»Das gibt es nur alle paar Jahrzehnte mal«
Von Nico Popp
Ein wenig hat es den Anschein, als sei Die Linke die Partei der Stunde. Die Umfragen weisen auf einmal einen Aufwärtstrend aus, es treten zahlreiche neue Mitglieder ein, in den Medien laufen beinahe täglich wohlwollende Berichte über eine Renaissance der Partei. Wie optimistisch sind Sie, dass das alles am Sonntag in einen ungefährdeten Einzug in den Bundestag mündet?
Wir sind da sehr optimistisch. Und es ist in der politischen Situation mit diesem gesellschaftlichen Rechtsruck auch wahnsinnig wichtig, dass es so ein Zeichen gibt. Was uns zuversichtlich macht: Wir haben immer noch jeden Tag einen neuen Mitgliederrekord. Täglich treten etwa 1.000 Menschen der Partei bei.
Wie ist der Mitgliederstand aktuell?
Heute stehen wir bei mehr als 91.000. Wir müssen jetzt zum zweiten Mal Mitgliedsausweise nachdrucken. Wir haben also gerade ziemliche Luxusprobleme. Die Stimmung ist euphorisch.
Auf welcher Grundlage hat sich denn die Stimmung in der Partei verändert? Wenn man vor zwölf oder 24 Monaten mit Mitgliedern gesprochen hat, dann war da fast unisono die Rede von Endzeitstimmung, Austritten in alle Richtungen, von Kreisverbänden, die keine Wahlkämpfe mehr stemmen können und dergleichen. Das ist gleichsam über Nacht anders geworden?
In der Tat haben sich viele Probleme in ihr Gegenteil verkehrt. Wo wir lange mit wegbrechenden Strukturen zu kämpfen hatten, müssen wir jetzt einen Ansturm bewältigen. Im Grunde ist die Hälfte der jetzigen Mitglieder neu in der Partei. Ein weiterer Faktor ist aber auch, dass die Partei wirklich zusammenarbeitet. Alle Landesverbände arbeiten zusammen, die Bundestagsgruppe und die Partei halten engen Kontakt. Wir spüren, dass wir, wenn wir an einem Strang ziehen, auch Themen wie den Mietendeckel setzen können.
Wo kommen die potentiellen Wähler her, die die Umfragewerte nach oben treiben? Es ist erst ein paar Monate her, da fuhr die Partei in Brandenburg, früher mal eine Hochburg bereits der PDS, bei der Landtagswahl katastrophale drei Prozent ein. Bei der Bundestagswahl 2021, als sie bundesweit unter fünf Prozent blieb, kam Die Linke in Brandenburg noch auf 8,5 Prozent. Kommen diese und andere ehemalige Wähler nun zurück? Oder sind das in der Hauptsache Wähler, die vorher noch nie Die Linke gewählt haben?
Auswerten werden wir das alles nach der Wahl. Aber wir wissen jetzt schon, dass darunter sehr viele von der Ampel enttäuschte SPD- und Grünen-Wähler sind. Scholz und Habeck sind im Grunde verbraucht, erscheinen nicht mehr als Alternative zu Merz und zur Union. Und ich habe zusätzlich den Eindruck, dass wir mit unserem Wahlkampf auch viele bisherige Nichtwähler erreichen. Und natürlich Erstwähler.
Mit ehemaligen Wählern kalkulieren Sie demnach nicht?
Ein Teil der alten Wähler kommt sicher wieder zurück. Das ist schon spürbar. Es melden sich viele Leute bei uns, von denen wir lange nichts mehr gehört haben. Aber den Ausschlag in den Umfragen geben vermutlich die zuvor genannten Gruppen.
Das Durchschnittsalter der vielen Neumitglieder liegt dem Vernehmen nach unter 30. Das ist korrekt?
Ja. Bei etwa 29 Jahren.
Das ist auffallend weit weg vom Durchschnittsalter der bisherigen Mitglieder, gerade im Osten. Wie verteilen sich diese Eintritte geographisch? Gibt es beispielsweise die Eintrittswelle im Osten in der Hauptsache in Universitätsstädten wie Leipzig, Dresden, Jena und Berlin? Oder findet das relativ gleichmäßig auch andernorts statt?
Vor allem die Westverbände haben ihre Mitgliederzahlen fast verdoppelt. Aber es ist gleichzeitig so, dass wir im Osten – erstmals seit vielen Jahren – unglaublich viele Neueintritte verzeichnen und unter dem Strich mehr Eintritte als Austritte haben. Das gab es letztmalig 2007 oder 2008, also unmittelbar nach der Gründung. Und da spielen auch Eintritte in kleineren Städten und im ländlichen Raum eine Rolle.
