Gewisse Erfahrungen
Von Dieter Reinisch
Die Menschen wollen den Sturz des Regimes, hieß es 2011, als zum Beispiel in Ägypten zahlreiche Menschen gegen die Regierung auf die Straße gingen. Aus dem euphorischen Umbruch des »arabischen Frühlings« wurden endlose (Bürger-)Kriege mit Millionen von Toten und Geflüchteten. Seither ist die Region im Nahen Osten und Nordafrika instabiler und stärker von ausländischen Interventionen geprägt denn je. Statt in »Demokratie und Freiheit« ging der arabische Frühling in eine Offensive dschihadistischer Gruppen und die Verfolgung von Minderheiten über.
Ihren Ausgang nahmen diese Aufstände in Tunesien, wo sich am 17. Dezember 2010 der Straßenverkäufer Mohamed Bouazizi selbst in Brand setzte. Der Umsturz in Tunesien wurde zum Vorbild für die Bewegungen in anderen Ländern. Er erlangte so internationale Bedeutung und veränderte die Entwicklung der Region nachhaltig, schreibt Tarkan Tek. Der in Wien lebende Sozialwissenschaftler geht in seinem Buch der Frage nach, ob der arabische Frühling die von ihm konstatierte »unvollständige Dekolonisierung Tunesiens« vorantreiben konnte. Aus postkolonialer Perspektive bietet er einen Blick auf die Langzeitfolgen der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Umbrüche.
Basierend auf seiner Dissertationsschrift und methodisch angesiedelt zwischen postkolonialen Studien und sozialer Bewegungsforschung, legt Tek eine interessante qualitative Studie vor, die sich auf über zwei Dutzend Interviews mit Akteuren der tunesischen Revolution stützt: breit gefächert vom einfachen Basisaktivisten über Akademiker und Richter bis hin zu Souad Abderrahim, Bürgermeisterin der Hauptstadt Tunis und Mitglied der Ennahda-Partei. Die sich als »muslimisch-demokratisch« bezeichnende Partei war die einzige, die eine Frau als Kandidatin aufstellte. »Freiheit« hätte die Revolution langfristig gebracht, »als negative Entwicklung muss die schwierige wirtschaftliche Lage hervorgehoben werden«, erzählt sie.
Auch wenn – wie mittlerweile leider üblich bei deutschsprachigen Wissenschaftsmonographien – der Theorie- und Methodenteil langatmig und im Vergleich mit dem empirischen Teil stark überdimensioniert ausfällt, hilft er in diesem Fall, den Zugang des Autors besser einzuordnen: Seine Unterkapitel zur Revolutionstheorie handeln von Lenin, Rosa Luxemburg, dem marokkanischen Oppositionellen Mehdi Ben Barka und dem Unabhängigkeitskämpfer Amílcar Cabral. Und statt, wie auf dem Feld der postkolonialen Studien bedauerlicherweise weithin die Norm, in die Identitätspolitik abzudriften, versucht Tek durchweg, eine Art antikolonialen Klassenstandpunkt beizubehalten und sich an die marxistische Revolutionstheorie anzulehnen.
Zusätzlich zu den Interviews zieht er auch Filme heran, die zwischen 2011 und 2014 entstanden sind und denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Tek arbeitet schlüssig heraus, dass das Ende des französischen Kolonialismus in Nordafrika nicht zu einem Ende der kolonialen Vorherrschaft und Ausbeutung geführt hätte. Am Beispiel von Tunesien zeichnet er unter Einbeziehung der Entwicklungen seit 2011 ein differenziertes Bild: Ein halbes Jahrhundert nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung 1956 konnte der arabische Frühling zwar »in vielen Bereichen mehr Freiheiten« bringen, und doch sei die Entkolonialisierung »noch lange nicht abgeschlossen«. Allerdings könnten aufgrund der breiten Teilnahme des Volkes »gewisse Erfahrungen nicht mehr rückgängig gemacht werden«, und so werde der Revolutionsprozess von den Menschen insgesamt als »positiv« empfunden.
Tarkan Tek: Die Entkolonialisierung Tunesiens. Über die langfristigen Auswirkungen des Arabischen Frühlings. Transcript, Bielefeld 2024, 300 Seiten, 50 Euro
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