Antikolonialismus aus der Kurve
Von Mathias Dehne und Raphael Molter![12-13.jpg](/img/450/205337.jpg)
Unverständnis machte sich im Herbst 2023 in Deutschland breit, als die Ultras der »Green Brigade« des Fußballklubs Celtic Glasgow ihre bedingungslose Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand bekundeten und für ein freies Palästina eintraten. Die Gruppe erklärte: »Celtic wurde aus einer Hungersnot und Unterdrückung geboren, ein Produkt der Kolonialherrschaft, des Todes und der Massenvertreibung von Menschen. Auf Grund dieser Geschichte sind die Celtic-Fans für ihr Mitgefühl und ihre Solidarität bekannt; sie stellen sich konsequent auf die Seite der Unterdrückten und Mittellosen.«
Historische Diskontinuität?
Der Journalist Ronny Blaschke fragte daran anknüpfend in der Süddeutschen Zeitung vom 24. Oktober 2023: »Wie deutlich dürfen sich Fans in der politisch aufgeladenen Diskussion positionieren?« Er stellte diese Frage, nicht ohne selbst von den »angeblich ›Unterdrückten‹« (gemeint sind die Palästinenser) oder der »angeblichen Apartheid in Israel« zu schreiben und somit Position zu beziehen. Dabei sollte ein solches Unverständnis nach mehr als einem Jahr Krieg gegen Gaza, nach zahlreichen belegten Vorwürfen des Genozids und den Haftbefehlen durch die internationale Gerichtsbarkeit längst erschüttert sein. Aber im Dienste der »Staatsräson« werden in der deutschen Medienlandschaft weiterhin politisch einseitige Einordnungen vorgenommen.
So versuchte der während des irischen Bürgerkriegs (1968–1998) für anderthalb Jahre im Norden Irlands sesshafte Dietrich Schulze-Marmeling in der antideutschen Wochenzeitung Jungle World vom 16. November 2023 der »Green Brigade« eine Geschichtslektion zu erteilen. Die Gruppe – seiner Auffassung nach »antisemitische Antifaschisten« – berufe sich unkritisch auf Seán South, einen ehemaligen Freiwilligen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), indem sie im Stadion das ihm gewidmete Lied »Seán South of Garryowen« singe, warf er ihnen vor. Wie viele Gesänge der Celtic-Fans ist dieses Lied Allgemeingut des Genres der Irish Rebel Music und wurde von vielen Bands gecovert – so auch von den linken Rockern von The Irish Brigade. Das Lied kommt nicht ohne gestalterische Freiheiten aus. So kam Seán South nicht aus dem Stadtteil Garryowen, sondern einer anderen Ecke der irischen Stadt Limerick, die zur damaligen Zeit immer noch eine republikanische Hochburg war.
South ließ am Neujahrestag 1957 infolge eines Angriffs auf die Kaserne der Royal Ulster Constabulary (die Polizei im Norden Irlands, die erst im Zuge des Karfreitagsabkommens 1998 aufgelöst wurde) in Brookeborough neben Fergal O’Hanlon sein Leben. Der Angriff war Teil der Operation »Harvest« der IRA. Der Politikwissenschaftler Kacper Rekawek erläutert in einem Beitrag, dass die Operation auch Inspiration in antikolonialen Kämpfen in Algerien oder Zypern fand.¹ Mit »Seán South of Garryowen« wurde einem Märtyrer der Operation ein Lied gewidmet, das ebenso auf den Kasernenangriff als Ganzes und weitere beteiligte IRA-Freiwillige Bezug nimmt.
South selbst war ein überzeugter konservativer Katholik und gründete in Limerick einen lokalen Ableger der Integristenorganisation »Maria Duce«. Dieser können zweifellos Antikommunismus, religiös motivierte antisemitische Ressentiments und das Verbreiten von Verschwörungsmythen attestiert werden.² Bloß sagt dies alles wenig über South als IRA-Freiwilligen im Zusammenhang mit der Operation vom Neujahrestag 1957 aus. Noch weniger vermag es über die mehrheitlich für Antifaschismus und Antirassismus stehenden Fans und Ultras des schottischen Erstligisten Auskunft zu geben. South wird in Glasgow wie auch in anderen Stadien für das besungen, wofür die gesamte Operation »Harvest« stand: den antikolonialen Kampf gegen das britische Empire.
