»Feminismus war von Anfang an mit dem Marxismus verbunden«
Von Carmela Negrete
Lange schien der Marxismus nicht besonders eng mit dem Feminismus verbunden zu sein. Sie leiten seit über einem Jahrzehnt das Philosophische Institut in Kuba und bezeichnen sich als Feministin. Sehen Sie da einen Widerspruch?
Um uns auf Kuba mit dem Thema Feminismus zu beschäftigen – ich kam durch die lateinamerikanischen Feministinnen dazu – haben wir zuerst internationale Workshops zu emanzipatorischen Paradigmen organisiert. Es war ein partizipatives Forschungsprojekt, ein Dialog zwischen verschiedenen Wissensformen, um die Theorie mit den wichtigsten Prozessen in Lateinamerika in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks zu verknüpfen.
Und in einem dieser Workshops sagten die Feministinnen: »Es gibt keine vollständige Emanzipation ohne Feminismus.« Daraufhin sprangen die marxistischen Denker sofort auf und sagten, dass das nicht stimme und aus einer Klassenperspektive alle Probleme gelöst würden. Daraufhin haben wir eine Forschungsrichtung eröffnet, dazu, wie sich die Beziehung zwischen feministischem und marxistischem Denken in der Geschichte des revolutionären Denkens und Handelns entwickelt hat. Und wir stellten fest, dass der Marxismus von Anfang an mit dem Feminismus verbunden war.
Können Sie da ein Beispiel nennen?
Tatsächlich gab es vor dem Kommunistischen Manifest bereits »Arbeiterunion«, ein Manifest von Flora Tristán, einer Arbeiterin, die mit der Arbeiterbewegung in England und Lateinamerika verbunden war. Sie war eine Frau, die von ihrem Ehemann misshandelt wurde, patriarchale Gewalt erfuhr und der man ihre Kinder weggenommen hatte. In ihrem Text »Arbeiterunion« aus dem Jahr 1846 wandte sie sich an die Arbeiterklasse mit der Botschaft, dass eine echte Revolution nur unter Berücksichtigung der Stellung der Frau in der Gesellschaft möglich sei.
Aber der Beitrag von Feministinnen zur Arbeiterbewegung geriet in Vergessenheit?
Schon zu Beginn der internationalen kommunistischen Bewegung waren also Feministinnen beteiligt, weil Frauen Teil des Klassenkampfes und der Arbeiterbewegung sind. Doch dann drängte die westlich-patriarchale Sichtweise Frauen erneut in den Hintergrund – auch innerhalb der marxistischen Theorie. In dem Maße, in dem der Marxismus dogmatisch wurde, sich in eine konservative Theorie verwandelte, entfernte er sich vom Feminismus. Dabei gab es marxistische Feministinnen wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg oder Alexandra Kollontai.
Diese Frauen kämpften in Deutschland, Russland und in der gesamten europäischen Arbeiterbewegung. Sie standen im Dialog mit der feministischen Bewegung in den USA. Dank dieser Kämpfe von Feministinnen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung und der kommunistischen Parteien können wir heute sagen, dass auch wir zur internationalen Bewegung für die Rechte der Frauen beigetragen haben – das ist die Essenz des Feminismus.
Es gibt viele Feminismen, so wie es viele Formen des Marxismus und der kritischen Theorie gibt. Wir setzen uns für einen populären, emanzipatorischen Feminismus ein. Einen Feminismus, der das Recht aller Frauen auf ein würdiges Leben anerkennt, nicht nur das einer bestimmten Art von Frauen. Ein Feminismus, an dem alle Frauen mit ihrer jeweiligen Kultur und ihren Erfahrungen teilhaben können, damit wir eine vielfältige, gerechte Welt schaffen können, eine Welt der Menschenrechte für Frauen.
Was denken Sie über die derzeitige »Woke versus Anti-Woke«-Debatte?
