Gegründet 1947 Mittwoch, 16. April 2025, Nr. 90
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 06.02.2025, Seite 12 / Thema
Arbeitsrecht

Recht des Stärkeren

Ob Kündigung oder Arbeitszeit – viele Gesetze fallen zugunsten der Unternehmer aus. Eine Analyse des Arbeitsrechts
Von Marcus Schwarzbach
12-13.jpg
Nur Druck von der Straße hilft: Verdi-Mitglieder protestieren vor dem Arbeitsgericht in Herne (25.4.2023), weil eine Kollegin wegen Beharrens auf Pausen strafversetzt wurde

Im Feuilleton wird seit geraumer Zeit die Arbeiterklasse wiederentdeckt. Redakteure schreiben vom Arbeitermilieu in Frankreich, sind begeistert von Didier Eribons 2016 auf deutsch erschienenen Bestseller »Rückkehr nach Reims«. Fasziniert begleiten Rezensenten den Autor zurück in sein proletarisches Herkunftsmilieu, der Leser erlebt, wie Eribon sich mit Fleiß ins Bürgertum hocharbeitet. Die konkrete Situation der Arbeiter spielt dabei kaum eine Rolle. Welchen Klassencharakter beispielsweise das Arbeitsrecht hat, bleibt außen vor.

Zwar wird Arbeitsrecht häufig als »Arbeitnehmerschutzrecht« bezeichnet. Einige Beispiele zeigen jedoch, wie Gesetze im Interesse der Unternehmen umgesetzt werden. Angesichts hoher Beschäftigtenzahlen betrifft das sehr viele Menschen, denn wie das Statistische Bundesamt mitteilte, gab es im Jahresdurchschnitt hierzulande 46,1 Millionen Beschäftigte – »so viele wie noch nie seit der deutschen Vereinigung im Jahr 1990«.¹

Viele davon verzichten darauf, im Streitfall ihre Rechte wahrzunehmen. Meist wird umgesetzt, was die Kapitalseite will, der Stärkere setzt sich durch. So wird etwa die Nichterfassung von Überstunden oder die Kürzung des Fahrtkostenersatzes bei Dienstreisen zu anderen Standorten akzeptiert, ganz nach dem juristischen Motto: »Wo kein Kläger, da kein Richter.« Pocht ein Arbeiter gegenüber der Personalabteilung auf seine Rechte, setzen Unternehmen häufig auf Überraschungseffekte. Beschäftigte berichten, dass sie zu einem Gespräch mit dem Vorgesetzten gerufen wurden und dann zwei Unternehmensvertretern gegenübersitzen, die Druck aufbauen und Drohungen aussprechen, falls die Beschäftigten den Weg zum Arbeitsgericht in Erwägung ziehen.

Schon die allgemeinen Begriffe beschönigen die ökonomischen Zusammenhänge. Bezeichnend sind vor allem die Begriffe »Arbeitnehmer« und »Arbeitgeber«, die in vielen Gesetzen – etwa dem Betriebsverfassungsgesetz – zu finden sind. Der Beschäftigte gilt als »Arbeitnehmer«, während der Unternehmer als »Arbeitgeber« bezeichnet wird. Diese Ausdrücke verschleiern, dass die Arbeit durch die Beschäftigten erbracht wird, und sie den Wert im Unternehmen schaffen: Der »Arbeit-nehmer« stellt dem Kapitaleigner, dem »Arbeit-geber«, seine Arbeitskraft zur Verfügung. Der »Arbeitnehmer« verkauft seine Arbeit dem »Arbeitgeber«, der die Produktionsmittel besitzt und dies zur Gewinnerzielung nutzt.

»Gerechtfertigte« Kündigung

Ein erster Blick in das Kündigungsschutzgesetz stimmt manchen Beschäftigten positiv. Denn in Paragraph 1 heißt es, dass die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses rechtsunwirksam ist, »wenn sie sozial ungerechtfertigt ist«. Wie dies zu verstehen ist, entscheiden letztlich Arbeitsgerichte. Das Beispiel »krankheitsbedingte Kündigungen« zeigt, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinander liegen können. Denn die Kündigung aufgrund einer Krankheit ist nicht untersagt, selbst krankmachende Arbeitsbedingungen schließen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht aus.

