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Aus: Ausgabe vom 11.02.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Soziale Bewegung

Kolumbien im Bilderstreit

Tausende solidarisieren sich nach Entfernung einer Wandmalerei, die den Kampf um Erinnerung und Wahrheit symbolisierte
Von Sara Meyer, Bogotá
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»Las cuchas tienen razón« (Die Alten haben recht). Mural in Bogotá

Die Straßen Kolumbiens sind seit Jahren Leinwände, auf denen Geschichten von Schmerz, Widerstand und Hoffnung sichtbar gemacht werden. Wandgemälde und Graffiti erzählen von den Greueltaten des bewaffneten Konflikts und den Forderungen der Opfer nach Gerechtigkeit. Doch diese künstlerischen Ausdrucksformen geraten immer wieder ins Visier staatlicher Zensur – so auch jüngst in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens.

Unter dem Slogan »Las cuchas tienen razón« (Die Alten haben recht) hatten Künstlerinnen und Künstler sowie Mitglieder des Kollektivs »Mujeres Caminando por la Verdad« (Frauen, die für die Wahrheit gehen) Mitte Januar ein Wandgemälde geschaffen. Es ehrte die Mütter, die seit Jahrzehnten für die Aufklärung des Schicksals ihrer während des bewaffneten Konflikts verschwundenen Töchter und Söhne kämpfen. Zentraler Bestandteil des Gemäldes war das Porträt von Margarita Restrepo, einer Mutter, die unermüdlich nach ihrer verschwundenen Tochter sucht. Weniger als 24 Stunden nach seiner Fertigstellung wurde das Wandbild auf Anordnung des rechten Bürgermeisters von Medellín und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Federico Gutiérrez übermalt.

Akt der Zensur

Die Begründung des Bürgermeisters: »Wir respektieren und unterstützen künstlerische Ausdrucksformen, aber der öffentliche Raum gehört allen, und wir müssen ihn sauber und schön halten.« Diese Worte sorgten für Empörung. Kritiker werfen Gutiérrez vor, den Schmerz der Opfer zu verharmlosen und deren Kampf um Wahrheit zu behindern. Die progressive Senatorin María José Pizarro erklärte: »Das Gesetz erkennt die Arbeit der Suchenden an und beinhaltet symbolische Wiedergutmachung. Diese Form der Kunst ist bedeutend.« Der Vater der 46jährigen Politikerin war ebenfalls ermordet worden, als sie ein Kind war; die Tat ist bis heute straflos geblieben.

Der Vorfall reiht sich in eine Reihe von Zensurmaßnahmen ein, die den Eindruck vermitteln, dass kritische Stimmen systematisch ausgelöscht werden sollen. Bereits 2019 wurde in Bogotá das bekannte Wandgemälde »¿Quién dio la orden?« (Wer gab den Befehl?) entfernt, das die Verantwortlichkeit hochrangiger Militärs für außergerichtliche Hinrichtungen thematisierte. Diese Praxis setzt sich fort: Ein weiteres Wandgemälde in Medellín mit der Aufschrift »Nos están matando« (Sie töten uns), das 2020 von mehr als 80 Künstlern geschaffen worden war, wurde zur Jahreswende übermalt.

Die Entfernung des Wandgemäldes »Las cuchas tienen razón« löste landesweite Proteste aus. In Bogotá, Cali, Bucaramanga und vielen weiteren Städten wurden in den vergangenen Wochen neue Wandgemälde geschaffen, die die Botschaft der Mütter unterstützen; gerade erst wurde die Parole auch in Berlin im dortigen Mauerpark großflächig an eine Wand gemalt. Auch in New York solidarisierten sich Kolumbianer mit den Opfern der jahrzehntelangen Gewalt und gingen mit Plakaten auf die Straßen. In sozialen Netzwerken verbreiteten sich Bilder von Demonstranten mit Schildern, auf denen der Satz »Las cuchas tienen razón« zu lesen war. Gegner der Bewegung haben die metergroßen Wandgemälde in Bogotá inzwischen mit antikommunistischen Sätzen und Beleidigungen übersprüht. Das zeigt, wie polarisiert die Debatte um die Suche nach Wahrheit in Kolumbien ist.

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Das übermalte Mural in Bogotá

Kunstkollektive reagierten mit neuen Aktionen. Das Kollektiv »Fuerza y Graffiti« schrieb: »Die Kunst hält nicht den Mund«, und malte ein neues Wandbild an die Stelle eines zensierten Graffitis. Die Reaktionen zeigen, dass diese Kunstwerke nicht nur Erinnerungsorte sind, sondern auch zu politischen Statements werden, die die Gesellschaft zum Nachdenken anregen sollen.

