Ich sehe was, was du nicht bist
Von Felix Bartels
»Sieh dir die Wolken mal an, / Sehn sie nicht aus wie Gesichter?« umsang der Kinderliedermacher Gerhard Schöne eine basale menschliche Erfahrung. Das Fachwort für die Eigenheit unseres Hirns, in allen möglichen Gegenständen Gesichter zu sehen, lautet Pareidolie. Ob es sich dabei um eine Fähigkeit oder eine Unfähigkeit handelt, bliebe zu klären. Offenkundig eine Art Fehlleistung, kann Pareidolie auch mit der ungemein praktischen Fähigkeit des Menschen im Zusammenhang stehen, ihm bekannte Gesichter im Alltag schnell wiederzuerkennen.
Eine Studie von Pranjul Gupta und Katharina Dobs an der Justus-Liebig-Universität Gießen hat sich dem Problem nun kognitionswissenschaftlich genähert. Die Forscher bemühten hierfür KI-Programme mit verschiedenen neuronalen Netzwerken. Einige davon waren auf die Identifikation einzelner Gesichter trainiert, andere auf die allgemeine Erkennung von Gesichtern, wiederum andere auf die von beliebigen Objekten und die Einordnung von Objekten in Kategorien. Die Forscher legten den Programmen entweder Objekte mit gesichtsähnlichen Merkmalen oder menschliche Gesichter vor. Die Ergebnisse wurden mit den neuronalen Aktivitäten von 22 Versuchspersonen aus einer früheren Studie abgeglichen, denen man dieselben Bilder vorgelegt hatte, deren Reaktion wurde mittels Magnetoenzephalographie gemessen.
Das Ergebnis des Abgleichs: Lediglich eines der neuronalen Netzwerke reagierte ähnlich wie die menschlichen Probanden, nämlich pareidolisch. Dieses Netzwerk war zuvor trainiert worden, sowohl Gesichter zu identifizieren als auch Objekte in verallgemeinerbare Kategorien einzuordnen. Woraus die Forscher schlossen, dass auch das menschliche Gehirn beide Fähigkeiten in derselben Phase entwickelt haben könnte. Entsprechend interpretieren sie Pareidolie im Zusammenhang evolutionärer Entwicklung, denn die Fähigkeit, bekannte Gesichter zu erkennen, habe den Nebeneffekt, auch dort Gesichter zu sehen, wo keine sind.
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