Anders jedoch die Schlussfolgerung von Schulze-Marmeling. Die »Apartheidthese« erfülle nur einen »propagandistischen Zweck«: »In der Geschichte des irischen Republikanismus findet sich so ziemlich alles – Nationalismus und diverse Spielarten des Sozialismus: ›christlicher Sozialismus‹, ›gälischer Sozialismus‹ und Marxismus-Leninismus; des weiteren Antisemitismus und Antifaschismus, Kollaboration mit Nazideutschland und sogar Prozionismus.« In Summe mache dies aus seiner Sicht scheinbar die propalästinensische Haltung der Celtic-Ultras – anders als ihrerseits ausdrücklich dargestellt – zu keiner historischen Kontinuität zweier verbundener antikolonialer Kämpfe in Irland und Palästina.
Neben Seán South macht Schulze-Marmeling dies an einem weiteren Beispiel fest: dem Celtic-Patron Michael Davitt, der dem frühen, liberalen Zionismus positiv gegenüberstand, was Publikationen aus seiner Feder bezeugen. Diese Fallbeispiele stellen jedoch die propalästinensische Solidarität aus dem irisch-republikanischen Lager noch lange nicht auf wacklige Füße oder markieren gar eine Diskontinuität. Man denke nur an Ronald Storrs, bis 1926 britischer Gouverneur von Jerusalem, der in seinem Buch »Orientations« das implizite Ziel der zionistischen Kolonisierung Palästinas ausrief. Dieses bestand darin, »für England ›ein kleines loyales jüdisches Ulster‹ (also ein Ebenbild Nordirlands; Anm. d. A.) in einem Meer von potentiell feindlichen Arabern zu bilden«.
Verbundene Kämpfe
Den irischen Nationalismus mit dem irischen Republikanismus gleichzusetzen ist undifferenziert.³ Die referierte historische Kontinuität zweier antikolonialer Kämpfe geht in ihren Bezügen auf den linken – sozialistischen – irischen Republikanismus zurück. Diese Kontinuität findet wesentliche Bezugspunkte im Osteraufstand 1916 und dem anschließenden Irischen Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921. Eine Schlüsselfigur des Osteraufstandes war der aus Schottland stammende James Connolly, ein wichtiger Vordenker des sozialistischen Republikanismus, der den Marxismus auf die damaligen irischen Verhältnisse bezog. Doch auch Patrick Pearse ist zu nennen. Pearse verlas die Proklamation der Republik Irland am ersten Tag des Osteraufstandes. Laut Ronan Burtenshaw und Seán Byers war diese Proklamation zwar rechts des sozialistischen Fabianismus anzusiedeln, »jedoch sah sie ein unabhängiges Irland vor, das der Beteiligung von Frauen, der sozialen Gleichheit und der Volkssouveränität mehr Platz einräumen sollte«.⁴ Im übrigen war Seán South ein großer Bewunderer von Patrick Pearse, wobei die Bewunderung schon fast an Verehrung grenzte. So versuchte South, sein Leben ganz nach Pearses Prinzipien zu gestalten. Wie Schulze-Marmeling lapidar schreibt: »Alles ein bisschen kompliziert.«
Für die Ultras der »Green Brigade« ist das Erbe des Kolonialismus entscheidend, und sie ziehen richtigerweise die Schlussfolgerung eines gemeinsamen antikolonialen Kampfes in Irland und in Palästina. Dies motiviert sie auch über die symbolische Solidarität in den Stadien hinaus zur Unterstützung der Palästinenser, beispielsweise im Kontext einer Fußballakademie in Bethlehem (jW berichtete). Doch nicht nur die Kolonialgeschichte Irlands ist relevant für propalästinensische Solidarisierungen. So verwies Ronny Blaschke in einem Beitrag für das ND vom 6. November 2023 auch auf arabische Ultras, die sich mit Palästina solidarisieren.