Wenn man mit langjährigen Mitgliedern spricht, dann konstatieren die oftmals mit auffälliger Übereinstimmung, dass – nunmehr beschleunigt – eine Art Austausch der Mitgliedschaft im Gange ist. Und regelmäßig ist das mit dem Hinweis auf politische Implikationen verbunden. Aktuell schrieb uns eine Genossin aus Hamburg, in die Partei drängten Mitglieder, »die ich nie in unserer Partei erwartet hätte«, darunter »Leute, die für Waffenlieferungen sind«. Mitglieder, die das anders sehen, würden »verspottet und verdrängt«. Wie nehmen Sie das wahr? Wird diese Eintrittswelle als politische Herausforderung verstanden?
Es ist völlig klar, dass das eine Herausforderung ist. Die Linke ist, was das Durchschnittsalter angeht, von einer der ältesten Parteien zu einer der jüngsten Parteien geworden. Mein Eindruck ist, dass da eine Bewegung in der Partei ankommt, und so etwas gibt es nur alle paar Jahrzehnte mal. Ich rechne fest damit, dass diese neuen Mitglieder auch eine ganze Menge neuer Positionen mitbringen. Aber ich denke nicht, dass das in der Friedensfrage dramatische Verschiebungen zur Folge hat. Wir hatten im Oktober den Parteitag in Halle, und da war mindestens die Hälfte der Delegierten relativ neu in der Partei, also innerhalb der letzten fünf Jahre beigetreten. Es gab da Abstimmungen zu dem Thema, bei denen es keine großen Verschiebungen gab.
Welche politischen Ursachen hat der Rückenwind, den die Partei verspürt? Ist das eine spezifische politische Konstellation im Wahlkampf, oder hat das vor allem mit Veränderungen im politischen Ansatz zu tun?
Die Geschlossenheit der Partei ist ein entscheidender Faktor. Ein weiterer Faktor ist nach dem Paktieren von Merz mit der AfD natürlich unser Antifaschismus. Und wesentlich ist, dass wir mit dem Thema Mieten und Teuerung auf den Gegensatz von oben und unten fokussieren. Das kommt im Wahlkampf der anderen Parteien nicht vor. Dort will man nur über Migration reden. Und das ist eine Ablenkung von den wirklichen Problemen.
Diese Themen hat die Partei, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, seit Jahren. Was macht die jetzige Parteiführung anders als die Parteiführungen vergangener Jahre?
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Es ist immer eine Frage der Glaubwürdigkeit. Wenn man sich als Partei jahrelang nur streitet und einen großen Teil der Energie in innere Kämpfe investiert, ist die irgendwann weg. Und jetzt kommen zwei Momente zusammen. Einmal das Scheitern der Ampel, von deren relativ fortschrittlichem Koalitionsvertrag nichts bei den Menschen angekommen ist. In dieser Lage sind wir nun als Partei mit einer geeinten Parteiführung sichtbar, die die Anliegen der Menschen nach vorne stellt. 2017 und danach war die Partei im Grunde in Parteivorstand und Bundestagsfraktion geteilt.
Sie halten daran fest, dass die Ursache der Parteikrise der innerparteiliche Streit war? Und nicht die politische Linie der Parteiführung? Etwa im Bundestagswahlkampf 2021, als man sich SPD und Grünen als Juniorpartner aufdrängte.
Es ist auf jeden Fall eine Voraussetzung des Erfolgs, dass wir interne Fragen jetzt intern klären und bei den wichtigen Themen einig sind.
Nehmen wir mal an, die Partei zieht in den nächsten Bundestag ein: Welche politischen Herausforderungen kommen aus Ihrer Sicht in den nächsten Monaten auf die Partei zu? Welche Aufgaben stellt sie sich?
Es hängt viel davon ab, was für eine Regierung gebildet wird. Wenn es nur für Union, SPD und Grüne zusammen reicht, werden wir eine Art Fortsetzung der Ampel erleben. Das wird letztlich weiter die Rechten stärken. In so einem Szenario ist für uns ganz klar, dass wir die soziale Opposition sein müssen, dass wir sozialen Forderungen Gehör verschaffen. Sollte es eine Regierung aus Union und Grünen geben, ist mit Angriffen auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu rechnen. Und dann werden wir die Opposition dagegen organisieren.
Innenpolitisch beschäftigt viele Linke – insbesondere auch migrantische Linke – die Repression gegen die palästinasolidarische Bewegung. Kürzlich hat in Berlin der Regierende Bürgermeister höchstpersönlich gegen eine Veranstaltung mit der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese an der FU interveniert, und soeben wurde eine Veranstaltung, bei der Albanese und die Generalsekretärin von Amnesty International, Julia Duchrow, auftreten sollten, unter Polizeidruck verlegt. Sie wird, wenn die Polizei das nicht verhindert, kurzfristig unter dem Dach von jW stattfinden. Wie steht die Partei Die Linke zu diesen Entwicklungen?
Diese pauschale Kriminalisierung der Palästina-Solidaritätsbewegung lehnen wir ab.
Aktuell steht offenbar eine Verabredung zwischen den USA und Russland über einen Waffenstillstand in der Ukraine bevor. In der deutschen Debatte wird darauf vielfach mit Rufen nach einer Forcierung der Aufrüstung geantwortet. Wie argumentiert Ihre Partei dagegen?
