»Architektur ist eine Waffe, mit der Völkermord verübt wird«
Von Karim Natour
Eyal Weizman ist ein in Israel geborener britischer Architekt und Direktor der Forschungsagenturen Forensic Architecture in London sowie Forensis in Berlin.
Sie sind Architekt. Warum haben Sie im Februar in Berlin auf einem Podium mit der UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, gesprochen?
Zunächst einmal: Ich habe mich nicht selbst eingeladen. Ich bin eng mit Francesca befreundet, und wir arbeiten oft zusammen. Die Forschungsorganisation Forensic Architecture, die ich leite, unterstützt das südafrikanische Anwaltsteam in Den Haag im Zusammenhang mit der Klage Südafrikas gegen Israel wegen Völkermordes. Bei der Veranstaltung im Februar wurde ich gebeten, eine evidenzbasierte juristische Analyse des israelischen Völkermordes in Gaza vorzutragen. Die UN-Sonderberichterstatterin und ich sind beide starke Verfechter des Völkerrechts. Die Einhaltung des Völkerrechts sollte eigentlich ein Mainstream-Thema sein. In Deutschland hingegen werden wir als hasserfüllt oder radikal dargestellt, obwohl wir lediglich ein Ende der Greueltaten, des aktuellen Völkermordes und der vorangegangenen Apartheid und Besatzung fordern.
Sie haben die Organisation Forensic Architecture erwähnt, die Sie 2010 in London gegründet haben. Was erforschen Sie, und wie gehen Sie dabei vor?
Es gibt eine Vorgeschichte zum 7. Oktober. Ich meine die Vertreibung und Entmenschlichung der Palästinenser, die Kolonialisierung des Landes, die seit Jahrzehnten andauert. Der Krieg, der nach dem 7. Oktober schnell in einen Völkermord ausartete, hat eine bedeutende räumliche Dimension – die Zerstörung der Umwelt ist einer der wichtigsten Gesichtspunkte für den Nachweis eines Völkermordes. Artikel II c) der UN-Völkermordkonvention besagt, dass die Schaffung von Lebensbedingungen, die zur Vernichtung eines Volkes führen, einen Genozid darstellt.
Können Sie das näher erläutern?
Zu diesen Lebensbedingungen gehören Gebäude, Krankenhäuser, Schulen und andere zivile Infrastruktur, die die Gesellschaft zusammenhält. Diese wurden im Gazastreifen systematisch dem Erdboden gleichgemacht. Dazu gehört auch die Zerstörung der Landwirtschaft und der Ernährungssicherheit. Das gleiche gilt für das Gesundheitswesen, das systematisch angegriffen wurde. Der Einsatz von Architektur als Waffe – die Umgestaltung der Umwelt – ist zum Mittel des Völkermordes geworden. Die Verbrechen lassen sich also auch in der Architektur nachweisen.
Das israelische Vorgehen im dicht besiedelten Gazastreifen hat internationale Kritik auf sich gezogen. Wie untersuchen Sie die »Architektur als Waffe«, wie Sie es ausdrücken?
Meine Kollegin Nour Abuzaid, eine Palästinenserin aus dem Gazastreifen, hat mir zu Beginn des Krieges etwas sehr Wichtiges gesagt: Wenn Menschen filmen und es hochladen, wollen sie, dass es angesehen wird. Es ist unsere Pflicht, nicht wegzuschauen. Bei Forensic Architecture schauen wir uns die Videos auch an, damit andere das nicht müssen – sie sind zu traumatisierend. Jedes Video ist ein Zeugnis der Menschen vor Ort. Wir suchen in den Zehntausenden von Schnipseln nach Mustern. Das ist also nicht derselbe Ansatz, den wir in Deutschland beim Anschlag in Hanau oder beim NSU verfolgt haben. In Gaza geht es nicht um die Frage, wer eine Straftat begangen hat – denn das ist offensichtlich. Uns interessiert, ob systematische Zusammenhänge zwischen verschiedenen Greueltaten zu erkennen sind. Unsere Leitfrage lautet also: Ergibt sich ein Bild, das auf einen Völkermord hinausläuft?
Wie lautet Ihre Antwort?