Arabische Ultras
Im Hinspiel der CAF Champions League in Tunis trafen am 18. Mai 2024 Espérance Tunis und Al Ahly Kairo aufeinander. Die »Ultras L’Emkachkhines« von Espérance Tunis nutzten dieses Spiel für eine mehrteilige englischsprachige Choreographie mit klarer politischer Botschaft. In ihrer Fankurve im heimischen Stade Olympique »Hammadi Agrebi«, der Curva Sud, war zunächst ein Vorhang im Stile der Apartheidmauer zu sehen, die die palästinensischen Autonomiegebiete und das israelische Gebiet separiert. Die Mauer zierte ein Graffito: »Freies Land … in einer besetzten Welt – hier sind unsere edlen Werte.«
Zudem wurden Graffiti des Künstlers Banksy abgebildet, die dieser in der illegal besetzten Westbank an die Mauer gesprüht hatte. Auf der Gegengerade des Stadions wurde ein Transparent mit der Aufschrift »Steh auf der richtigen Seite der Geschichte« am Dach des weiten Runds heraufgezogen. Abgebildet waren Länder sowie (politische) Einflussgrößen, die für Gaza einstanden oder den Menschen dort Gehör verschafften. Darunter waren beispielsweise der kolumbianische Präsident Gustavo Petro oder ein stilisiert dargestelltes Mitglied der »Green Brigade« zu sehen.
Im zweiten Akt der Choreographie wurde der Vorhang in Form der Apartheidmauer heruntergelassen. Zum Vorschein kamen Eigenschaften »Made in Gaza«, wie ein weiteres Transparent zeigte: »Unausgesprochene Menschlichkeit«, dazu ein Kämpfer der Kassam-Brigaden mit der Geisel Yocheved Lifshitz. »Unerschütterlicher Glaube« mit Khaled Nabhan, der seine durch einen israelischen Luftangriff im November 2023 getötete dreijährige Enkelin Reem in den Händen hält, »die Seele seiner Seele«, wie er sie nannte. Dreizehn Monate später wurde auch Khaled Nabhan getötet, wie Al-Dschasira am 17. Dezember 2024 berichtete.
Am Schluss wurde »Unverhüllter Mut« zusammen mit der Ärztin Amira Al-Assouli gezeigt. Sie trägt einen Verwundeten in ihren Armen. Es handelt sich erneut um Bilder, die um die Welt gingen. Wie The Palestine Chronicle (11.2.2024) berichtete, rannte Al-Assouli trotz tagelanger Belagerung des Nasser-Krankenhauses im Süden des Gazastreifens durch Kräfte der israelischen Besatzungsarmee und trotz Beschusses durch Scharfschützen in einen anderen Bereich des Krankenhauses, um einen jungen Mann zu retten. Dieser war von einem israelischen Scharfschützen angeschossen worden und blieb blutend alleine zurück.
Die Choreographie war Teil einer Serie von Solidaritätsaktionen der Ultras von Espérance mit den Palästinensern. Ein Mitglied der »Ultras L’Emkachkhines« ordnete die Choreographie in einer sehenswerten Dokumentation auf dem Youtube-Kanal Mentalità ein: »Wir wollten (…) zeigen, dass es sich nicht nur um eine Sache für die Araber und die Muslime handelt, sondern vor allem um eine humanitäre Angelegenheit.«⁵
Als sich der Hamas-Angriff am 7. Oktober 2024 zum ersten Mal jährte, zeigten Ultras der »Wehdaty Group 12« und »Ultras Green Knights« von Al-Wehdat SC aus Jordanien ein Transparent, auf dem Hamas-Chef Jahja Sinwar abgebildet war. Auf diesem ist zu sehen, wie er die Balfour-Deklaration zerreißt. In der Balfour-Deklaration erklärte sich Großbritannien mit den Zielen des Zionismus einverstanden, Palästina zu einer Heimstätte für das jüdische Volk zu machen. Auf einem Spruchband war zu lesen: »Schluss mit den Vereinbarungen, es lebe die Stimme des Kampfes!«
Der Verein Al-Wehdat SC hat seine Ursprünge in dem gleichnamigen Flüchtlingslager, das 1955 südöstlich der jordanischen Hauptstadt Amman errichtet wurde. Die Greuel der ethnischen Säuberung Palästinas im Zuge der Nakba hatten die palästinensische Bevölkerung fragmentiert und über den ganzen Globus verteilt. Im Zuge des sogenannten Schwarzen September, als der jordanische König Hussein II. gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) vorging, erlebten die palästinensischen Flüchtlinge in Jordanien ein weiteres Massaker. Wieder ist es ein koloniales Erbe, das dem Handeln zugrunde liegt.
