Auf dem Rücken der Lohnabhängigen
Von Gerrit Hoekman
Mit Bart De Wever ist seit dem 3. Februar erstmals ein flämischer Nationalist Ministerpräsident in Belgien. Seine Partei, die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), hatte die Parlamentswahl im Juni 2024 gewonnen. Für belgische Verhältnisse schmiedete De Wever seine sogenannte Arizonakoalition fast so schnell, wie die Formel-1-Boliden über die Rennstrecke in Spa-Francorchamps pfeffern. Nach nur 236 Tagen konnte De Wever Vollzug melden – die Vorgängerregierung, die »Vivaldi-Koalition«, benötigte dazu mehr als ein Jahr.
Der Name »Arizona« bezieht sich auf die Farben der an der Regierung beteiligten Parteien, die auch auf der Flagge des gleichnamigen US-Bundesstaates zu finden sind: Gelb für die N-VA, Blau für die wallonischen Rechtsliberalen des Mouvement Réformateur (MR), Rot für die sozialdemokratische, flämische Partei Vooruit (Vorwärts) und Orange für die wallonische Zentrumspartei Les Engagés (Die Engagierten) und die flämische Christen-Democratisch en Vlaams (CD&V).
Der neue Ministerpräsident, ein eingefleischter »Flandern zuerst«-Verfechter, bemüht sich nach Kräften, die Vorbehalte gegen seine Person auszuräumen und sich als Politiker zu präsentieren, der für alle Belgierinnen und Belgier gleichermaßen da sei. De Wever parliert inzwischen auf französisch fast genausogut wie in seiner Muttersprache Flämisch. Auch Deutsch, die dritte Amtssprache in Belgien, beherrscht er mehr als passabel. Aber viele in der französischsprachigen Wallonie nehmen De Wever die plötzliche Metamorphose nicht ab, sondern vermuten, der Wolf im Schafspelz habe lediglich Kreide gefressen. De Wever spreche mit gespaltener Zunge, warnt Paul Magnette, der Chef des sozialdemokratischen wallonischen Parti Socialiste (PS). Er rede in den flämischen Medien anders als in den wallonischen. Magnette ist überzeugt, dass De Wevers einziges Ziel sei, den Wohlstand der Flamen zu mehren und den Wallonen zu schaden: »In ein paar Jahren werden sie verarmt sein.« Dann würde auch im französischsprachigen Teil Belgiens der Ruf nach Staatsreformen lauter werden, befürchtet Magnette.
Ein Blick ins Regierungsprogramm zeigt, dass die Sorgen der Wallonie keinesfalls aus dem hohlen Bauch heraus kommen. »Das Ziel ist eine neue Staatsstruktur ab der nächsten Legislaturperiode mit einer homogeneren und effizienteren Gewaltenteilung«, steht bereits ganz am Anfang des Textes. Mit Hilfe von Verfassungsexperten will De Wever den Landesteilen Brüssel, Flandern und der Wallonie mehr Autonomie gewähren, auch im Bereich Finanzen. Der Ministerpräsident nennt das »Reformföderalismus«.
De Wever ist ein Getriebener, Vlaams Belang sitzt ihm im Nacken. Bei der Parlamentswahl gewannen die Rechtsextremen erneut zwei Sitze hinzu und wurden zweitstärkste Partei. Der Abstand zur N-VA beträgt nur noch vier Sitze, und mit jeder Wahl wird Vlaams Belang stärker. Insgesamt haben 46,6 Prozent der Flamen für die N-VA oder Vlaams Belang gestimmt – ein Menetekel für Belgien als Staat. Viele in Flandern empfinden Belgiens Französisch sprechenden Teil als Klotz am Bein. In Flandern beträgt die Arbeitslosigkeit aktuell 4,3 Prozent, in der Wallonie 7,5 und in Brüssel 11,1 Prozent. De Wever ist überzeugt, dass das französischsprachige Belgien daran selbst Schuld trägt. »Die Arbeitslosigkeit langfristig zu begrenzen ist die größte Gemeinschaftsreform, die man durchführen kann. Das ist für die Wallonie revolutionär«, lästerte er nur zwei Tage vor seiner Vereidigung beim öffentlich-rechtlichen flämischen Sender VRT.