Oft werden nur die feministischen Diskussionen aus Europa oder den USA wahrgenommen. Sie werden von denen geführt, die Zugang zu Medien haben. Die lateinamerikanischen Feministinnen befassen sich eher mit der Armut der Frauen dort, mit Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika, Afrika und Asien, mit wachsender Ungleichheit, mit der hohen Sterblichkeitsrate von Frauen aufgrund unsicherer Abtreibungsbedingungen oder mit der Situation von Migrantinnen aus der sogenannten »Dritten Welt«. Die Prioritäten hängen davon ab, wo man lebt und aus welcher Perspektive man die Welt betrachtet. Denn oft dominiert in den entwickelten Ländern eine Sichtweise, die die Mehrheit der Menschheit ausblendet, all jene, die nicht im globalen Norden leben.
Und wie ist die Situation der Frauen hier in Kuba sechs Dekaden nach Beginn der Revolution?
In Kuba wurde lange Zeit behauptet, dass es kein feministisches Denken gebe. Doch tatsächlich geht die Kubanische Revolution auf die Tradition einer starken feministischen Bewegung zurück, auf Frauen in Kuba, die in den 1940er Jahren sogar Verfassungen vorangetrieben haben, die den revolutionären Kampf unterstützt haben, die in den Bergen gekämpft haben. Es ist eine Tradition des Kampfes für die Emanzipation der Frauen, für ihre Teilhabe an Debatten und für das Kennenlernen der Kämpfe von Frauen in anderen Teilen der Welt. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution wollten all diese feministischen Organisationen und Frauenbewegungen, die es bereits gab, Teil der Revolution sein. Deshalb wurde die Föderation der Kubanischen Frauen (Federación de Mujeres Cubanas) gegründet – nicht als zentralistische Organisation, sondern als Struktur, die die Frauenbewegung vereinte und stärkte. Die Bestrebungen der Frauen in Kuba richteten sich darauf, die Lebensbedingungen in der kubanischen Gesellschaft insgesamt zu verbessern: dass die Familien der Armut entkommen, dass Söhne und Töchter studieren können, dass es angemessene Gesundheitsversorgung gibt.
Es ging also um materielle Verbesserungen?
Zentral waren Wohnen und Arbeit: Das war das Ziel dieser Revolution, und das hat den Feminismus und den Kampf der Frauen in Kuba vorangetrieben. Heute gibt es in Kuba eine starke feministische Bewegung, die sich mit dem Feminismus in Lateinamerika vernetzt, insbesondere mit dem populären Feminismus. Denn auch in Lateinamerika hat in den letzten Jahren ein liberaler Feminismus an Einfluss gewonnen, der sich jedoch fast ausschließlich auf eine bestimmte Art von Frauen konzentriert: Akademikerinnen, Frauen mit festen Arbeitsplätzen, einem geregelten Einkommen und einem bestimmten Lebensstandard. Doch für die Mehrheit der Frauen in Lateinamerika sieht die Realität anders aus. Man muss nur in die Karibik blicken, auf die haitianischen Frauen, die dominikanischen Frauen, die puertoricanischen Frauen oder die Frauen der karibischen Inseln, um zu sehen, dass sie immer weiter verarmen. In Mittelamerika leiden indigene Frauen zunehmend unter Gewalt, die auch mit dem Drogenhandel und religiösem Fundamentalismus verknüpft ist. Dasselbe geschieht in Südamerika. Angesichts dessen wird klar, dass wir die Kämpfe stärken und strategisch nachdenken müssen, damit unser Aktivismus effektiver wird. Es darf nicht nur bei Parolen oder Demonstrationen auf der Straße bleiben, die letztlich keinen wirklichen Einfluss haben. Worum es am Ende geht, ist das Leben der Frauen, das Leben der Menschen.
Und Ihr Eindruck als Institutsdirektorin: Gibt es in Kuba noch viel Machismus?
Machismus gibt es überall auf der Welt. Auch die kubanische Gesellschaft ist machistisch. Aber sie hat gleichzeitig eine Kultur der emanzipatorischen Bildung, die die Rechte verteidigt. Das macht es für Frauen einfacher als in anderen Teilen Lateinamerikas, mit Männern in einen Dialog zu treten. In Kuba kann man nicht nur diskutieren, sondern auch gemeinsam etwas aufbauen – weniger machistische Praktiken entwickeln. Das liegt an der Kultur, die der kubanische Prozess selbst geschaffen hat und die ein Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit und Würde vermittelt hat.
Gibt es weniger Gewalt gegen Frauen als in anderen Ländern?
Es gibt weniger Fälle als in anderen Ländern Lateinamerikas, aber wir haben Fälle von Gewalt, und sie nehmen zu – insbesondere mit der wirtschaftlichen Krise steigt auch die geschlechtsspezifische Gewalt und es kommt vermehrt zu Femiziden. Gewalt ist der Armut inhärent – nicht, weil die Armen gewalttätig wären, sondern weil das kapitalistische System Gewalt ausnutzt, um Macht auszuüben. Die Gewalt, die das Patriarchat hervorbringt, ist Teil eines umfassenden Herrschaftssystems, das Patriarchat, Kolonialismus, Rassismus und die Ausbeutung der Natur miteinander verknüpft. Auch in Kuba zeigt sich, dass mit der Öffnung für kapitalistische Praktiken und Marktwirtschaft zunehmend mehr Gewalt, mehr Rassismus, mehr Diskriminierung und mehr Umweltzerstörung auftreten.
Es ist ein Widerspruch: Einerseits öffnet sich das Land wirtschaftlich, andererseits verfolgt etwa China eine Strategie zum Sozialismus, indem es zunächst die wirtschaftliche Basis verbessert.
Das ist die Theorie. Aber China ist China, und Kuba ist Kuba.
Verfolgt Kuba nicht denselben Weg?
Nein, es handelt sich um verschiedene historische Prozesse. Kuba hat weder die wirtschaftlichen Kapazitäten noch das Potenzial oder die über 1,4 Milliarden Einwohner, die China hat. Kuba ist eine kleine Karibikinsel in Lateinamerika, eine Region, die stark von Kolonisierung geprägt wurde. Wir sind in die westliche Kultur als Kolonisierte eingetreten – als diejenigen, die für die entwickelte Welt arbeiten mussten. Das hat uns historisch in eine ständige Abhängigkeitsposition gebracht. Und genau das ist unsere größte Aufgabe: Wir müssen permanent Wege finden, um diese Abhängigkeit zu überwinden, denn so wurde unsere Nation historisch geformt.
Der Kampf um Emanzipation in Kuba war immer ein Kampf um Unabhängigkeit, Souveränität und Würde. Etwas, das gegen die kapitalistische Moderne und gegen die eigene Logik des Kapitals verstößt. Deshalb ist Kuba eine widerständige, rebellische Insel, die trotz all ihrer Probleme weiterhin als Vorbild betrachtet wird. Genau deshalb wird die Blockade aufrechterhalten – sonst hätte man sie längst aufgehoben. Sie wollen nicht, dass Kuba ein Beispiel ist. Sie wollen es nicht. Es ist eine Insel, die trotz all dieser Probleme eine beeindruckende Kreativität besitzt, eine besondere Art, die Welt zu betrachten – eine befreiende Perspektive.
Georgina Alfonso González (geb. 1966) ist seit 2013 Direktorin des Philosophischen Instituts von Kuba, das dem Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Umwelt angegliedert ist.Sie ist Professorin an der Universität von Havanna und hat zahlreiche Forschungsarbeiten über das philosophische Denken in Kuba und Lateinamerika, den Feminismus, emanzipatorische Paradigmen und soziale Bewegungen in Lateinamerika durchgeführt und Publikationen dazu veröffentlicht. Gleichzeitig koordiniert sie das feministische Netzwerk Berta Cáceres, das die Gleichstellung durch Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung der Bürger, die Stärkung der Rolle der Frau sowie die Prävention, Aufdeckung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fördert. Sie ist Herausgeberin der kubanischen Zeitschrift für Sozialwissenschaften und Mitglied der Kommunistischen Partei Kubas.
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