Die rechtlichen Möglichkeiten reichen vielen Unternehmen jedoch nicht. Im Betrieb wird häufig das Instrument des »Krankenrückkehrgespräches« genutzt. Für diese Gespräche gibt es keine gesetzlichen Vorgaben. Ziel dieser »Jagd auf Kranke« ist es, ein Klima der Unsicherheit zu schaffen, um den Krankenstand in der Belegschaft zu senken und Kosten zu sparen. Es wird nicht nach Ursachen wie beispielsweise Arbeitsstress gesucht, für die der Betrieb verantwortlich ist, sondern der einzelne aufgefordert, sein Verhalten zu ändern. Dies suggeriert Betroffenen, sie tragen selbst Schuld an einer Krankheit. Neben der Einschüchterung von Beschäftigten dienen diese Gespräche oft auch der Vorbereitung einer Kündigung. Dabei sind selbst Kündigungen wegen häufiger Kurzerkrankungen zulässig, wenn aufgrund der Fehlzeiten das Arbeitsgericht eine »negative Prognose« erkennt: »Muss mit unzumutbaren Fehlzeiten gerechnet werden, liegt eine negative Zukunftsprognose vor. Ist jemand lange Zeit krank, kommt es darauf an, ob mit einer Genesung zu rechnen ist und/oder ob er seine Arbeit noch ausüben kann«, berichtet die IG Metall.²

Arbeitsgerichte prüfen immer die letzten drei Jahre vor der Kündigung. »War der Beschäftigte in drei Jahren immer mehr als 30 Tage krank, so droht eine Kündigung«, erklärt Gewerkschaftsjurist Dr. Till Bender.³ Kann die Geschäftsführung beim Gerichtstermin Details zur Krankheit nennen, deren Verlauf ein Kranker unbedacht oder unter Druck ausführlich geschildert hat, erhöht das die Chancen des Unternehmens, die Kündigung juristisch durchzusetzen.

Das Gesetz bietet weitere Möglichkeiten. Will ein Manager den gesamten Betrieb schließen, da ihm ein anderer Standort lukrativer erscheint, kann er betriebsbedingte Kündigungen für die gesamte Belegschaft aussprechen. Das Gesetz verbietet diese nicht, es müssen lediglich Fristen eingehalten und Gründe benannt werden. Vielmehr gilt eine Kündigung dieser Art sogar als »sozial gerechtfertigt«. Gibt es einen Betriebsrat, ist dieser vor jeder Kündigung anzuhören. Das Unternehmen hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam. Verhindern kann der Betriebsrat das Kündigen jedoch nicht.

Arbeitszeitgesetz

Zielsetzung und Folgen eines Gesetzes können unterschiedlich sein. Dies zeigt sich am Beispiel des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Dieses hat nach Paragraph 1 auch den Zweck, den Gesundheitsschutz der Belegschaft zu verbessern und »den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen«. Die Realität sieht anders aus. Das Gesetz sieht eine Sechstagewoche vor, eine Regelung, die dem Arbeitsschutz widerspricht. Von einem Verbot der Sonntagsarbeit kann nicht gesprochen werden. »Der Anteil der Sonntagsarbeiterinnen und -arbeiter betrug 9,3 Prozent. Personen, die sonntags arbeiten, arbeiten auch häufig am Samstag. 8,3 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten ständig oder regelmäßig an beiden Tagen des Wochenendes«, meldet das Statistische Bundesamt.⁴

Sonntagsarbeit erfolgt nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch in der Metallindustrie oder bei Onlinehändlern wie Amazon. Denn staatliche Behörden können Ausnahmen genehmigen. Das Gesetz umfasst eine Reihe von Bestimmungen, die mit Ausnahmeregelungen versehen sind. Die tägliche Arbeitszeit begrenzt Paragraph 3 ArbZG. Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeiter darf acht Stunden nicht überschreiten – eine Ausdehnung der werktäglichen Arbeitszeit auf bis zu zehn Stunden ist möglich. Die Arbeiter haben gemäß Paragraph 5 ArbZG nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit Anspruch auf eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden. Ausnahmeregelungen sind möglich, zum Beispiel in Krankenhäusern, Gaststätten oder Hotels. Dass Profitmaximierung oberste Richtlinie ist, zeigt Paragraph 13 Abs. 5 ArbzG: Eine Aufsichtsbehörde hat Sonn- und Feiertagsarbeit zu bewilligen, wenn andernfalls die »Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt ist«.

