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Aus: Ausgabe vom 20.02.2025, Seite 12 / Thema
Kapitalstrategien

In der Liz-Truss-Falle

Vorabdruck. Niedrigere Steuern und trotzdem mehr öffentliche Investitionen: Kapitalstrategien nach der Ampel (Teil 2 und Schluss)
Von Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch
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Der Letzte macht die Tür zu. Mit dem Niedergang der deutschen Industrie gerät auch der Sozialkorporatismus, die Zusammenarbeit zwischen Konzernen und Gewerkschaften, in die Krise

Im März erscheint Heft 141 der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung. Wir veröffentlichen daraus redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Herausgebern und Autoren den Beitrag von Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch . In Teil eins wurden Transformationsstrategien und Forderungen von Industrie- und Unternehmerverbänden analysiert. Das neue Heft von Z kann bestellt werden unter www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)

Der populistische Charakter des Rufs nach niedrigen Unternehmenssteuern erschließt sich, wenn man die fiskalischen Kosten beziffert. Diese seien finanzierbar, wenn die Staatsausgaben umstrukturiert würden, wobei es immer um Sozialausgaben geht. Allerdings kamen die großen Posten im System der sozialen Sicherung in den Programmen der Eigentumsparteien relativ glimpflich davon: Massive Einschnitte bei Rente, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung wurden nicht gefordert. Im Mittelpunkt der Sparvorschläge fast aller Parteien (von AfD bis BSW) außer der Linken standen das Bürgergeld und Leistungen für Geflüchtete.

Auch die Ampel hatte sich in ihrer letalen Phase von den eigenen Vorhaben distanziert und den Rotstift bei den Ärmsten angesetzt. Tatsächlich ist der Spielraum für Kürzungen durch Vorgaben des Verfassungsgerichts aber begrenzt. Auch wenn dort einige Milliarden Euro abgepresst werden könnten – dies wäre nur ein Bruchteil der geforderten zusätzlichen öffentlichen Investitionen (nach BDI-Schätzungen jährlich 1,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – circa 80 Milliarden Euro) bzw. der in Wahlprogrammen geforderten Steuerentlastungen: Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beziffert diese allein bei Einkommens- und Körperschaftsteuern inkl. Solidaritätszuschlag auf 125 Milliarden (FDP), 93 Milliarden (AfD) bzw. 73 Milliarden Euro (CDU). Zwar befürwortet auch das IW Steuerentlastungen, seine Skepsis gegenüber den Forderungen von FDP und CDU ist aber unübersehbar: Es blieben »große Fragezeichen«, was die Finanzierbarkeit angeht. Auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen Unternehmen steuerlich entlasten bzw. Investitionsprämien verteilen, allerdings in deutlich geringerem Umfang.

Überschneidungen zwischen den staatsinterventionistischen Politikansätzen im Unternehmerlager einerseits und den neoliberalen Programmatiken der Eigentumsparteien (AfD, CDU/CSU und FDP) andererseits gibt es reichlich: Die Absenkung der Gewinnsteuern und Bürokratieabbau (Deregulierung der Unternehmen) sind mit beiden Positionen kompatibel. Konsens ist auch die Tendenz, Bürgergeldempfänger und Geflüchtete zum Sündenbock zu erklären, ohne aber einen »Frontalangriff auf den Sozialstaat« zu wagen – auch die Neoliberalen wollen die Gewerkschaften einbinden.