Länger arbeiten
»Unsere Haushaltslage ist besorgniserregend. Die Steuerlast für Berufstätigkeit ist zu hoch. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen steht unter Druck. (…) Wir haben keine ausreichende Kontrolle über die Einwanderungsströme, die auf uns zukommen. Unsere Sicherheitskräfte sind unterfinanziert«, umreißt De Wever im Regierungsprogramm die seiner Meinung nach drängendsten Probleme. »Bleibt die Politik unverändert, droht das belgische Haushaltsdefizit auf das höchste Niveau in ganz Europa anzusteigen.«
Laut der Europäischen Kommission betrug das belgische Haushaltsdefizit im vergangenen Jahr 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Ein höheres Defizit wiesen nur noch die Slowakei, Polen, Ungarn und Frankreich auf. Für 2025 wird ein Minus von 4,7 Prozent erwartet. Die EU erlaubt höchsten drei Prozent. Die Kommission gibt Belgien vier Jahre Zeit, das Defizit auf diese Marge zu drücken. Wenn der eingeschlagene Weg erste Erfolg zeitigt, kann die Frist auf sieben Jahre verlängert werden. »Der expansive Anstieg der national finanzierten laufenden Primärausgaben (…) war durch dauerhafte Erhöhungen der Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor und Sozialleistungen infolge des Mechanismus der automatischen Indexierung, eine vorübergehende Senkung der Arbeitgeberbeiträge im Jahr 2023 und steigende Haushaltskosten im Zusammenhang mit der Bevölkerungsalterung verursacht«, bewertet die EU-Kommission die Ursachen.
23 Milliarden Euro will die »Arizonakoalition« einsparen und vor allem den Werktätigen, Arbeitslosen, Studierenden und Rentnerinnen und Rentner ins Portemonnaie greifen anstatt den Reichen. »Gesunde Menschen, die in der Lage sind zu arbeiten, werden nicht länger die übertrieben vorteilhaften Systeme genießen können, die sie davon abhalten, loszulegen. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass Arbeitende netto mehr übrig behalten«, heißt es im Regierungsprogramm. »Wir treffen aus der Not heraus, schwierige Entscheidungen, verlieren dabei aber den menschlichen Aspekt nie aus den Augen«, rühmt sich die Regierung höhnisch eines kleinen Rests an Humanismus.
Bei den Renten sollen insgesamt 2,4 Milliarden Euro gespart werden, indem die erforderliche Lebensarbeitszeit erhöht wird. Wer zum Beispiel während der Coronapandemie vorübergehend arbeitslos war, darf erst später in Rente. Besonders betroffen sind Frauen, die sowieso schon mehr Probleme als Männer haben, auf die nötigen Beitragsjahre zu kommen, weil sie oft für die Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen eine Zeitlang aus dem Berufsleben ausscheiden oder nur noch halbtags arbeiten.
Arbeitslosengeld soll es lediglich noch für maximal zwei Jahre geben, danach existenzsichernde Sozialhilfe. Eine klassische Milchbubenrechnung, sagen die Gewerkschaften. Wer erst einmal unter die Armutsgrenze absacke, finde erfahrungsgemäß schwerer eine neue Anstellung. »Man erhöht die Beteiligung am Arbeitsmarkt nicht, indem man den Menschen die Arbeitslosenunterstützung kürzt, vor allem nicht, wenn ihre Situation prekär ist«, stellte Caroline Van der Hoeven vom Belgischen Netzwerk zur Bekämpfung der Armut (BAPN) fest. Die Regeln für Nachtarbeit und Überstunden sollen gelockert werden. Auf freiwilliger Basis, beteuert die Koalition. In der betrieblichen Praxis sind Überstunden erfahrungsgemäß aber selten freiwillig, sondern bedeuten einfach nur ein Mehr an Arbeitszeit. Seit 2014 gibt es in Belgien bei einer Neueinstellung keine Probezeit mehr. Die Regierung will sie wieder einführen.