Die einfachste Lösung zur Umgehung von Ruhezeiten ist für viele Unternehmen, auf eine Zeiterfassung zu verzichten. Durch Smartphones oder Tablets ist Arbeit nicht mehr zwangsläufig an einen bestimmten Ort oder feste Zeiten gebunden. Klagen im Betrieb über die ständige Erreichbarkeit werden größer – für immer mehr Beschäftigte verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Werden die Zeiten nicht dokumentiert, ist es für Beschäftigte schwieriger, das Thema »Erreichbarkeit« anzugehen. Dabei sind Unternehmen aus Arbeitsschutzgründen in der Pflicht, denn Erkenntnisse der Sozialforschung zeigen, wie wichtig es für Menschen ist, eine klare Tagesstruktur zu haben. Durch ständige Erreichbarkeit geht eine solche Struktur tendenziell verloren. Verschärft wird dieses Problem häufig durch den Umstand, dass den Beschäftigten nicht klar ist, was von ihnen im Hinblick auf Erreichbarkeit tatsächlich erwartet wird.

Das Prinzip der »indirekten Steuerung« ist in vielen Betrieben bestimmend. Bisher klare Anweisungen für einzelne Arbeitsabläufe oder Genehmigungsverfahren beim direkten Vorgesetzten werden durch dieses Managementkonzept abgelöst. Ein Beispiel hierfür sind Zielvereinbarungen. Bei diesen ist nicht »der Weg« das Entscheidende, vielmehr entscheidet der Angestellte, wie das Ziel zu erreichen ist. Die Konsequenz: Auf die Kontrolle von Höchstarbeitszeiten verzichten die Unternehmensleitungen, denn entscheidend ist nur das »Ergebnis«, unabhängig von der benötigten Arbeitszeit. Das Arbeitsverhältnis wird zum Verhältnis »Dienstleister gegenüber Kunde«, um so scheinbar aus dem Arbeitenden einen »Unternehmer im Unternehmen« zu machen. Die Leistungsdynamik eines Selbständigen soll so für das Arbeitsverhältnis genutzt werden.

Wollen Beschäftigte die Bezahlung von Überstunden durchsetzen, bremsen sie hohe rechtliche Hürden. Problematisch ist, dass nach der Rechtsprechung die »Darlegungs- und Beweislast« für die geleistete Mehrarbeit bei den Beschäftigten liegt. Dabei ist im Einzelnen darzulegen und zu beweisen, an welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Auch ist konkret vorzutragen, welche Aufgaben in dieser Zeit erledigt wurden und dass die Überstunden vom Vorgesetzten angeordnet oder geduldet wurden. Strenge Regeln formuliert das Bundesarbeitsgericht in einer Grundsatzentscheidung vom 17. April 2002, auf die sich heute viele Gerichte beziehen.

Zulässig ist auch ein Modell zum flexiblen Einsatz der Arbeitskräfte: Kapovaz – die kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit, oder »Arbeit auf Abruf«, wie es der Gesetzgeber nennt. Je nach seinem Bedarf legt das Unternehmen fest, wann und mit welcher Stundenzahl der Arbeitnehmer zu arbeiten hat. Es wird zwar oft ein fester Stundensatz vereinbart, der aber je nach anfallender Arbeit auch in einer Woche in der Höhe einer Vollzeitbeschäftigung ausgeübt werden muss, ohne dass der Teilzeitstatus dadurch verloren geht. Nicht selten schwankt auch das Einkommen der Beschäftigten je nach Umfang der geleisteten Stunden. Die Unternehmen können das »unternehmerische Risiko« auf die Belegschaft verlagern.

Entgelttransparenzgesetz

Ein anderes Beispiel für das juristische Ungleichgewicht ist das »Entgelttransparenzgesetz«. Es soll der Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Bezahlung dienen und ist seit Juli 2017 in Kraft. Hier wären einfache Lösungen möglich – etwa, dass eine Arbeiterin eine Information von der Personalabteilung erhalten kann, wie weit sich ihr Gehalt von dem der Männer in vergleichbaren Jobs unterscheidet. Unternehmenslobbyisten setzten dagegen die Formulierung des Paragraphen 11 Abs. 3 Entgelttransparenzgesetz durch: »Das Vergleichsentgelt ist anzugeben als auf Vollzeitäquivalente hochgerechneter statistischer Median des durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelts sowie der benannten Entgeltbestandteile, jeweils bezogen auf ein Kalenderjahr.« Und mit besonderer Umständlichkeit und großer bürokratischer Phantasie wird in Paragraph 12 Entgelttransparenzgesetz vorgeschrieben, »das Vergleichsentgelt nicht anzugeben, wenn die Vergleichstätigkeit von weniger als sechs Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts ausgeübt wird«.

