am Nebentisch saß und mir Bilder zeigte von den Kindern und verriet, dass seine Frau vom Fach sei und auf meine Frage hin, dass man Gras kaufen könne im Lehmitz auf der Reeperbahn und auch daneben im »Gloschar«, wie er es mir auf einen Zettel schrieb.
Ich war seit meiner Premiere im Theater-Café ein paarmal dort gewesen, kam jeweils früh, da war es angenehm leer und die Zeit zeitlos. An diesem Freitag abend war es schon später, trotzdem saßen nur zwei oder drei Männer an der Bar. Ich ging wie immer an einen der Tische, und die Frau vom Tresen kam und sagte mit leichtem Akzent: »Komm vor zu uns, dann muss ich nicht zu dir hinlaufen.« Sie war ungefähr so alt wie ich, eine Russin aus Litauen oder Lettland, wie sich herausstellte, als wir immer wieder unterbrochen ins Gespräch kamen, das zu dritt begann, weil der Mann neben mir wissen wollte, was es mit meiner Moschee auf sich hat, und ich den Muezzin rufen lassen musste. Ich trank, weil ich bald wieder gehen wollte, nur kleine Biere und bekam jeweils ein neues, noch bevor das alte geleert war, und meine Augenlider wurden immer schwerer. Besoffen war ich nicht, aber hundemüde. Die Frau hinter der Bar bemerkte es, stellte mir einen Kaffee hin und dann weitere, und ich rauchte und sah ihr teilweise wegnickend zu, wie sie nun die Bar saubermachte, den letzten Gast bezahlen ließ und abschloss. Sie ging nach hinten, kam in der Jacke zurück, rief ein Taxi. Oben auf der Straße sagte ich, es täte mir leid, ich denke, ich sollte schlafen gehen. Wir stiegen in den Wagen, sie schickte den Fahrer in die Böckmannstraße, und bevor ich ausstieg, küsste sie mich.
Nur drei Monate sollte ich den Job eigentlich machen, aber sie ließen mich nicht gehen. Inzwischen war ich im sechsten, als morgens Manager von Radio Hamburg in den Sender einritten und die gesamte Führung vom Geschäftsführer an abwärts durch ihre Leute ersetzten. Die alten wurden im Fünfminutentakt zum neuen Chef gerufen, packten anschließend ihre Sachen und gingen. Ich konnte das von meinem Büro aus gut beobachten. Ein jovialer Kollege, dessen eigentliche Funktion ich nie ergründet hatte, nahm mich zur Seite und sagte, er würde sich noch bei mir melden, beim Staatssender in Sri Lanka würden deutsche Berater angeheuert. Schüttelte mir die Hand, drückte die Brummtür auf und verschwand im Aufzug. Als das Massaker schließlich vorbei war, rief ich »Matthes! Ich will mein Personalgespräch!« durch den Gang. Der Damm rief zurück: »Du bleibst, wo du bist!«
Ich blieb tatsächlich, vielleicht zwei oder drei Wochen, aber ich nörgelte nur noch herum. Die neuen Chefs, mir noch bekannt von meinem ersten Job in Hamburg, erfüllten weitreichende Forderungen, die ich nur stellte, damit sie ablehnten und ich wieder zurück nach Weimar konnte. Die neue Geschäftsführerin warnte mich – und sie meinte es gut –, ich würde irgendwann keinen Job mehr bekommen, wenn ich immer wieder abhaue. Ich erwiderte, es täte mir leid, nahm meine Tasche und fuhr zum Bahnhof. Kam spät am Abend in Weimar an, hatte mich natürlich nicht angekündigt, lief herunter in die Stadt in die Gerber, öffnete die Tür zur Wunderbar, und gleich links stand Anne mit den anderen. Sie war überrascht, mich zu sehen, freute sich sehr und lachte. Sie gab mir einen Kuss, und wir gingen zu ihr.
Zehn Jahre später, es war Winter, spätabends, saß sie im Henrys, nicht angekündigt. Es durchfuhr mich, als ich hereinkam und Anne sah. Im Vorbeigehen grüßte ich scheinbar ungerührt sie und die Gesellschaft an ihrem Tisch, darunter war ihr Mann, und setzte mich an den Tresen. Irgendwann kam sie zu mir. Wir tranken, rauchten, und sie redete. Ich wüsste zu gerne, was sie gesagt hat, aber ich verstand sie nicht. Einmal ging es um Musik. Sie bat Franz, die Tresen hatte, eindringlich, einen bestimmten Song zu spielen, irgendwann tat ihr Franz den Gefallen. Anne tanzte auf dem Barhocker, den sie mit ihren Beinen umschlungen hielt, und Franz sagte betroffen: »Das ist eine, die immer kriegt, was sie will.« Es wurde spät, ich wollte aufbrechen, sie hielt mich fest, nahm meinen Kopf in die Hände und küsste mich, und ich hielt sie fest und fühlte sie. Es tat immer noch weh.
Pierre Deason-Tomory lebt in Weimar und arbeitet als freier Autor und »Hersteller von Gebrauchsprosa«. Geboren 1969 in Nürnberg, zwischen 1986 und 2008 politisch unzuverlässiger Radiosöldner bei zwölf Sendern in Berlin, Halle (Saale), Hamburg, München, Nürnberg und Weimar. Zeitweise auch tätig als Politfunktionär, Arbeiter in einer US-Textilfabrik, Buchhalter einer türkischen Baufirma, im Callcenter eines Berliner Umfrageinstituts und am Grill einer Hamburgerbude. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle am 30./31.12.2023 »In dieser großen Zeit – Tagebuchrückblick Dezember 2022 bis Dezember 2023«
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