EU und NATO verlangen Aufrüstung
Hinzu kommt, dass die EU jetzt auch noch vehement aufrüsten will, was den belgischen Haushalt zusätzlich belasten wird. NATO-Generalsekretär Mark Rutte fordert von allen Mitgliedstaaten eindringlich, ihren Militäretat auf mindestens zwei Prozent des BIP hochzuschrauben – und zwar schon bis zum Sommer. »Ich habe ihnen gesagt, dass sie, wenn sie meiner Aufforderung nicht nachkommen, Anrufe von einem sehr freundlichen Mann in Washington erwarten können, der einen noch strengeren Zeitplan haben wird«, so Rutte. Im Moment beträgt der belgische Verteidigungshaushalt 1,2 Prozent des BIP. Nur Spanien, Slowenien und Luxemburg liegen darunter. Die »Arizonakoalition« hat in ihrem Programm angekündigt, sie werde das Zweiprozentziel erst 2029 erfüllen. »Wir haben keine vier Jahre mehr«, beschwor die Außenbeauftragte der EU, Kaja Kallas, vor zwei Wochen die belgische Regierung. »Belgien hat diese Verantwortung im Jahr 2014 übernommen und muss ihr nun nachkommen, wie jedes andere Land auch.«
Vermutlich ist es damit nicht getan: Mark Rutte will drei Prozent als Ziel auf die Tagesordnung des NATO-Gipfels Mitte Juni in Den Haag setzen. Als am 2. März Vertreter der einflussreichsten EU-Staaten und Großbritanniens in London zusammenkamen, um mit Rutte über die neue Situation zu beraten, waren zwar der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij und der kanadische Regierungschef Justin Trudeau ebenfalls eingeladen, nicht aber Bart De Wever. Obwohl Belgien das NATO-Hauptquartier beherbergt, war es bereits das zweite Mal hintereinander, dass die belgische Regierung außen vor blieb.
Für Belgien bedeuten die NATO-Forderungen zunächst, auf die Schnelle vier Milliarden Euro zusammenzukratzen. Aber man ist sich uneinig, woher das Geld kommen soll. Steuererhöhungen für Gutverdienende wären eine Möglichkeit, aber das lehnen N-VA und der rechtsliberale Mouvement Réformateur ab. Die anderen sind gegen weitere Einsparungen im Haushalt. Belgien verlangt daher, dass die EU-Kommission die Haushaltsregeln aufgrund besonderer Umstände lockert.
Doch woher sollen die Rüstungsgüter kommen? Wenn alle kaufen wollen, steigen nicht nur die Preise, es muss auch mehr produziert werden. Der neue Verteidigungsminister Theo Francken (N-VA) legte daher vorletzte Woche bei einem Besuch in der wallonischen Hauptstadt Namur einen, oberflächlich betrachtet, schmackhaften Köder aus: eine Waffenschmiede in der Brüsseler Gemeinde Forest/Vorst. An genau der Stelle, wo Audi Brussels bis vor kurzem noch Autos baute, könnten doch demnächst gepanzerte Fahrzeuge vom Band rollen. Oder Drohnen. »Ich will alles tun, um einen Waffenhersteller in Forest/Vorst anzusiedeln. Brüssel braucht Arbeitsplätze. Die Jugendarbeitslosigkeit ist unglaublich hoch«, sagte Francken. »Sie haben dort jetzt eine leere Fabrik, und wir brauchen dringend militärische Ausrüstung. Das ist keine verrückte Idee.« Die 4.000 Arbeiter, die seit der Schließung des Audi-Werks Ende Februar arbeitslos sind, dürften aufgehorcht haben.
Geopolitik, nationale Verteidigung und Arbeitsplätze – Francken will am Standort Forest/Vorst gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Dem Brüsseler Lokalsender Bruzz zufolge sollen bereits erste Gespräche mit ausländischen Firmen stattgefunden haben. Charles Spapens, der sozialdemokratische Bürgermeister von Forest/Vorst, mag den Köder indes noch nicht schlucken. Ein neuer Unternehmer müsse nicht unbedingt aus der Rüstung kommen, meint er. »Es könnte sich um Leichtindustrie, Logistik oder wieder um den Automobilsektor handeln. Ich denke auch an Unternehmen, die Brüssel in den vergangenen Jahren verlassen mussten oder bereits in der Region sind und zusätzliche Flächen suchen«, erklärte er gegenüber Bruzz. »Wir wollen Arbeitsplätze, die besser an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst sind: nachhaltig, diversifiziert und besser in das städtische Gefüge integriert.«

»Noch mehr Waffen, noch mehr Krieg, die Vorbereitung eines neuen Weltkriegs! Europa darf nicht zum Klon der USA werden, Europa braucht keine Trump-Version, sondern muss einen anderen Kurs wagen«, analysiert der Abgeordnete der marxistischen PTB-PVDA (Partei der Arbeit) im belgischen Parlament, Peter Mertens, auf der Homepage der Partei. »Die Außenministerin der Europäischen Union, Kaja Kallas, besteht unterdessen darauf, den schmutzigen Krieg in der Ukraine fortzusetzen und ihn mit Waffen und Soldaten an der Schwelle zum Erwachsensein zu versorgen.« Auf die belgischen Bürgerinnen und Bürger dürften entbehrungsreiche Zeiten zukommen. Sollte der Rüstungsetat auf zwei Prozent des BIP steigen, müsste nämlich jede belgische Familie etwa 1.000 Euro im Jahr mehr an Steuern bezahlen, damit der Staatshaushalt einigermaßen im Lot bleibt, haben Finanzfachleute ausgerechnet.