Ein Ort des Schmerzes

La Escombrera in Medellíns berühmter Comuna 13 gilt als eine der größten illegalen Massengrabstätten Kolumbiens. Während der Militäroperation »Orión« im Jahr 2002, die gegen aufständische Gruppen gerichtet war, verschwanden zahlreiche Menschen gewaltsam. Menschenrechtsorganisationen und die Gruppe »Mujeres Caminando por la Verdad« fordern seitdem Aufklärung. Im Dezember 2024 wurden erstmals Skelettreste gefunden, ein Meilenstein in der Arbeit der Suchenden.

Das Wandgemälde »Las cuchas tienen razón« bezog sich auf diesen Fund und kritisierte zugleich die Verantwortung des Staates und prominenter politischer Akteure wie des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Die Zensur des Wandbildes wurde von den Betroffenen als erneute Viktimisierung verstanden. Margarita Restrepo, die darauf porträtiert war, erklärte: »Die Entfernung des Wandbildes ist nicht nur eine Beleidigung für uns Mütter, sondern auch ein Versuch, unsere Geschichte auszulöschen.«

Die Kontroverse um das Wandgemälde offenbart tiefgreifende gesellschaftliche Spaltungen. Während die einen die Nutzung des öffentlichen Raums für künstlerischen Protest verteidigen, sehen andere darin eine Störung der öffentlichen Ordnung. Der bewaffnete Konflikt und seine Folgen bleiben ein sensibles Thema, das in der kolumbianischen Gesellschaft für Spannungen sorgt.

Die Entfernung des Wandgemäldes wirft grundsätzliche Fragen über die Rolle von Kunst und Erinnerung auf. Kann eine Gesellschaft, die die Schrecken ihrer Vergangenheit verdrängt, jemals Frieden finden? Die Mütter von La Escombrera und ihre Unterstützer glauben fest daran, dass die Antwort auf diese Frage im Wissen über das Geschehene liegt. Sie kämpfen weiter – mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrer unermüdlichen Suche nach Gerechtigkeit und sind, wie die vergangenen Tage zeigen, nicht allein.

Hintergrund: Muralismo

In den Straßen Lateinamerikas erzählen Wände Geschichten, die politische Botschaften vermitteln oder Erinnerungen an Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen wachhalten. Wandbilder (Murales) sind nicht nur Kunstwerke, sondern auch ein Instrument des Widerstands und der gesellschaftlichen Kommunikation. Besonders im 20. Jahrhundert erlebte diese Kunstform ihre Wiederbelebung, beginnend in Mexiko.

In den 1920er Jahren gründeten Künstler wie Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros den »Movimiento Muralista Mexicano«. Ihre Wandbilder waren mehr als Dekoration: Sie sollten das Volk erreichen, gesellschaftliche Missstände anprangern und das kollektive Gedächtnis der mexikanischen Revolution bewahren. Diese Wandkunst wurde ein starkes Medium der Wertschätzung indigener Kultur und sollte soziale Ungleichheiten ins Gespräch bringen. Ihre Wirkung ging über Mexiko hinaus und fand in den USA und Europa Anhänger. Während der »Großen Depression« in den USA wurde diese Form der Kunst von der Arbeiterbewegung aufgenommen, und während der Studentenbewegung 1968 in Europa wurde sie auch dort politisch relevant.

Wandkunst soll für alle zugänglich sein, auch für Analphabeten, und zum Nachdenken anregen. Wandbilder thematisieren soziale Kämpfe und fordern Veränderung, teils auch mit revolutionärem Charakter.

Neben Wandbildern sind auch Graffiti eine wichtige Form der Straßenkunst. Sie sind oft präg­nante gesellschaftskritische Kommentare, die weniger kunstvoll, aber ebenso wirkungsvoll sind. Graffiti und Wandbilder haben eine gemeinsame Funktion: als Protest, Kommentar und Anstoß zur Auseinandersetzung.

Trotz der Kommerzialisierung bleibt die politische Dimension der Wandkunst stark. Sie ist ein Werkzeug für sozialen Protest und politische Auseinandersetzung, das in vielen Städten der Welt sichtbar ist. Wandbilder sind mehr als Kunst – sie sind Ausdruck von Solidarität, Widerstand und ein unaufhörlicher Ruf nach Veränderung. (sm)

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