Größer als die Schnittmengen sind aber die Gegensätze. Deutsche-Bank-Chefökonom Robin Winkler zufolge »besteht an den Finanzmärkten heute nicht nur Konsens, dass die Bundesrepublik weitaus mehr haushaltspolitischen Spielraum hat, sondern auch, dass die nächste Bundesregierung diesen Spielraum tatsächlich nutzen wird«. Eine Umfrage unter Kunden der Bank (meist institutionelle Investoren) ergab, dass 90 Prozent von ihnen 2025 eine Reform der Schuldenbremse erwarten: »Es würde die Märkte überraschen, wenn nicht sogar enttäuschen, wenn sich bei den Haushaltsregeln in Deutschland gar nichts ändern würde.« An das, was Politikern passiert, die die Finanzmärkte enttäuschen, erinnert das britische »Liz-Truss-Szenario« von 2022. Die von den Konservativen als Premierministerin inthronisierte Elizabeth Truss hatte ein als »Wachstumsplan« tituliertes Budget präsentiert, das radikale Steuersenkungen für die Unternehmen vorsah, die sich über mehr Wachstum selbst finanzieren sollten. Daraufhin schickten die Finanzmärkte das britische Pfund und die Kurse britischer Staatsanleihen in den Keller. Nach wenigen Wochen war Truss Vergangenheit.

Nimmt man die von Christian Lindner als Vorbild beschworenen Kettensägenliberalen Elon Musk und Javier Milei hinzu, so könnte man die von den Eigentumsparteien beworbene »Angebotspolitik« als Ausdruck eines »radikalisierten Konservativismus«¹ begreifen, der allerdings von den Finanzmärkten und dominierenden Teilen des Kapitals nicht geteilt wird. Dabei ist aber viel Demagogie im Spiel. Von einer »Spaltung des Machtblocks« kann man unseres Er­achtens kaum sprechen. Wahrscheinlicher ist, dass sich – unabhängig von der Regierungskonstellation nach den Wahlen vom 23. Februar – die staatsinterventionistischen Positionen (inklusive »Reform« der Schuldenbremse/höhere Staatsverschuldung) durchsetzen werden, die, wie gezeigt, allgemeine Steuerentlastungen für das Kapital nicht ausschließen.

Der im Lindner-Papier konstruierte Gegensatz zwischen Steuersenkungen einerseits und höheren Investitionen/Staatsschulden andererseits spiegelt aber auch eine reale Problematik wider: Ab einem gewissen Punkt (an dem Deutschland sicher noch nicht ist) können Staatsschulden tatsächlich zu einem Problem werden. Bezogen auf Trump-USA formuliert Hanno Lustig, prominenter US-Ökonom: »Mich treibt das Szenario um, bei dem die Regierung einen ehrgeizigen Finanzplan mit großen Steuersenkungen auf den Weg bringt und der Anleihemarkt (die Finanzmärkte, d. A.) wirklich irgendwann sagt: ›Nein, nicht mehr, das reicht.‹« (FAZ, 17.1.2025) Dies wäre das erwähnte »Liz-Truss-Moment«. Der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach niedrigen Steuern und hohen öffentlichen Investitionen (inklusive Rüstungsausgaben) kann durch höhere Staatsverschuldung aufgelöst werden – aber eben nur bis zu einem gewissen, von den Finanzmärkten definierten Punkt. Einen Ausweg aus der Liz-Truss-Falle böten dann nur noch massive Eingriffe in den Sozialstaat. Obwohl Deutschland diesen Punkt sicherlich noch nicht erreicht hat: Die neoliberale Rhetorik prägt das politische Klima, schränkt den Spielraum für linke, am Staatsinterventionismus positiv anknüpfende Strategien ein und bereitet zukünftigen Angriffen auf den Sozialstaat den Boden.

Linke Alternativen?

Das sind insgesamt schwierige Ausgangsbedingungen für linke Alternativen. Hinzu kommt: Die kurzen und zunehmend hysterischen Debatten während des Bundestagswahlkampfes wurden stark geprägt vom Thema Migrationspolitik. So konnte der Eindruck entstehen, es habe ein Lager- oder Richtungswahlkampf stattgefunden.