Marokko
Die Reise führt uns weiter nach Marokko. Marokko ist viel an der Normalisierung der Beziehungen zu Israel gelegen (jW berichtete). Dies ruft großen Widerspruch in der Bevölkerung hervor. Marokkos Fankurven indes sind voll von propalästinensischen Solidaritätsbekundungen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. In einem Interview mit jW erzählt ein Mitglied der »Ultras Sharks Family 2006« von Olympique Club de Safi: »Als Ultragruppe stoßen wir oft auf strenge Beschränkungen, wenn wir palästinensische Flaggen oder Transparente zur Unterstützung Palästinas in die Stadien bringen. In vielen Fällen werden solche Darstellungen mit der Begründung, sie seien ›politisch‹ und daher in einem sportlichen Kontext nicht erlaubt, gänzlich verboten. Das Sicherheitspersonal kann die Fahnen und Transparente am Eingang konfiszieren. Bei diesen Maßnahmen wird eindeutig mit zweierlei Maß gemessen, da andere Flaggen und Botschaften oft ohne Probleme zugelassen werden.«
Der Ultrà betont aber: »Trotz dieser Einschränkungen betrachten wir das Zeigen palästinensischer Flaggen als ein Symbol der Solidarität und Gerechtigkeit, das über die reine Politik hinausgeht. Für uns geht es darum, an der Seite der Unterdrückten zu stehen und unsere Plattform zu nutzen, um ihren Kampf zu verstärken, auch wenn dies bedeutet, dass wir mit Verboten oder Strafen rechnen müssen.« Die Ausführungen enden nahezu gleichlautend wie das Kommuniqué der »Green Brigade«.
Die Fankurven in Ländern des globalen Südens rufen die Weltgemeinschaft dazu auf, ihre Sichtweisen zu ändern, doch sie erhalten kein Gehör. Der Auftakt in das Fußballjahr 2025 mutet daher beinahe ironisch an: Während der Begegnung in der CAF Champions League zwischen FAR Rabat (Marokko) und Maniema Union (DR Kongo) am 4. Januar entrollten die »Ultras Black Army 2006« von FAR ein Transparent, auf dem die palästinensische Nationalfahne zu sehen war. Darauf eine mahnende Botschaft im Sprech proisraelischer Kundgebungen: »Nie wieder ist jetzt in Gaza«. Das Ganze steht nicht etwa auf arabisch dort geschrieben, sondern auf deutsch. Wie viel deutlicher müssen die Forderungen noch formuliert werden?
All das steht in starkem Widerspruch zu einem Begriff von Sport, wie er hierzulande gelebt und praktiziert wird. Fußball gilt als Freizeitvergnügen, als letzte Bastion der Ruhe vor den Wirrungen des Arbeitsalltags, als »zweckfreies Tun um seiner selbst willen«, wie es der Begründer der modernen Sportwissenschaft, Carl Diem, so schön formulierte.⁶ Auch wenn die herbeiphantasierte »Autonomie des Sports« offenkundig eine Illusion ist, scheinen sich in Deutschland immer noch viele an der Mär des neutralen und unpolitischen Sports zu erfreuen. Die Trennung zwischen Arbeitswelt und Freizeitvergnügen lässt sich jedoch nur so lange aufrechterhalten, wie man das zweckfreie Spiel als solches für sich begreifen mag.
