Die Seuche der Armen
Von Michael Kohler
Der endgültige Sieg über die Cholera erschien noch vor wenigen Jahren in greifbarer Nähe. 2017 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Aktionsplan mit dem Ziel, die Krankheit bis 2030 in bis zu 20 Ländern vollständig zu eliminieren, die Todesfälle um 90 Prozent zu reduzieren und die Übertragung durch Zugang zu sauberem Wasser, bessere sanitäre Einrichtungen und Impfprogramme weltweit zu stoppen.
Im Februar 2025 jedoch berichtete die WHO von aktuellen Choleraausbrüchen unter anderem aus folgenden Ländern: Afghanistan, Angola, Bangladesch, Burundi, Demokratische Republik Kongo, Äthiopien, Ghana, Malawi, Mosambik, Myanmar, Niger, Nigeria, Pakistan, Somalia, Südsudan, Sudan, Thailand, Togo, Uganda, Vereinigte Republik Tansania, Jemen, Sambia und Simbabwe.
In seinem Buch »We Feed the World« schrieb der damals als UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung tätige Jean Ziegler 2005 die folgenden, durch ihre Eindringlichkeit sehr bekannt gewordenen Sätze: »Die Weltwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.«
Etwa jeder dritte der rund neun Millionen Menschen, die jährlich an Hunger oder hungerbedingten Krankheiten sterben, ist ein Kind. Die Zahlen der Todesopfer durch Hunger und die der durch Cholera liegen in unterschiedlichen Größenordnungen, erstere im siebenstelligen, letztere im vier- bis fünfstelligen Bereich. Und dennoch haben beide Menschheitsprobleme wesentliches gemeinsam: Zum einen ist die Cholera genau wie der Welthunger eine Todesursache, die – mit den Worten der WHO – »vermeidbar und leicht behandelbar ist«. An der also, um es deutlich zu sagen, bei einer gerechteren Verteilung der Ressourcen niemand sterben müsste. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass vor allem Kinder davon betroffen sind. Mehr als jedes zweite Todesopfer der Cholera ist jünger als fünf Jahre.
Die Cholera ist eine schwere Infektionskrankheit, die durch ein Bakterium namens Vibrio cholerae verursacht wird. 85 Prozent der Infektionen bleiben symptomlos, bricht die Krankheit jedoch aus, sterben ohne Behandlung 20 bis 70 Prozent der Betroffenen. Die Infektion geschieht vor allem über verunreinigtes Trinkwasser und infizierte Nahrung, sie führt zu Erbrechen und schweren, reiswasserartigen Durchfällen, was innerhalb weniger Stunden zu Untertemperatur, Kollaps und Tod führen kann. Cholera gehört zu den am schnellsten tödlich verlaufenden Infektionskrankheiten. Früher wurde sie auch als »Blauer Tod« bezeichnet, weil sie extreme Austrocknung verursacht, die die Durchblutung einschränkt, wodurch die Haut sich blau verfärbt, vor allem an den Extremitäten und im Gesicht.
Eine deutliche, zum Teil dramatische Zunahme der Cholerafälle ist seit Jahren zu beobachten, vor allem 2022, vermutlich ebenso 2024 und 2025. Das bezieht sich sowohl auf die Anzahl der Erkrankungen und der Todesfälle als auch der betroffenen Länder. Auch treten in Ländern, in denen die Cholera viele Jahre nicht mehr präsent war, wieder vermehrt Fälle auf.
Dabei bilden die von der WHO angegebenen Zahlen das Ausmaß nicht einmal vollständig ab. Die WHO selbst bezeichnet ihre Statistik dezent als »Untererfassung«. Etliche Länder beteiligen sich gar nicht am Meldesystem, andere melden zu niedrige Zahlen. Dafür gibt es viele Gründe: Erkrankungen werden nicht korrekt diagnostiziert, weil sie in abgelegenen Gegenden ohne medizinische Versorgung stattfinden. Zahlen werden nicht weitergemeldet, weil etwa ›wirtschaftliche Folgen‹ befürchtet werden. Durch unzureichende Überwachungssysteme und fehlende Ressourcen scheint sich das Problem der Untererfassung eher noch zu vergrößern. Das wiederum betrifft besonders Gemeinschaften, die durch Armut, Konflikte, Naturkatastrophen oder schwache Gesundheitssysteme aktuell von Cholera sowie von anderen Seuchen wie Denguefieber, Masern und Mpox (früher Affenpocken) besonders bedroht sind.
Die bis 2023 von der WHO veröffentlichten Zahlen sind düster, obwohl sie das immense Dunkelfeld nicht umfassen: In den vier Jahren seit 2020 stieg die Zahl der betroffenen Länder von 29 auf 45, die der Erkrankten von 323.000 auf 610.000 und die der Todesfälle von 857 auf über 4.000. Sehr beunruhigend ist die überproportionale Zunahme der Todesfälle, so stieg 2023 die Zahl der Erkrankten gegenüber dem Vorjahr um 13 Prozent, die der Todesfälle aber um 71 Prozent. Hierbei dürften Antibiotikaresistenzen eine Rolle spielen. Von 2016 bis 2022 ereignete sich im Jemen die bisher größte und längste Choleraepidemie der neueren Geschichte mit mehr als 2,5 Millionen Erkrankungen und mindestens 4.000 Todesfällen. Ab 2019 wurde dort ein multiresistenter Stamm (bei dem viele Antibiotika nicht mehr wirken) des Cholerabakteriums beobachtet, der in der Folge auch im Libanon und in mehreren ostafrikanischen Ländern, 2024 auch auf den Komoren nachgewiesen wurde.
Eine zweite Ursache der überproportional gestiegenen Todesrate ist die extreme Überlastung der Gesundheitssysteme. Die WHO verweist immer wieder auf überfüllte Krankenhäuser, mangelndes medizinisches Personal, fehlende Rehydrierungslösungen und Impfstoffe. Seit vielen Jahren ist für die Länder des globalen Südens nicht genug Choleraimpfstoff verfügbar. Trotz steigender Nachfrage erscheint dessen Herstellung den Pharmakonzernen nicht rentabel genug. Das ist empörend und belegt, dass die Vergesellschaftung der Pharmaproduktion schon zur Rettung Zehntausender Menschenleben vor der Cholera unerlässlich ist.
Die WHO fasst das bedrückende Seuchengeschehen mit nüchternen Worten zusammen: »Konflikte, Massenvertreibungen, Naturkatastrophen und der Klimawandel haben die Ausbrüche verschärft, insbesondere in ländlichen und überschwemmungsgefährdeten Gebieten, wo schlechte Infrastruktur und begrenzter Zugang zur Gesundheitsversorgung die Behandlung verzögern. Diese grenzüberschreitenden Faktoren haben dazu geführt, dass Choleraausbrüche immer komplexer und schwieriger zu kontrollieren sind.«
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