Jenseits der Migrationshysterie hatte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz aber auch in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen einen Lagerwahlkampf zwischen zwei angeblich völlig konträren Lagern – Union gegen »rot-grün« – ausgerufen. »Wir setzen diesem Stillstand und dieser Umverteilung sozialdemokratischer und grüner Wirtschaftspolitik eine Wirtschaftspolitik der Leistungsbereitschaft und der Wettbewerbsfähigkeit entgegen.« (Frankfurter Rundschau, 8.1.2025) Der neoliberale Wahlkampfdiskurs gegen soziale »Wohltaten« und für die sogenannten Leistungsträger verschob das sozialpolitische Klima insgesamt nach rechts und öffnete Zugänge zu weiteren Einschnitten in die Sozialsysteme. Auch bei den Kapitalverbänden wurden Stimmen laut, die eine vermeintliche »absolute Richtungswahl« im Gange sahen, so etwa der Arbeitgeberverband Gesamtmetall.

Derlei populistische Wahlkampfrhetorik überdeckte für ein paar Wochen, dass es zwischen den staatstragenden Parteien zwar politisch durchaus relevante Unterschiede gab und gibt, die zukünftig auch wichtig werden können, aber in zentralen Fragen große Gemeinsamkeiten. Nach der Wahl werden sich – je nach Koalitionsoptionen – im Zuge der unvermeidlichen Kompromissfindungen die Gemeinsamkeiten dieser »Lager« wieder deutlich herausschälen. Und gerade diese machen es linken Alternativen schwer.

Sozialkorporatismus

Maßgebend dafür ist nach wie vor das faktische Bündnis zwischen den Großunternehmen der Exportindustrien (Metall- und Elektro, Maschinenbau, Chemie u. a.) auf der einen und den Staatsapparaten auf der anderen Seite. Über alle Krisen hinweg ist dieses Exportmodell die tragende Säule der Wirtschaftsmacht Bundesrepublik und ihres politischen Systems – stärker als in anderen europäischen kapitalistischen Ländern und erst recht anders als in der sich derzeit herausbildenden Präsidial- und Notstandsdiktatur der USA unter Trump. Die Besonderheit dieses Exportmodells ist allerdings auch seine tripartistische Konstruktion. Der Dritte im Bunde sind Gewerkschaften und Betriebsräte dieser Industriesektoren. Sie alle sind über zahlreiche Gremien in einem permanenten Prozess der Austarierung ihrer Interessen miteinander verbunden. Dieser Sozialkorporatismus – in bestimmten Situationen immer wieder auch ein Krisenkorporatismus – ist mitverantwortlich dafür, dass wir es mit einem anpassungsfähigen, langlebigen und stabilen Erfolgsmodell des bundesdeutschen Kapitalismus zu tun haben, in dem linke Alternativen es traditionell schwer haben. Es handelt sich hier aber durchaus auch um ein sehr konfliktreiches Konstrukt.

Die Wurzeln des korporatistischen Wohlfahrtsstaates reichen bis in die Jahre der Adenauer-Regierung in der alten Bundesrepublik zurück. Es hat daher eine stark konservative Prägung, an die die Unionsparteien des Jahres 2025 anknüpfen können. Allerdings fehlen diesem Modell heute zunehmend die wirtschaftlichen Grundlagen: Seine Basis war wirtschaftliches Wachstum in einem fossilen Akkumulationsmodell bei vergleichsweise hohen Lohneinkommen und lukrativen Arbeitsbedingungen. Diese Grundlage steht heute unter Druck. Die Anpassung des bundesdeutschen korporatistischen Exportmodells an die veränderten globalen Konkurrenzbedingungen ist ein krisen- und konflikthafter Prozess, in dem Gewerkschaften und Lohnabhängige bereits massive und schmerzhafte Zugeständnisse hinnehmen mussten.

Die Drohungen der Unternehmer – siehe die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der Automobil- und ihren Zulieferindustrien – mit Entlassungen, Werkschließungen, Lohnminderungen in großem Stil usw. verweisen auf zugespitzte Konflikte. Die Kapitalseite ist bemüht, die Krisenkonstellation, Zukunftsängste und Befürchtungen um Arbeitsplatzverluste zu ihren Gunsten auszunutzen. Belegschaften und Gewerkschaften haben in diesen Auseinandersetzungen keine besonders guten Karten, die Unternehmer bleiben aber natürlich weiter auf Produktivität und Willigkeit »ihrer« Belegschaften angewiesen, denen dabei die demographische Entwicklung (Arbeitskräfteverknappung und »Fachkräftemangel«) ein gewisses Druckpotential gibt. Ob es sich hier um eine »Zäsur« und einen »Tabubruch« handelt oder um ein »neues Zeitalter« in den Arbeitsbeziehungen und eine »Niederwerfungsstrategie« gegenüber den Lohnabhängigen und ihren Organisationen, muss sich erst noch zeigen und wird davon abhängen, wie sich die Kräfteverhältnisse entwickeln.

Auch wenn das bundesdeutsche Modell des Sozialkorporatismus weitgehend vom Exportsektor dominiert wird, hat der von Verdi vertretene Bereich der öffentlichen und privaten Dienstleistungen einen hohen Stellenwert und repräsentiert die Mehrheit der Lohnabhängigen. Er ist allerdings deutlich heterogener strukturiert als der Industriesektor und schwächer in seiner Einflussnahme auf die Politik. Was die Ansatzpunkte und die Durchsetzung von progressiven Forderungen betrifft, haben sich auf dieser Basis zwei »Regulierungswelten« der Arbeitskonflikte herausgebildet: eine »erste Welt« hauptsächlich des Industriesektors, in der Flächentarifverträge noch weitgehend intakt sind, und eine »zweite Welt« entstandardisierter Arbeitsbeziehungen im zerklüfteten Dienstleistungsbereich.

Unabhängig von der politischen Konstellation für die nächste Zeit nach der Bundestagswahl wird es für die gesellschaftliche Linke darum gehen, nicht nur eine radikale antikapitalistische Alternative weiter sichtbar zu halten, sondern auch die Widersprüche im Lager »Mitte-rechts« zu nutzen, um politischen Rückschritten zu begegnen und um – auch bescheidene – Öffnungen im progressiven Sinne zu erhalten und nach Möglichkeit auszubauen. Erwartbar für die nächste Zeit ist eine politische Mehrheit, die das Exportmodell Deutschland unter erschwerten Bedingungen und mit einem stark reduzierten Sozialkorporatismus aufrechtzuerhalten versucht. Darüber besteht zwischen den Parteien der »demokratischen Mitte« in wesentlichen Punkten Konsens. Absehbare Essentials dieser politischen Orientierung sind: Steuerentlastungen für die Wirtschaft, »Reform« der Schuldenbremse, »Bürokratieabbau« und Deregulierung, wirtschaftliche Modernisierung und Abbau des Investitionsstaus, eine »pragmatische«, marktwirtschaftlich ausgerichtete Klimapolitik, verbunden mit Druck auf Lohnentwicklung, Renten, Sozial- und Transfereinkommen.

Daraus ergeben sich aber auch Widersprüche, die von der gesellschaftlichen Linken genutzt werden können. Allerdings ist die bisherige Bilanz auch nur elementar-sozialreformistischer Politik – trotz einzelner positiver Erfahrungen – überwiegend ernüchternd. Wo liegen Eingriffspunkte für demokratische und sozialökologische Forderungen?

Vermögenssteuer

Aus linker Sicht macht ein Engagement zur Lockerung oder Abschaffung der Schuldenbremse zwar Sinn, weil sie staatliche Ausgaben für defizitäre Bereiche, die im Interesse der Lohnabhängigen sind, bremst. Für diese Forderung stehen auch die Gewerkschaften. Allerdings wäre das uninteressant, wenn die angestrebte Lockerung ausschließlich Investitionen zugunsten der Privatwirtschaft oder der Rüstung zugute kommen sollte. Und letztlich können nicht alle sozial oder ökologisch erwünschten Ausgaben alleine über Schulden finanziert werden. Viel wichtiger wären also auch aus der Sicht von Gewerkschaften oder Sozialverbänden steuerpolitische Initiativen (Vermögenssteuer usw.) zur Umverteilung des enormen privaten Reichtums zugunsten der Normalverdienenden und der ärmeren Bevölkerungsschichten.

In der nächsten Zeit werden – siehe US- und EU-Vorbilder – neue staatliche Finanzierungsprogramme zwecks Modernisierung und Wirtschaftssanierung aufgelegt werden. Die entsprechenden Forderungen der Unternehmerverbände liegen auf dem Tisch. Dabei wird es darum gehen, die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu optimieren. Dem wäre die Notwendigkeit entgegenzuhalten, die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern und diese finanziell besser auszustatten. Zugleich müssten entsprechende Programme mit Forderungen nach sozialen und ökologischen Auflagen verbunden werden, es wären also demokratische Mitbestimmungsrechte für die Inhalte der Transformation einzufordern. An die alte Forderung: »Wo öffentliche Gelder fließen, ist öffentliche Kontrolle angesagt«, wäre dabei zu erinnern.

Hinter Schlagworten wie »Bürokratieabbau« oder Deregulierung verbirgt sich das Interesse des Kapitals an einem generellen Abbau staatlicher Vorgaben zur Einhaltung ökologischer, sozialer und demokratischer Standards. Deren Einhaltung soll privater Initiative überlassen bleiben, ohne Nachweisführung und staatliche Kontrolle. Dies wurde unter anderem in der Auseinandersetzung um das Lieferkettengesetz oder die Emissionsgrenzwerte für Kfz deutlich. Einzelne Wahlkampfvorstöße von rechts, zum Beispiel zur Demontage des Bürgergelds, zur Einführung von Karenztagen bei Krankheit, zur Deregulierung des Arbeitszeitrechts und zur »Flexibilisierung« der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, zur faktischen Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, zur Beschneidung des Streikrechts usw., geben Hinweise, an welchen sozialpolitischen Stellschrauben eine Mitte-rechts-Koalition drehen wird. Das wäre nicht nur für die Gewerkschaften ein wichtiges Konfliktfeld, im Interesse von mehr sozialer Gerechtigkeit, aber auch im Interesse von mehr Demokratie und Engagement gegen rechts.

Arbeits- und Fachkräftemangel machen auch aus Sicht des Kapitals Investitionen in den Bildungsbereich notwendig. Aus linker Sicht legt das Forderungen nach besser ausgestatteten staatlichen Bildungsbudgets, nach mehr und gut ausgebildeten Lehrkräften, nach kleineren Klassen, besserer Kitaversorgung usw. nahe. Andernfalls blieben Reformen im Bildungsbereich nur auf die stromlinienförmige Anpassung der Arbeitskraft an die Verwertungsbedingungen des Kapitals zugeschnitten.

Klimaschutz ist im Wahlkampf bei den ehemaligen Ampelparteien und bei den Parteien der Rechten zu einer abhängigen Variablen wirtschaftlicher Forderungen herabgestuft worden. Kapitalvertreter haben zwar verstanden, dass ein gewisses Maß an Klimaschutz auch im Kapitalinteresse unumgänglich ist. Aber dieses Maß soll nach marktwirtschaftlichen Maßstäben definiert werden. Mercedes-Benz-Vorstand Ola Källenius in seiner Eigenschaft als neuer Präsident des europäischen Automobilherstellerverbands ACEA plädierte für eine »Neuausrichtung des europäischen Green Deals«. Die gesamte Klimapolitik müsse »flexibler« und im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gestaltet werden. Die Klimabewegung ist für sich aber viel zu schwach, um spürbaren Druck zu mehr Klimaschutz zu entwickeln. Auch die Gewerkschaften sind hier gefordert. Den Lohnabhängigen sitzt aber auch hier das Hemd näher als der Rock: Forderungen nach mehr Klimaschutz werden bei ihnen dann zu einem »Verliererthema«, wenn sie in Gegensatz gestellt werden zu berechtigten sozialpolitischen Forderungen. Verdi hat vorgemacht, dass Gewerkschaft und Fridays for Future hier konstruktiv zusammenarbeiten können.

Militarisierung

Ob die Rüstungsausgaben in der nächsten Zukunft auf zwei, drei oder fünf Prozent des BIP angehoben werden sollen – die Unterschiede zwischen den potentiellen Koalitionspartnern sind hier gar nicht so groß. Sehr viel mehr als bisher wird es notwendig sein, den Zusammenhang zwischen Rüstung und Krieg herauszustellen, den Überbietungswettbewerb bei den Rüstungsausgaben zu skandalisieren und seine Unvereinbarkeit mit den notwendigen Investitionen in Soziales und Klimaschutz und bei der sozialen Gestaltung der Transformation zum Thema zu machen. Zudem würde auch die exzessivste Rüstung nicht mehr Sicherheit schaffen, weil mehr (vermeintliche) Sicherheit der einen Seite mehr Unsicherheit der anderen bedeutet, sie in diesem Sinne also nicht einseitig zu haben ist. Abenteuerlich sind die Vorstellungen, geopolitische Kontrahenten des »Westens« (Russland, China) totzurüsten. Konflikte wie etwa der Krieg in der Ukraine müssen politisch, durch internationale politische Initiativen, gelöst werden.

Schließlich haben die Tabubrüche der Unionsparteien (und der FDP, punktuell auch des BSW) hinsichtlich der Kooperation mit der AfD und die weitere Normalisierung dieser extrem rechts-nationalistischen und in Teilen faschistischen Partei während des Wahlkampfs deutlich gemacht: Die Verschiebung der politischen Koordinatensysteme nach rechts ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass ein breites demokratisches Engagement zu einer zentralen Aufgabe geworden ist, die auch die gesellschaftliche Linke herausfordert. Nach der Demowelle des Frühjahrs 2024 und den neuerlichen Demonstrationen gegen die inzwischen noch erstarkte Rechtsentwicklung Anfang 2025 zeigt sich aber auch, dass es nicht genügt, gegen die AfD unter Berufung auf bürgerlich-demokratische »Werte« zu demonstrieren. Auch die Parteien der sogenannten Mitte – und insbesondere die Unionsparteien und die FDP – verantworten eine Politik (Wirtschaft, Soziales, Klima, Sicherheit, Migration), die das politische Koordinatensystem weiter nach rechts verschiebt und die AfD stärkt. Demokratisches Engagement gegen rechts kann sich also nicht darauf beschränken, die AfD anzugreifen, sondern muss die Verursacher der Rechtsentwicklung insgesamt in den Blick nehmen.

Anmerkung:

1 Natascha Strobl: Konservativismus am Kippunkt. Luxemburg 2/2024, S. 38 ff.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. Februar 2025 um 10:44 Uhr)
    Auch dieser Teil des Artikels zeigt, dass das Land zunehmend unregierbar wird, weil sich die existierenden ökonomischen Widersprüche eben nicht durch Gesundbeten à la Wahlkampf lösen lassen. Der Wirtschaft mehr Profitanteile zu überlassen, gleichzeitig mehr staatliche Aufgaben zur Sicherung der Kapitalverwertung finanzieren zu müssen und den Sozialstaat nicht endgültig den Bach runtergehen zu lassen: Das funktioniert eben nicht. Weil sich dabei immer irgendwie die Katze in den Schwanz beißt. Da hilft es auch nichts, wenn die Autoren genauso wie die Politik davon überzeugt sind, dass bei den Staatsschulden die vertretbare Grenze noch längst nicht erreicht sei. Wie wackelig solche Annahmen sein können, zeigt ja gerade das im Artikel genannte Beispiel des Scheiterns der Politik von Frau Truss in Großbritannien. Ein Schuldenberg kann einen Staat mit Gewissheit so sicher erschlagen, wie eine Lawine anderer Probleme. Wie hoch er dazu sein muss, darüber kann man gewiss trefflich streiten. Besser ist es jedoch, sich davor rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Nur wo, wenn es auch rundum überall kracht?

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