Widerstand formiert sich
Von den 23 Milliarden Euro, die »Arizona« sparen will, sollen nur 2,3 Milliarden aus den übervollen Taschen der Reichen gezogen werden. Eine Kapitalertragssteuer soll im Jahr 2026 rund 250 Millionen Euro in die Kasse spülen, 2027 300 Millionen, 2028 400 Millionen und 2029 dann 500 Millionen Euro. Eine seriöse Berechnung blieb die Koalition aber bisher schuldig. Außerdem trifft die Steuer nur bedingt die oberen Zehntausend, sondern vor allem auch die Mittelschicht, falls sie einen Teil ihres Vermögens in Aktien angelegt hat. »Die Großverdiener werden abwandern oder einen Weg finden, um diese Steuer nicht zahlen zu müssen«, befürchtet die Flämische Vereinigung der Anleger gegenüber dem Sender VRT Nws. Alles in allem ist das aber kein Vergleich zu den sozialen Grausamkeiten, die den weniger Wohlhabenden abverlangt werden. In Flandern leben bereits etwa acht Prozent der Bevölkerung in Armut, in der Wallonie sind es gar 18 Prozent, unfassbare 30 Prozent in Brüssel. Viele Menschen wissen bereits jetzt nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen.
»Kaum ist Arizona im Amt, brennt schon der Asphalt«, kommentierte die deutschsprachige, belgische Tageszeitung Grenzecho. Am 13. Februar protestierten in Brüssel nach Angaben der Polizei 60.000 Menschen gegen den voranschreitenden sozialen Kahlschlag. Die Gewerkschaften zählten noch mehr.
»Bei den Kürzungen, die vorgenommen werden, werden vor allem die einfachen Arbeitnehmer den Preis zahlen, viel mehr als die stärksten Schultern«, meint Ann Vermorgen, die Vorsitzende der christlichen Gewerkschaft ACV-CSC. Sie verweist auf die Haushaltstabellen. Reformen bei den Renten und auf dem Arbeitsmarkt sollen bis 2029 5,1 Milliarden Euro einbringen, aus neuen Steuern für die »stärksten Schultern« will die Regierung 1,5 Milliarden Euro einnehmen.
»Ich werde mit besorgniserregenden Nachrichten überschüttet«, berichtete Bert Engelaar, der Generalsekretär der sozialistischen Gewerkschaft FGTB-ABVV am Tag des Protests in einem Interview mit der Tageszeitung De Morgen. »Allmählich sieht jeder, dass die Ungerechtigkeit konkreter wird.« Eine Lawine der Empörung rausche heran, warnte Engelaar. Wütend ist er vor allem auf Georges-Louis Bouchez, den Vorsitzenden des rechtsliberalen Mouvement Réformateur. »Wenn ich eine Sache aus dem Koalitionsvertrag herausnehmen könnte, dann wäre es seine Partei: der MR.«
Arizona war gerade erst mit Ach und Krach unter Dach und Fach, da behauptete Bouchez in einem Interview mit dem flämischen Wirtschaftsblatt De Tijd, er habe mit Ministerpräsident De Wever eine separate Absprache: »Wer seine Aktien zehn Jahre lang hält, wird keine Kapitalertragssteuer zahlen. Ich besitze ein handschriftliches Dokument, das das beweist.« Bart De Wever dementierte später im Parlament, dass es eine Geheimabsprache gebe. Bouchez bestritt plötzlich ebenfalls, jemals ein Geheimdokument erwähnt zu haben. »Glauben Sie wirklich, dass ich so dumm bin, zu einer Zeitung zu gehen, um zu erklären, dass ich eine Geheimabsprache habe?«, sagte er in der Debatte.