Diese Bürokratie wirkt im Unternehmensinteresse, wie eine Bilanz der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zeigt. Eine der Kernaussagen der Studie: »In der Mehrheit der privaten Betriebe mit Betriebsrat, in denen Beschäftigte den gesetzlichen Auskunftsanspruch haben, hat zwischen 2019 und 2021 niemand diesen Anspruch genutzt.«⁵ Um die bislang geringe Wirkung des Gesetzes zu erhöhen, sind niedrigere Hürden bei der Wahrnehmung des Transparenzanspruchs nötig, schreiben die Forschenden Dr. Helge Emmler und Dr. Christina Klenner in einer ersten Auswertung über die Wirksamkeit des Gesetzes.

Mehrarbeit als Standard

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) besteht beim Arbeitsvertrag nicht völlige Vertragsfreiheit. Klauseln in Arbeitsverträgen sind unwirksam, wenn sie den Arbeitenden entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen: »Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist«, heißt es in Paragraph 307 Abs. 1 BGB. Diese Formulierung bietet Interpretationsspielraum, denn »unangemessen« verstehen Unternehmen anders als Beschäftigte. Die Regelung kann große Bedeutung haben, denn ein Verstoß gegen das Transparenzgebot führt zur Unwirksamkeit der Absprache im Arbeitsvertrag. Dass Arbeitsrecht aber auch hier nicht bedeutet, die Schwächeren werden geschützt, zeigt eine Grundsatzentscheidung des Landesarbeitsgerichtes Mecklenburg-Vorpommern.⁶

Ein Mitarbeiter einer Finanzbuchhaltung mit einem niedrigen Monatsgehalt von 1.800 Euro bei einer 40-Stunden-Woche hatte im Arbeitsvertrag die Regelung stehen, dass mit dem Gehalt monatlich zehn Stunden Mehrarbeit abgegolten sind. Der Betroffene hielt die Klausel für unwirksam und verlangte vom Unternehmen eine Bezahlung der Überstunden, da er benachteiligt wurde. Das Gericht sah das anders: Die im Arbeitsvertrag vereinbarte Pauschalvergütung sei zulässig, sie verstoße nicht gegen die Regeln des BGB. Damit machen die Richter deutlich, wie unbedeutend Vorgaben des BGB in der Praxis sind. Auch für Geringverdiener kann eine Überstundenregelung wirksam sein, wonach zehn Stunden Mehrarbeit pro Monat mit dem normalen Gehalt abgegolten sind.

Grenzen setzen

Dem »Arbeitnehmer« ist klar: Der Kauf der Arbeitskraft dient einer bestimmten Funktion, die jederzeit austauschbar ist und potentiell von einem anderen Menschen – oder einer Maschine – erledigt werden kann. Beschäftigte haben als einzelne wenig Chancen gegen die Macht des Unternehmens. Kollektive Regelungen, die per Streik erkämpft werden, setzen dem Unternehmer Grenzen. Am »Black Friday« letzten Jahres haben die Beschäftigten von Amazon per Streik gezeigt, dass sie bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen wollen. In Bad Hersfeld fand eine zentrale Protestaktion statt, zu der 1.200 Streikende aus der ganzen Republik angereist waren. Die Beschäftigten forderten nicht nur eine Bezahlung nach Tarif – vielmehr soll der Tarifvertrag für gute und gesunde Arbeit im Einzelhandel durchgesetzt werden. »Die Beschäftigten berichten uns von einem enormen Leistungsdruck, von einer erschöpfenden Arbeitsverdichtung und von einer Überwachung am Arbeitsplatz, die ein Klima der Angst erzeugt«, erklärt Verdi-Bundesvorstand Silke Zimmer.⁷

