Die Jagd nach der Bombe
Von Hartmut Sommerschuh
Der Wettlauf um die Atombombe zwischen Russen und Amerikanern war schon Kalter Krieg. Er begann in der kleinen Havelstadt Oranienburg im Norden Berlins. Ihre Bombardierung am 15. März 1945 unter anderem mit 4.000 Langzeitzünderbomben durch die 8. US Air Force war in der Kriegsgeschichte einmalig. Sie galt den Auer-Werken, die für das Atomforschungsprogramm der Nazis Uran aufbereiteten. Nichts sollte der Roten Armee in die Hände fallen. Das misslang. Aber noch immer halten über 250 Blindgänger die Stadt in Atem.
Als die B-17-Bomber der 8. US Air Force am 15. März 1945 nachts auf einem Flugplatz in Mittelengland mit Brand- und Sprengbomben beladen wurden, bekam die 3. Air Division besondere Fracht: 4.000 Langzeitzünderbomben mit Flügelrädern. Während des Abwurfes drehte der Wind eine Stange immer tiefer ins Heck und zerdrückte eine Ampulle mit Aceton. Das zersetzte einen Zelluloidring, der den Schlagbolzen festhielt. Je nach Größe sollten die Bomben erst nach Stunden oder Tagen explodieren. Selbst die Piloten kannten den Grund und auch das wirkliche Ziel nicht. Ihr Einsatzbefehl lautete Verladebahnhof Oranienburg, » M/Y: Marshalling Yard«. Nicht die Auer-Werke gleich daneben.
Die Auer-Werke
Firmengründer Carl Auer von Welsbach hatte die Leuchtkraft erhitzter schwach radioaktiver Salze entdeckt, den Glühstrumpf für Gaslaternen und später Glühbirnen entwickelt. Unter seiner Mitwirkung gründete sich 1892 in Berlin die Berliner Gasglühlicht-, später Auer-Gesellschaft, auch die Marke Osram geht auf ihn zurück. 1903 wurden Teile der Produktion nach Oranienburg verlagert, wo es schon seit 1820 chemische Betriebe gab. Man errichtete das Auer-Werk für »seltene Erden«.
Die Einwohner staunten, als per Schiff und Bahn riesige Mengen von Sand kamen – Monazitsand aus Indien und Brasilien. Man gewann aus ihm Thoriumnitrat und Cernitrat für die Glühstrümpfe. Eine Gasflamme brachte die Salze zum Leuchten. Große Sandmengen blieben zunächst als Abfall liegen. Bis im Auftrag der Geschäftsleitung Wissenschaftler weitere Stoffe aus der Gruppe der »seltenen Erden« fanden: Neodym, Samarium und radioaktive Stoffe wie Uranoxid. Erfolgreiche Produkte entstanden, Brillengläser mit Antiblendwirkung, Heilmittel gegen Krebs, die radioaktive Zahnpasta »Doramad«.
1927 kam der in Sankt Petersburg als Sohn eines Siemens-Ingenieurs geborene Nikolaus Riehl zu Auer. Er war bei Lise Meitner und Otto Hahn promoviert worden und interessierte sich für die radioaktiven Substanzen und das von Otto Hahn entdeckte Mesothorium. Seine besondere Leidenschaft waren lumineszierende Substanzen.
Riehl entwickelte selbstleuchtende Farben, Röntgendurchleuchtungsschirme und die allbekannte Leuchtstoffröhre. Zwischen 1926 und 1928 waren die Auer-Werke mit 900 gut ausgebildeten Facharbeitern das größte Unternehmen Oranienburgs. Ab 1934 kam die Firma zur Degussa AG in Frankfurt am Main. Bis dahin waren ihre Hauptaktionäre der jüdische Bankier und Unternehmer Leopold Koppel und sein Sohn Albert gewesen. Nach der »Arisierung« wurde im Dritten Reich in den Schmelzöfen der »Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt« (Degussa) auch das Zahngold ermordeter Juden verarbeitet. Die Tochterfirma Degesch (»Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung«) lieferte Zyklon B für die Gaskammern.
Bereits 1936, als der »Vierjahresplan« beschlossen wurde, tauchte in geheimen Denkschriften das eigentliche Ziel auf: »Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.« Für die Auer-Werke bedeutete das den Startschuss für die Erforschung und Produktion der neuen Volksgasmaske »VM37«. Ihre Dichtheit wurde mit radioaktiven Indikatoren aus Riehls Labor gemessen und sogar an Oranienburger Schulkindern getestet, wie der Lokalhistoriker und ehemalige Direktor der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen/Oranienburg Hans Biereigel herausgefunden hat.
Nach Kriegsbeginn arbeiteten für die Gasmaskenproduktion in der Oranienburger »Auer-Gesellschaft AG Berlin, Schutzhaftlager Werk II-Oranienburg« weibliche KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen, russische Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangene. Sie wohnten gleich nebenan hinter Stacheldraht in rasch aufgestellten Baracken ohne schützende Bunker, wie es sie unter den Fabrikgebäuden gab. Exporte der Gasmasken gingen bis nach Ankara. Rüstungsaufträge machten 80 bis 90 Prozent des Umsatzes der Auer-Werke ab 1942 aus.
Das Uranprojekt
Am 17. Dezember 1938 entdeckte Otto Hahn im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem die Kernspaltung. Nach der Bestrahlung von Uran mit Neutronen fand sein Assistent Fritz Straßmann Spaltprodukte wie Barium, die nur künstlich entstanden sein konnten. Hahns Mitarbeiterin Lise Meitner, die als Jüdin schon im Sommer nach Schweden emigriert war, deutete im Januar 1939 mit ihrem Neffen Otto Frisch, Physiker bei Niels Bohr in Kopenhagen, den Vorgang im Briefwechsel mit Hahn theoretisch: Offenbar »zerplatzen«, »zerspalten« Atomkerne, wenn man sie mit Neutronen beschießt. Diese Spaltung von Urankernen wurde die Voraussetzung für eine zivile wie militärische Anwendung. Während führende Physiker von einer friedlichen Nutzung der Kernspaltung in einer »Uranmaschine« träumten, beschloss das Oberkommando des Heeres mit dem »Uranprojekt« eigene Forschungsvorhaben – versprach die Kernphysik doch völlig »neue Sprengstoffe«.
Nikolaus Riehl, der nach seiner Habilitation 1938 in den Auer-Werken Direktor der »Wissenschaftlichen Hauptstelle« wurde, sah in der Herstellung »reinsten Urans« eine Hauptaufgabe. Die metallurgischen Erfahrungen der Degussa boten gute Voraussetzungen für »die Überführung des Urans in den Metallzustand«.
Riehl gehörte zu den ersten Wissenschaftlern, die dem Heereswaffenamt hoffnungsvoll schrieben, was die Entdeckung bedeuten könnte. Schon im September 1939 kam es in Berlin-Dahlem zu einem Treffen zwischen Wissenschaftlern und Militärs. Bei den Auer-Werken wurde angefragt, ob sie aus ihren Vorräten mehrere Tonnen Uranverbindungen bereitstellen könnten. Die Werksleitung ließ sofort unter Riehls Leitung eine Produktionsanlage für Uranoxid, später auch für das Erschmelzen von Uranmetall, bauen. Ende 1940 standen 240 Kilogramm hochreines Uranmetall für Versuche bereit. Zum Forschungsverbund unter Führung des Reichsforschungsrates gehörten neben den Auer-Werken die Kaiser-Wilhelm-Institute, Firmen wie Siemens, AEG und die Reichspost. Die ersten Reaktorversuche fanden ab 1940 in Gottow unter der Leitung des Kernphysikers Kurt Diebner, in Berlin-Dahlem unter Werner Heisenberg und am Institut für Physikalische Chemie an der Universität Hamburg unter Paul Harteck statt.
In der chemisch-physikalischen Versuchsstelle Gottow südlich von Berlin versuchte Kurt Diebner einen »lauffähigen« Nuklearreaktor zu entwickeln. Dazu experimentierten er und sein Team in mehreren Versuchsreihen mit einer Neutronenquelle, metallischen Uranwürfeln, Paraffin und schwerem Wasser. Das Uran kam von den Auer-Werken, das schwere Wasser aus dem Werk Vemork der Firma Norsk-Hydro im von der Wehrmacht besetzten Norwegen. Bis zum Kriegsende gelang aber keine Kettenreaktion. Die Menge an Uranwürfeln für die drei Reaktorstandorte und eine Kettenreaktion reichte nicht; Heisenberg, Diebner und Harteck stritten ständig um die geringen Mengen.
Seit der Besetzung der Tschechoslowakei im März 1939 holte Auer seine Uranerze auch aus dem Bergwerk Sankt-Joachimsthal (Jáchymov). Nach der Besetzung Belgiens kamen 1.100 Tonnen Erz aus Katanga in Belgisch-Kongo. Nach dem Einmarsch in Frankreich 1940 übernahm die Auer-Gesellschaft auch das elsässische »Institut für seltene Erden« (Société de Terres Rares) und damit den gesamten Thoriumvorrat Frankreichs.
Da war die Kunde von der Kernspaltung längst in der Welt. Der dänische Quantenphysiker Niels Bohr machte Hahns Entdeckung schon im Januar 1939 auf der fünften Konferenz für Theoretische Physik in Washington, D. C., bekannt. Am 2. August unterzeichnete Einstein einen Brief an US-Präsident Franklin D. Roosevelt, in dem er auf die Konsequenzen der entdeckten Kernspaltung, den möglichen Bau von Atombomben, hinwies.
In der Sowjetunion sah sich Stalin nach dem deutschen Überfall veranlasst, auf das fortgeschrittene Bombenprojekt der Amerikaner und auf Gerüchte über ein deutsches Atomprojekt zu reagieren. Er stimmte 1943 einer Wiederaufnahme des eigenen Atomprogramms zu, unter der Leitung des Physikers Igor Wassiljewitsch Kurtschatow.
Geheimnisverrat?
Anfang Juli 1942 war die erst 25jährige sowjetische Ärztin Galina Romanowa mit 107 weiteren Ärzten zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden. Ende 1942 kam sie zur Betreuung ihrer Landsleute in das »Ostarbeiterlager« von Werk II in Oranienburg. Hier hörte sie bei den jungen Frauen in verschiedenen Abteilungen von Geheimnissen um das »Werk I«, in dem nur ausgewählte, vorwiegend deutsche Facharbeiter tätig waren. Zutritt streng verboten. Dort fand die Uranoxidproduktion statt. Romanowa gab ihre Informationen an die illegale Widerstandsgruppe »Europäische Union« von Georg Groscurth und Robert Havemann weiter. Beide waren einst Chemiker am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie in Berlin.
Groscurth, inzwischen Leiter des Krankenhauses Moabit, unterstützte Galina Romanowa, die sich mit der S-Bahn frei bewegen durfte, heimlich mit Medikamenten. Er wurde, nachdem die Widerstandsgruppe verraten worden war, im Mai 1944 in Brandenburg hingerichtet. Galina Romanowa nach vielen Tagen Folter am 3. November 1944 in Berlin-Plötzensee. Ob ihre Informationen die Amerikaner oder Russen erreichten, ist nicht bekannt. Aber Reichsjustizminister Otto Georg Thierack erteilte der Gestapo den Befehl, »die Angelegenheit Romanowa« streng geheim zu halten.
Oranienburg erlebte 1944 zwei Luftangriffe, fünf kurz vor Kriegsende. Mit mehr als 20.000 abgeworfenen Bomben zählt sie zu den am meisten bombardierten deutschen Kleinstädten.
Hier bauten die Heinkel-Werke für Göring ihre berüchtigten Bomber, hier gab es die Zentrale, das Hauptmateriallager und den Fuhrpark der SS und einen Flugplatz. In den Auer-Werken hatte man Bunker gebaut und in Berlin-Grünau ein weiteres Werk errichtet, das ab Ende 1944 in vier Vakuumschmelzöfen Uranmetall produzierte.
Forschungsleiter Nikolas Riehl zog sich wegen der Luftangriffe auf Berlin schon 1943 mit seiner Familie und weiteren Mitarbeitern wie Erwin Klinge, Günter Wirths und Karl Zimmer nach Kagar bei Rheinsberg zurück. Dort bewohnte er ein Einfamilienhaus und experimentierte in einer Wassermühle im benachbarten Zechlin weiter an der Herstellung von Uranwürfeln aus Pulver bei 1.100 Grad Schmelztemperatur. War doch das oberste Ziel, aus Uranoxid »reinstes« Uranmetall zu erschmelzen, wie es in Riehls Aufzeichnungen heißt.
Wettlauf mit den Sowjets
Nach der Gründung des amerikanischen Manhattan-Projektes zum Bau einer Atombombe war im Bundesstaat Tennessee das Oak Ridge National Laboratory für die Herstellung von angereichertem Uran gegründet worden – eine von 37 geheimen Einrichtungen. Mehr als 150.000 Menschen arbeiteten unter höchster Geheimhaltung direkt oder indirekt am Atomprojekt. Dessen oberster Chef, General Leslie Groves, schickte bei der Landung in der Normandie Agenten in Uniform nach Frankreich. Unter dem Geheimdienstnamen »Alsos« sollten sie ausspionieren, ob ein deutsches Atomprogramm existiert. Die militärische Leitung hatte Oberst Boris Pash.