Wir sehen, dass es Israel nicht um die Zerstörung eines bestimmten Gebietes geht, sondern um die vollständige Vernichtung von allem, was zum Leben notwendig ist. Ein weiteres Beispiel: Obstplantagen und Felder werden angegriffen, während gleichzeitig Hilfslieferungen ins Visier genommen werden – wie bei dem »Mehlmassaker« im Februar 2024. Wir haben inzwischen Dutzende von ähnlichen Vorfällen registriert. Die Zerstörung der Landwirtschaft verstärkt die Auswirkungen der ohnehin beschränkten Hilfen.
In einer Al-Dschasira-Dokumentation über die »Architektur der Besatzung« beschreiben Sie Architektur als »langsame Gewalt«. Was meinen Sie damit?
Meine Arbeit begann mit der Kartierung der israelischen Siedlungspolitik im Zusammenhang mit der Kolonisierung des Westjordanlands. Ich habe gezeigt, wie die israelischen Planer auf dem Reißbrett einen Raum geschaffen haben, der es der jüdischen Gemeinschaft ermöglicht, Land und Wasser zu bekommen und die besten Gebiete zu besiedeln. Um dies zu erreichen, müssen die palästinensischen Gebiete stetig schrumpfen. Die Bewohner werden Stück für Stück verdrängt. Seit Generationen werden palästinensische Städte, Dörfer, Felder und Landschaften systematisch zerstört, Menschen vertrieben und auf den Ruinen Siedlungen gebaut – ausschließlich für Juden. Die Geschichte wird durch architektonische Veränderungen sichtbar. Was wir in Gaza sehen, ist schlicht die Beschleunigung der schleichenden architektonischen Gewalt, die es schon immer gegeben hat.
Neben dem Krieg im Gazastreifen stehen also vor allem die Siedlungen im Westjordanland im Mittelpunkt Ihrer Analyse. Wie unterscheidet sich die Situation von dem Gebiet innerhalb der offiziellen israelischen Staatsgrenzen?
In meinem ersten Buch habe ich mich auf die Geschichte der Architektur des israelischen Siedlerkolonialismus in Palästina konzentriert. Seit dem frühen 20. Jahrhundert, also noch vor der Staatsgründung, wurden zionistische Siedlungen mit Wehrtürmen und Mauern in von Palästinensern bewohnten Gebieten errichtet. Wo immer diese hoch aufragenden Siedlungen gebaut wurden, wurde das Gebiet um sie herum systematisch ethnisch gesäubert. Später, während der Nakba (Vertreibung der Palästinenser ab 1948, jW), ging die systematische Zerstörung von Städten und Dörfern Hand in Hand mit neuen Bauprojekten. Israelische Planer errichteten Kibbuzim auf gestohlenem palästinensischem Land, vor allem im Gazastreifen. Dies ist für die aktuelle Situation von Bedeutung: Die Siedlungen, die am 7. Oktober angegriffen wurden, sind praktisch die erste Verteidigungslinie der Belagerung des Gazastreifens. Es handelt sich um eine künstliche Struktur, eine Folge der Nakba. Davor war der Gazastreifen mit arabischen Städten wie Hebron (Al-Khalil, jW) und Beerscheba verbunden. Nach dem Ende des Krieges 1948 blieb die ägyptische Armee entlang der Strecke zwischen Rafah und Gaza stationiert. Israel isolierte das Gebiet. Die Belagerung hat also nicht erst in den letzten zwei Jahrzehnten begonnen. Sie wurde ursprünglich von zivilen Kibbuzim und ihren Feldern errichtet, die die Grenze bildeten. Die sogenannte organische Mauer, die gebaut wurde, um über 200.000 palästinensische Geflüchtete einzusperren.
Unterscheidet sich die Architektur als Element der Kontrolle in Palästina/Israel von anderen kolonialen Situationen?
Jedes Kind ist anders, aber sie kommen aus der gleichen Familie. Wir analysieren zum Beispiel auch den deutschen Völkermord zu Beginn des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia. Die deutschen Siedlungen und die Art und Weise, wie die Umwelt in den Herero- und Nama-Gebieten verändert wurde, weisen Ähnlichkeiten zu Palästina auf. Die deutschen Kolonialherren versuchten damals, die vermeintliche Wüste in eine »blühende Landschaft« zu verwandeln. Das ist die gleiche »Lebensraumpolitik« wie beim Zionismus. So geht man vor, wenn man versucht, eine Bevölkerung durch eine andere zu ersetzen.
Sie sind israelischer Staatsbürger. Wie wird Ihre Arbeit in Ihrem Heimatland aufgenommen?
Ich war immer Teil des binationalen Widerstands gegen die israelische Apartheid. Es gab stets eine kleine antikoloniale Bewegung in Israel. Ich hatte und habe Freunde, sowohl jüdische als auch arabische, die gemeinsam für Gerechtigkeit und Freiheit in Palästina gekämpft haben. Palästina zu befreien bedeutet für mich auch, uns aus der Rolle der Unterdrücker zu befreien. Wissen Sie, ich tue diese Arbeit nicht aus Hass. Ich tue sie aus Liebe zu dem, was sein könnte.
Und was könnte das sein?
Ich glaube, dass ein gemeinsamer demokratischer Staat die einzige gerechte Lösung und in gewisser Weise sogar unvermeidlich ist. Gleiche Rechte für alle. Die Abschaffung der jüdisch-israelischen Vorherrschaft. Ich bin in Haifa geboren, meine Mutter in Deutschland, ihr Großvater in Polen. Aber weder Polen noch Deutschland sind meine Heimat. Ich bin ein Kind dieses Landes.
Werden Sie wegen Ihrer Arbeit angegriffen?
Es gibt viele Menschen, die sehr wütend darüber sind, was wir tun. Mehr werde ich dazu nicht sagen.
Hintergrund: Zerstörung in Zahlen
Die israelische Kriegführung im dicht besiedelten Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 hat die Lebensbedingungen der knapp über zwei Millionen Einwohner fast vollständig zerstört. Laut einem Bericht des Time-Magazines vom Februar 2025 sind seit Ausbruch des Krieges rund 90 Prozent der Bevölkerung vertrieben worden. Mehr als 92 Prozent aller Wohneinheiten und nahezu alle Schulgebäude wurden beschädigt oder vollständig zerstört. Ebenso mehr als 84 Prozent der Gesundheitseinrichtungen. Über 48.200 Palästinenser wurden bisher getötet – zwei Prozent der Vorkriegsbevölkerung – mindestens die Hälfte davon Minderjährige und Frauen. Eine Studie der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet vom Januar 2025 geht davon aus, dass die offizielle Zahl der Todesfälle in den ersten neun Monaten des Krieges noch höher liegt. Die Autoren meinen, dass die Sterbezahlen bis Oktober 2024 die Marke von 70.000 überstiegen haben. Die Organisation Human Rights Watch erklärte, bis Ende August 2024 habe das israelische Militär mindestens 31 von 54 Wasserreservoirs zerstört. Zwischenzeitlich waren über 96 Prozent des Trinkwassers nicht zum Verzehr geeignet und nahezu die gesamte Bevölkerung war durch die Blockade von Hilfslieferungen und die Zerstörung von Feldern von Nahrungsunsicherheit betroffen. Eine Untersuchung des katarischen Senders Al-Dschasira ergab, dass Israel den hungernden Menschen im Gazastreifen systematisch Hilfe und Wasser verweigert hat. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) warnte vergangene Woche davor, dass durch die Abschaltung der wichtigsten Entsalzungs- und Wasseraufbereitungsanlage die Gefahr einer Überschwemmung mit Abwasser in zivilen Gebieten steigt. Anfang März 2025 hatte Israel den Strom für die Entsalzungsanlage im Süden des Gazastreifens abgeschaltet. Laut den Vereinten Nationen hat das Vorgehen der israelischen Armee seit Oktober 2023 rund 50 Millionen Tonnen Schutt und Trümmer hinterlassen. Nach Angaben der palästinensischen Behörde für Umweltqualität wurden in dem Zeitraum über 85.000 Tonnen Bomben auf den Gazastreifen geworfen. Das entspricht etWwa dem Dreifachen der Menge, die während des Zweiten Weltkriegs auf Dresden, Hamburg und London zusammen abgeworfen wurde. Dutzende Moscheen und ganze Straßenzüge wurden gesprengt. Die Kosten für einen Wiederaufbau werden aktuell auf rund 53 Milliarden US-Dollar geschätzt. Auch im Westjordanland wurde seit Ausbruch des Krieges zivile Infrastruktur gezielt angegriffen. In Städten wie Dschenin, Tulkarem und Nablus wurden Straßen, Wasserleitungen, Abwassersysteme und Wohnhäuser beschädigt oder vollständig zerstört. (kan)
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