Aber mit immer weniger Unternehmen werden Tarifverträge abgeschlossen. Die Tarifbindung ist seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Fielen 1998 noch 73 Prozent unter einen Tarifvertrag, liegt der Wert inzwischen bei 51 Prozent. Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Tarifvertrag anwendet. Von den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten tut dies nur knapp ein Fünftel. Die Tarifbindung ist sogar bei den Schwergewichten der deutschen Wirtschaft lückenhaft, meldet die Hans-Böckler-Stiftung: Überhaupt keine Tarifverträge haben etwa SAP, die Deutsche Börse, der Wohnungskonzern Vonovia oder der Onlinehändler Zalando: »Tendenzen zur Aufweichung der Tarifbindung seien aber selbst in lange etablierten, milliardenschweren Konzernen unübersehbar«, betonen die Wissenschaftler Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth und Malte Lübker.⁸

Ein Grund für die sinkende Zahl der Tarifverträge liegt in den rechtlichen Vorgaben bei Arbeitskämpfen: Gerade das Streikrecht wird durch Gerichtsentscheidungen radikal eingeschränkt, Streiks ohne langwierige Verhandlungen mit Unternehmen im Vorfeld werden als unrechtmäßig bemängelt. Nach einer uralten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus den 50er Jahren rechtfertigt die Teilnahme an einem sogenannten wilden Streik den Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Geprägt wurde die Rechtsprechung durch den BAG-Vorsitzenden Hans Carl Nipperdey, der im faschistischen Deutschland den auflagenstärksten Kommentar zum »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« verfasste. Mit dem Inkrafttreten dieses von Nipperdey begrüßten Gesetzes wurde 1934 im Betrieb das Führerprinzip eingeführt, wonach der Vorgesetzte als Betriebsführer die absolute Befehlsgewalt hat und die Belegschaft zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet ist.

»Nipperdey hat das deutsche Arbeitsrecht vor 1949 wie danach als Wissenschaftler, Funktionär und Richter durch außerordentliche juristische Kompetenz und geschickte Einflussnahme bis heute geprägt wie sonst wohl kein anderer Arbeitsrechtler«, sagt Professor Ulrich Preis von der Universität Köln.⁹ Dem Arbeitsrecht merkt man diese »geschickte Einflussnahme« bis heute an.

Anmerkungen

1 www.tagesschau.de/wirtschaft/erwerbstaetige-104.html

2 www.igmetall.de/service/ratgeber/kuendigung-aufgrund-und-waehrend-krankheit

3 www.merkur.de/leben/karriere/arbeitgeber-prognose-kuendigung-arbeit-krankheit-30-tage-arbeitnehmer-arbeitsgerichte-urteil-zr-91930960.html

4 https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-3/wochenendarbeitl.html

5 www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-entgelttransparenzgesetz-49541.htm

6 LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 14.09.2021 - 2 Sa 26/21

7 www.verdi.de/++file++67580df0f3f4ea46b65811e9/download/verdi_news_17_2024.pdf

8 www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-schlechte-vorbilder-55198.htm

9 bilder.deutschlandfunk.de/09/c6/76/1f/09c6761f-c266-4f36-9370-3a20155c84b1/manuskript-den-unternehmern-treu-ergeben-100.pdf

Marcus Schwarzbach schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. August 2023 darüber, wie Manager in einem »Durchmarsch der Unternehmen« die Digitalisierung vorantreiben.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Gegenstand des Aufrufs: Großdemonstration gegen Rassismus und di...
    09.01.2025

    Abmahnung nach Demoaufruf

    Arbeitsgericht gibt Freier Universität Berlin recht: Zusammenhang zwischen prekären Beschäftigungsverhältnissen und »Rechtsruck« sei Schmähkritik
  • Kolleginnen und Kollegen an dieser Hochschule sollten genau auf ...
    02.08.2021

    Grob verrechnet

    Verdi-Betriebsgruppe: Freie Universität Berlin enthält Beschäftigten seit Jahren tarifliche Zuschläge vor
  • Ein branchenübergreifender, bundesweiter Kampf um Entlastung und...
    03.06.2021

    Interessierte Selbstgefährdung

    Öffnungsklauseln und »Transformationsgeld« sind trügerisch. Kämpferische Antworten aus den Gewerkschaften bleiben meist aus. Zur fortgesetzten Aushöhlung von Tarifverträgen

Regio: