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Aus: Ausgabe vom 28.02.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Zugunglück in Griechenland

Alles »in guter Absicht«

Umfragen zu Tempi: Die Griechen halten ihren Premier für einen ausgemachten Lügner
Von Hansgeorg Hermann
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Zuerst veröffentlichte die konservative Athener Tageszeitung Kathemerini die wenig überraschende Nachricht. Das war am 19. Februar. Am 26. Februar meldete es dann auch die linke Konkurrenz der Efimerida ton Syntakton (Efsyn): Was das katastrophale Eisenbahnunglück von Tempi vor zwei Jahren anbetrifft, glauben wenigstens vier Fünftel der Bevölkerung ihrer Regierung rein gar nichts mehr.

Quelle des für den Premier Kyriakos Mitsotakis vernichtenden Volksurteils war der TV-Kanal Alpha-TV, der eine entsprechende Umfrage bei den Meinungsforschern des Instituts ALCO in Auftrag gegeben hatte. Der dem Regierungschef ansonsten gewogene Sender hatte wohl selbst nicht vermutet, welch parteiübergreifende Wut sich vor allem in den Universitätsstädten Athen und Thessaloniki, aber auch in den europäischen Nachbarländern unter den Auslandsgriechen angestaut hatte.

Auf die von den Demoskopen gestellte Frage, ob die von der Regierung nach der Katastrophe getroffenen Maßnahmen der Justiz bei der Aufarbeitung des Falles helfen konnten, antworteten 71 Prozent mit einem kalten »Nein«. Keine Sympathie für Mitsotakis weckte auch die umgekehrte Fragestellung, ob denn die Regierung dabei helfe, bislang unbekannte Fakten bezüglich des Unglücks zu verschleiern. Diese Frage beantworteten 72 Prozent mit »Ja« und betrachteten Mitsotakis und dessen Helfer damit als Lügner.

Deutlich wurde, dass ein großer Teil jener Wählerinnen und Wähler, die Mitsotakis nur vier Monate nach Tempi bei den Nationalwahlen erneut zum Regierungschef machten, inzwischen angewidert auf Abstand geht. Auch Anhänger seiner eigenen Partei Nea Dimokratia (ND) glauben inzwischen zu 43 Prozent, dass ihr Champion sie bezüglich der Katastrophe im Ungewissen gelassen und vermutlich Fakten verschleiert hat, um die Wahl zu gewinnen und seinen Job zu retten. Bei den Oppositionsparteien von links bis ganz rechts denken das ohnehin 72 bis 100 Prozent. In seiner zweiten Amtszeit, die am 25. Juni 2023 begann, regiert Mitsotakis mit einer absoluten Mehrheit von 158 Abgeordneten in der 300 Sitze zählenden »Vouli«, dem griechischen Parlament.

Was dem Premier gegenwärtig niemand mehr glaubt, beschrieb er bei Alpha-TV dennoch mit salbungsvollen Worten. Wie die Ermittler heute zugeben, wurden nach dem Unfall Reste chemischer Substanzen entfernt, laut Mitsotakis, um die sterblichen Überreste der Opfer »besser bergen zu können«. Videomaterial und Gesprächsaufzeichnungen zwischen dem Fahrdienstleiter und dem Zugpersonal verschwanden. Alles sei »in guter Absicht« geschehen, sagte der Premier. »Der Zweck bestand in diesem Moment nicht darin, etwas zu vertuschen.« Wenig hilfreich sind auch die Informationen der Hellenic Train. Die Gesellschaft behauptete am 30. Januar, die Waggons seien mit Bier, Eisenblech und nicht näher definierten »Präparaten für Lebensmittel« beladen gewesen.

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