Der volle Steuersatz von zehn Prozent soll anscheinend erst ab einem Gewinn von zehn Millionen Euro fällig werden. Darunter würden niedrigere Steuersätze gelten. Gewinne zwischen einer Million und 2,5 Millionen Euro sollen mit 1,25 Prozent besteuert werden, bis fünf Millionen Euro werden 2,5 Prozent fällig, ab fünf Millionen Euro sind es fünf Prozent. Wer mehr als 20 Prozent an einem Unternehmen besitzt, kann einen Freibetrag von einer Million Euro beanspruchen. Wer bei Investitionen Verlust erleidet, kann diesen vom Gewinn abziehen, der innerhalb eines Jahres mit anderen Aktien erzielt wurde. Die Ertragssteuer soll auch auf Anlagen in Kryptowährungen erhoben werden.
Mogelpackung Kapitalertragssteuer
Die Kapitalertragssteuer sei nur auf Wunsch der sozialdemokratischen Vooruit in den Koalitionsvertrag geschrieben worden, so Bouchez, und das auf den letzten Drücker. »In einem Regierungsabkommen legt man Ziele, Grundsätze und Strategien fest. Die Modalitäten sind Sache des Finanzministers.« Der heißt Jan Jambon und ist ein Parteifreund von Bart De Wever. »Wenn Jambon seinen Gesetzentwurf fertig hat, werden wir noch einmal darüber diskutieren«, kündigte Bouchez lapidar an. Er wähnt sich in einer starken Position. De Wever und er verabscheuen die belgische Linke, die in der Wallonie seit 1988 mit Ausnahme eines Intermezzos von zwei Jahren durchgehend den Regierungschef stellte. Seit der Wahl 2024 ist aber der Mouvement Réformateur mit Ministerpräsident Adrien Dolimont am Ruder. Flanderns Abspaltung sei deshalb nicht mehr nötig, meint Bouchez, jetzt wo sich die Wallonie von den angeblich überholten Rezepten des sozialdemokratischen Parti Socialiste verabschiede.
De Wever hätte Bouchez gerne als Innenminister ins Kabinett eingebunden, aber der bleibt lieber als Abgeordneter im Parlament – um von dort aus die Regierung aufs Korn zu nehmen, wie viele vermuten. »Warum sollte ich eine Regierung kritisieren, die 70 Prozent von meinem Programm ausführt?« entgegnete Bouchez. »Arbeitsmarkt: mein Programm. Energie: mein Programm. Sicherheit: mein Programm. Nur bei der Verringerung der Lasten wäre ich gerne weitergegangen. Aber ich habe doch eine Steuerentlastung von anderthalb Milliarden Euro erreicht und viele neue Belastungen verhindert«, klopft er sich selbst auf die Schulter. »Die Kapitalertragssteuer war der Preis, den ich bezahlen musste.« Jetzt versucht er anscheinend, diesen Preis nachträglich neu zu verhandeln.
Damit bringt er die Koalitionspartnerin Vooruit schwer in Bedrängnis. Die Kapitalertragssteuer war für die flämischen Sozialdemokraten die Bedingung, als einzige linke Partei ins Regierungsboot zu steigen. Dafür müssen sie sich im linken Lager jetzt den Vorwurf gefallen lassen, den Nationalisten De Wever ins Amt gehievt zu haben. Das einzige Argument, das Vooruit zur Verteidigung vorbringen kann, ist eben die Kapitalertragssteuer. »Ich weiß natürlich nicht, was Bouchez persönlich mit dem Premierminister vereinbart hat. Aber das ist auch nicht relevant. Für uns gibt es eine Grenze, die wir nicht überschreiten werden«, stellte der Vooruit-Vorsitzende, Conner Rousseau, gegenüber der Tageszeitung De Morgen klar. Soll heißen: Falls De Wever und Bouchez versuchen sollten, die Sozialdemokraten aufs Kreuz zu legen, riskieren sie Arizona.
Wenn eine handschriftlich festgehaltene Absprache zwischen De Wever und Bouchez existiere, müsse dieses Papier den Abgeordneten offengelegt werden, verlangt die Partei der Arbeit (PTB-PVDA). Sie ist mit 15 Sitzen die drittstärkste Kraft in der Opposition. »Wir wollen auch Klarheit über die Einnahmen aus dieser Kapitalertragssteuer. Im Haushalt wird von Einnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro ausgegangen. Auf welcher Grundlage wurde diese Berechnung vorgenommen?« Die Marxisten halten die Kapitalertragssteuer, die im Koalitionsvertrag übrigens »Solidaritätsbeitrag« genannt wird, ohnehin für Augenwischerei. Eine echte Belastung der Reichen könne nur durch eine Vermögenssteuer erzielt werden. »Auch nach der Einführung der Kapitalertragsteuer können sie weiterhin Steuerschlupflöcher ausnutzen und so auf die erzielten Kapitalerträge keine Steuern zahlen«, erklärte die Partei am 18. Februar in einem Dossier auf ihrer Homepage. Zwischen Kapitalgewinnen von Privatpersonen und Unternehmen bestehe ein Unterschied. »Dieser Unterschied ist entscheidend, um zu verstehen, wer bei Arizona die Kapitalertragsteuer zahlt und wer nicht.« Von einer natürlichen Person realisierte Kapitalgewinne unterlägen der Einkommenssteuer, die von Unternehmen der Körperschaftssteuer, die zwischen 20 und 25 Prozent betrage. »Unter bestimmten Bedingungen können Kapitalgewinne, die ein Unternehmen beim Verkauf von Anteilen an einem anderen Unternehmen erzielt, zu 100 Prozent von der regulären Körperschaftsteuer befreit werden.«
Generalstreik angedroht
»Das ist ein katastrophales Abkommen. Der soziale Rückschritt wird enorm sein«, sagt der sozialistische Gewerkschafter Engelaar voraus. Die neue Regierung verlangt, dass in den nächsten beiden Jahren die Löhne nicht über den gesetzlich festgelegten Rahmen hinaus wachsen. Sie erklärt auch schon beschlossene Abmachungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern für null und nichtig, wie zum Beispiel eine bessere Vorruhestandsregelung, die ab dem Sommer gelten sollte. »Das ist Vertragsbruch«, schimpft Engelaar und droht mit dem Generalstreik. »Es ist der Punkt erreicht, an dem es notwendig ist. Ein solcher Streik muss spürbar sein. (…) Mit höflichen Bitten werden wir nichts erreichen. Ein Streik ist die einzige Möglichkeit, dass man uns noch zuhört.«
An dem Streik der Lokführerinnen und -führer und Zugbegleiter der staatlichen Bahngesellschaft, der am 21. Februar, um 22 Uhr begann und neun Tage dauerte, beteiligte sich die große sozialistische Eisenbahnergewerkschaft ACOD-Spoor allerdings noch nicht. Hier waren zwei kleine, unabhängige Syndikate federführend, die ausschließlich Bedienstete der Bahn vertreten. Der Streik, der den Fahrplan ordentlich durcheinanderbrachte, richtete sich gegen die geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters. »Einen über 65jährigen Lokführer einen Zug fahren zu lassen wird nicht funktionieren«, erklärte ein Lokführer bei VRT Nws seine Motivation. Bei der staatlichen Bahn verdiene man weniger als in einem privaten Unternehmen. »Man weiß, dass man sehr unregelmäßige Arbeitszeiten hat, was sich stark auf das Privatleben auswirkt. All das nimmt man in Kauf, wenn man dafür etwas schneller in Rente gehen kann.« Doch nach den Plänen der Regierung müsse er acht Jahre länger arbeiten und habe am Ende weniger Rente. Um die volle Rente zu erhalten, müsse man 36 Jahre im Betrieb beschäftigt gewesen sein. Habe man eine Zeitlang woanders gearbeitet, werde das nicht angerechnet.
Die nächsten Streiktermine stehen schon fest. Am 17. März wird erneut bei der Bahn gestreikt. Am 31. März streiken einen Tag lang landesweit alle Branchen. Von April bis einschließlich Juni stehen vier Streiktage pro Monat auf dem Programm, jeweils in verschiedenen Regionen. Man wird sehen, ob sich die Regierung durchsetzen kann.
Gerrit Hoekman schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. Oktober 2024 über den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und die israelischen Reaktionen: »Die Armee hat versagt«
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