Dieses Wettrüsten ist komplett irre. Wir lehnen diese Zwei-Prozent-, Drei-Prozent- und Fünf-Prozent-Ziele klar ab. Dieses Geld fehlt in Kitas, fehlt bei der Bahn, fehlt beim Umbau der Industrie. Was die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine angeht: Da erleben wir die Rückkehr eines Great Game, in dem Trump sagt, Putin kann den und den Teil der Ukraine haben, und Putin schaut dafür dann vielleicht weg, wenn sich Trump Grönland oder Panama nimmt. Das ist eine wahnsinnig gefährliche Entwicklung. Unserer Meinung nach gibt es einen Akteur, der sich um Friedensverhandlungen kümmern müsste, und das sind die UN.
Am vergangenen Freitag hat der Bundesrat eine Entschließung zum Ukraine-Krieg angenommen, in der für Waffenlieferungen und die Sanktionspolitik getrommelt wird. Die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Bremen, in denen Ihre Partei mitregiert, haben zugestimmt. Warum?
Die Partei lehnt Waffenlieferungen ab. Ich glaube, das war eine rein symbolische Abstimmung zum Jahrestag des russischen Angriffs. Wir sind jetzt an einem Punkt, wo endlich Gespräche über einen Waffenstillstand stattfinden. Und wir haben die Bundesregierung seit Jahren aufgefordert, endlich diplomatische Initiativen zu starten.
Richten sich solche Abstimmungen nicht genau gegen diese Forderung nach einer diplomatischen Verständigung?
Wichtig sind unsere politischen Forderungen, und solche symbolischen Abstimmungen im Bundesrat halte ich nicht für maßgebend.
Ihr Spitzenkandidat Jan van Aken hat AfD und BSW beim Parteitag im Januar als Kremlparteien bezeichnet. Lange sind in Deutschland Linke aus guten Gründen nicht auf die Idee gekommen, den Vorwurf des Landes- und Vaterlandsverrats gegen andere Parteien zu richten. Das war in der Bundesrepublik und auch davor eine Denunziation, die regelmäßig von rechts kam. Warum macht das nun der Kovorsitzende von Die Linke?
Das ist natürlich eine ziemlich überspitzte Formulierung. Es ging hier im Kern darum, dass wir uns unmissverständlich gegen jede Form des Imperialismus stellen.
Beim Parteitag in Halle im Oktober wurde ganz zum Schluss von den Delegierten eine Abstimmung über eine Solidarisierung mit dem sogenannten Berliner Appell gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland erzwungen. Sie haben damals interveniert und dazu geraten, auf diese Abstimmung zu verzichten, denn zum Beispiel Sie wüssten gar nicht, was in diesem Appell steht. Haben Sie sich inzwischen mit dem Inhalt vertraut machen können?
Direkt nach der Abstimmung. Und ich habe da gesehen, dass das eine vernünftige Sache ist. Die Delegierten wussten offensichtlich besser Bescheid als ich.
Spielt diese Raketenstationierung im Wahlkampf der Partei eine nennenswerte Rolle?
Es ist Bestandteil unserer Wahlstrategie und unseres Wahlprogramms, dass wir diese Raketenstationierung ablehnen.
Janis Ehling ist Bundesgeschäftsführer der Partei Die Linke
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Gegen die Wand
Was ist das für eine Partei, für die Abstimmungen im Bundesrat nicht so wichtig sind und nur als Symbolpolitik gesehen werden? Stellt sich für mich schon lange die Frage: Wieviel Marx ist noch in der Partei? Gibt es noch marxistische Positionen, auf die man sich beruft? Ich finde sie nicht. Leider kann man nicht sagen, »wir sind wieder bei Marx und unter seinem Banner«, wie es Rosa Luxemburg für die KPD stolz verkündete. Da hilft auch eine Verjüngung der Partei wenig, denn sie bringt, wie im Interview betont wird, neue Ideen ein, schön wäre es. Doch dies wird das marxistische Theoriedefizit nur noch verstärken, organisatorische Fragen können die Beschäftigung mit der Theorie nicht ersetzen. Es klingt gut, wenn man die Anliegen der Menschen nun in den Vordergrund stellen will, doch man muss sie nicht nur kennen, sondern auch auf deren theoretischen Gehalt prüfen; sie wie eine Monstranz nur vor sich herzutragen führt noch nicht zum Erfolg. Kader entscheiden alles, doch die müssen über eine gehörige Position marxistischer Theorie verfügen und in der Lage sein, das Ziel des heutigen Klassenkampfes zu bestimmen. Eindrücke von einer neuen Bewegung, die in die Partei kommt, wird fatale Folgen haben, wenn man sie nicht einfängt und ihr klare Ziele stellt. Das wichtigste Kriterium ist letztlich, wie sie sich im Klassenkampf positionieren. Betrachte ich die Linke, dann ist sie weder bei Marx noch unter seinem Banner!