Selbstzweck kann auch Sport nicht sein, ist er doch ein gesellschaftlicher Vorgang als Bewegung von Menschen und dementsprechend letztlich von der ökonomischen Entwicklung und den Produktionsverhältnissen bestimmt. Der Sportsoziologe Gero Rigauer hielt entsprechend fest, dass die »rationale Planung und Technisierung der Produktion von Waren und Dienstleistungen«⁷ auch Einfluss auf Bereiche nimmt, die nur mittelbar mit der ökonomischen Struktur in Verbindung stehen. Kurzum: Der Imperialismus vermittelt die Substanz, Form und Entwicklung des zeitgenössischen Sports.
Mit Blick auf den Weltfußballverband FIFA bedarf es folglich einer Auseinandersetzung mit dessen »Neutralität«, die als Begründung willkürlich zum Einsatz kommt: So wird die Suspendierung russischer Athleten und Vereine im Kontext des Ukraine-Kriegs als Sachzwang begründet, im Falle Israels geschieht jedoch nichts Vergleichbares. Zwar gibt es bereits seit 2015 eine FIFA-eigene Kontrollkommission, die vor allem die israelischen Fußballvereine in Siedlungen auf palästinensischem Gebiet im Visier hat, doch ist nach israelischem Druck keine Entscheidung durch den FIFA-Rat erfolgt. Man wolle »politisch neutral« bleiben, heißt es.⁸
Nicht nur Menschenrechtsorganisationen werfen der FIFA deshalb seit Jahren Doppelmoral vor, auch Wilfried Lemke, damaliger UN-Sonderberater für Sport im Dienst von Entwicklung und Frieden, sprach sich für eine Suspendierung des israelischen Fußballverbands (IFA) aus, sollte dieser nicht die Vereine aus den Siedlungen ausschließen. Der palästinensische Fußballverband (PFA) hatte die FIFA vergangenes Jahr in Reaktion auf den Genozid in Gaza und die Gewaltwelle in der Westbank aufgefordert, Sanktionen zu verhängen. Passiert ist nichts.
Tatenlose FIFA
Warum macht die FIFA nichts? Weil sie nicht einfach Weltverband eines unabhängigen Bereichs ist, sondern in einem bestimmten sozialen Feld agiert, in dem alle Akteure einem ständigen Anpassungsdruck unterliegen. Nicht nur der Begriff von Sport, sondern auch die Praxis erlebt eine Transformation: Sport wird zum zweckgebundenen Vehikel für Vereine, Verbände, Staaten. Dementsprechend sollte die Nichtsanktionierung des IFA nicht überraschen, zeigt sich darin doch exemplarisch die politische Instrumentalisierung des Fußballs durch konkrete politische und ökonomische Machtinteressen.
Anders als bei der Suspendierung Russlands existiert innerhalb der FIFA kein Konsens über den Umgang mit Israel. Nichtsdestotrotz ist die Sonderstellung des israelischen Fußballs immer noch unangetastet. Erinnert sei hier daran, dass Israel an UEFA-Wettbewerben teilnimmt, nachdem der Verband bereits 1974 wegen des Boykotts asiatischer Nationalmannschaften und Vereine aus der asiatischen Konföderation ausgeschlossen worden war. Die 1994 durchgeführte Aufnahme in die UEFA bestätigt seitdem eine Sonderstellung, die weit über den Fußball hinaus als Symbol für die westliche Unterstützung Israels angesehen werden kann. Mit der konsequenten Stärkung dieses Status quo findet auf FIFA-Ebene auch eine Stabilisierung der Machtverhältnisse zugunsten der westlichen Dominanz auf Funktionärs- wie Sponsorenebene statt.
Die UEFA ist der sportlich und ökonomisch mächtigste Block im Weltfußballverband, die mächtigsten Nationalverbände (England, Deutschland, Spanien, Frankreich) stellen den Großteil des FIFA-Führungstableaus und nehmen maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der politischen Neutralität. Folge dessen ist unter anderem die Übernahme von NATO-Positionen bei Konflikten, die sich neben konkreten Haltungen zu Nationalverbänden (siehe Russland) auch in der Dominanz »westlicher Werte« in der hauseigenen Neutralität zeigt.
Die Berufung der FIFA auf Neutralität dient folglich der Wahrung von politischen Machtverhältnissen und verhindert Maßnahmen, die den westlich dominierten Status quo gefährden könnten. Die resultierende Praxis einer selektiven Sanktionspolitik führt im Gegenzug zur Bereitschaft vieler Fans, sich politisch zu positionieren. Die Solidarität mit Palästina ist auch eine Reaktion auf die offizielle Politik des Weltverbands und artikuliert eine antirassistische und antikoloniale Haltung. Israels Besatzungspolitik und der Krieg in Gaza zerstören Fußballplätze, Trainingsgelände und die Existenzen von Fußballern und Fans. Solche Eingriffe in den Fußballbetrieb sind sanktionswürdig. Die politische Aktivität von Fans, die Rebellion auf den Rängen, ist eine Reaktion auf die Tatenlosigkeit der FIFA.
Mit dem panafrikanischen marxistischen Historiker Walter Rodney lässt sich in diesem Zusammenhang das Fehlen einer dekolonialen marxistischen Perspektive konstatieren. Diese Perspektive würde es ermöglichen, den intellektuellen eurozentrischen Elfenbeinturm zu verlassen und die Solidarität mit Kämpfen des globalen Südens als einen antikolonialen Weg zur Selbstemanzipation der Massen zu verstehen. Ein solches Verständnis erkennt den Kolonialismus als Bedingung für die Entwicklung des Kapitalismus in sein jetziges Stadium des Imperialismus an.⁹
Diese Kämpfe werden für den Fußballsport am Beispiel der propalästinensischen Solidarität von Ultras in Tunesien, Jordanien oder Marokko, also mit gleichermaßen kolonialem Erbe wie das der Celtic-Ultras, sichtbar. Es fehlen konkrete Schlussfolgerungen für Europa. Eine dekoloniale Perspektive auf Israels Krieg gegen Gaza und die Westbank kann nur eine klare Forderung an die Verbände beinhalten, Israel so lange vom Weltfußball auszuschließen, bis es das Völkerrecht einhält. Stein des Anstoßes werden auch hier nicht die Verbände selbst sein, sondern jene aktiven Fans und Vereine, die auf Veränderungen drängen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Kacper Rekawek: »The Last of the Mohicans?« The IRA’s »Operation Harvest« in an International Context. In: Terrorism and Political Violence, 28 (2016), No. 3, S. 435–451
2 Enda Delaney: Anti-communism in Mid-Twentieth-Century Ireland. In: The English Historical Review 126 (2011), No. 521, S. 878–903
3 Vgl. Florian Osuch: In Europa angekommen, Analyse & Kritik, 17.9.2024
4 Vgl. Ronan Burtenshaw, Seán Byers: Irlands unvollendete Revolution, Jacobin, 5.4.2021
5 Mentalità (Hg.): Mentalità on the Road … CAF Champions League Final: Scenes 11–14, 13.11.2024, www.youtube.com/watch?v=Xi7ME9hXI4A
6 Carl Diem: Wesen und Lehre des Sports und der Leibeserziehung, Berlin 1960, S. 3
7 Bero Rigauer: Sport und Arbeit: Soziologische Zusammenhänge und ideologische Implikationen, Frankfurt am Main 1969, S. 7
8 Stellungnahme des FIFA-Rats zum Schlussbericht der FIFA-Kontrollkommission Israel/Palästina, 27.10.2017
9 Vgl. Ngugi wa Thiong’o: Vorwort. In: Walter Rodney: Dekolonialer Marxismus. Schriften aus der panafrikanischen Revolution, hg. v. Asha Rodney, Patricia Rodney, Ben Mabie und Jesse Benjamin, Berlin 2024, S. 10
Mathias Dehne schreibt zu Themen der Palästinasolidarität und Verbandskritik im Sport. Raphael Molter, Politikwissenschaftler, Mitglied des Instituts für Fankultur e. V., arbeitet u. a. zur materialistischen Fußballkritik. Veröffentlichte 2022 das Buch »Friede den Kurven, Krieg den Verbänden« im Papyrossa Verlag.
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