Ende August 1944 erreichten die Alliierten Paris. Die Alsos-Leute stießen auf den Physiker Frédéric Joliot-Curie in seinem Universitätslabor. Nach ihrem Chemienobelpreis 1935 für die Entdeckung künstlich erzeugbarer Radioaktivität hatten Frédéric und seine Frau Irène bei weiteren Experimenten fast selbst die Kernspaltung entdeckt. Nach der Besetzung durch die Wehrmacht im Juni 1940 war Frédéric allein in der Stadt geblieben. Deutsche Kernphysiker um Kurt Diebner beschlagnahmten sein halbfertiges Zyklotron, wollten die Ergebnisse. Doch als Unterstützer der Résistance hatten er und seine Frau viele Dokumente vernichtet oder schon nach London geschmuggelt.

Am 29. August wurde Frédéric Joliot-Curie von den Alsos-Leuten nach London geflogen, er sollte über das deutsche Uranprojekt berichten. Um die amerikanischen Bombenpläne nicht zu unterstützen, verriet er keine wissenschaftlichen Einzelheiten. Aber die Namen der Deutschen, die in seinem Labor gearbeitet hatten: Erich Schumann, Walther Bothe, Kurt Diebner, Abraham Esau und andere.
Anfang September fanden die Alsos-Leute im Brüsseler Büro des belgischen Uranproduzenten »Union Minière du Haut-Katanga« Hinweise auf Uranlieferungen aus Belgisch-Kongo an die Auer-Werke in Oranienburg. Anfang November erzählte der Schweizer Chemiker Ernst Nagelstein in Paris, was er von einem Freund in Berlin gehört hatte: Otto Hahn würde an einer Bombe bauen, bei der metallisches Thorium oder Uran von den Auer-Werken eingesetzt werde.
Ähnlich war die Sowjetunion im Bilde. Am 15. November 1944 hieß es in einem Bericht der sowjetischen Militäraufklärung GRU: »Die Deutschen sind im Begriff, Tests einer neuen Geheimwaffe mit großer Zerstörungskraft durchzuführen. Unter strengster Geheimhaltung werden in Thüringen Versuchsexplosionen von Bomben ungewöhnlicher Konstruktion vorbereitet.«
Als Ende November Strasbourg eingenommen wurde, fahndete Boris Pash mit seinen Alsos-Leuten an der Universität vergeblich nach dem Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker. Der war geflohen. Aber sie fanden Akten und Briefe. Aus ihnen ließ sich schließen, dass Deutschland noch keine Bombe besaß.
Nun gab es für den Manhattan-Chef General Leslie Groves ein Problem. Oranienburg lag in der künftigen sowjetischen Besatzungszone. Die angloamerikanischen Truppen versuchten gerade erst den Rhein zu überqueren, während die Rote Armee schon seit Februar auf 500 Kilometern Frontlänge an der Oder stand. Das war der Grund, warum Groves reagierte. Nach einer Zusammenfassung aller Alsos-Berichte Mitte Februar 1945 »schickte er einen Emissär zu General Spaatz, den Oberkommandierenden der Strategischen Luftstreitkräfte in Europa, und bat diesen, die Auer-Werke zu zerstören, um sie nicht in russische Hände fallen zu lassen«.¹
Der Angriff
Der 15. März 1945 war ein Donnerstag. Zum ersten Mal hatte die Leitung der Auer-Werke einen »Kohlentag« angeordnet, wie der Oranienburger Regionalhistoriker Hans Biereigel herausgefunden hat. Die Produktion war gedrosselt worden, weil es an Brennmaterial fehlte. Alle etwa 6.000 deutschen Betriebsangehörigen, die sonst aus Berlin, Nauen, Birkenwerder und anderen Orten kamen, wurden angewiesen, an diesem Tag in ihren Heimatorten beim Bau von Panzersperren und Schützengräben mitzuhelfen. Nur für die weiblichen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter im Werk II gab es nicht frei. Sie blieben ungeschützt.
Um 13 Uhr sendete BBC London Nachrichten in deutscher Sprache. Sie endeten mit einer Warnung: »Achtung, Achtung. Die Bevölkerung von Oranienburg wird aufgefordert, sofort die Stadt zu verlassen. Sie wird bombardiert.«
Da waren die am Vormittag in England gestarteten 1.350 Bomber der 8. US-Luftwaffe schon im Anflug. Sie trennten sich bei Haldensleben nördlich von Magdeburg. Eine Hälfte flog zur Ablenkung geradeaus, zum Oberkommando der Wehrmacht in Zossen. Die gesamte 3. Air Division und ein Teil der 1. Air Division schwenkten nach Nordwesten auf Oranienburg, mit den 4.000 Langzeitzünderbomben an Bord.
Um 14.50 Uhr fielen die ersten auf die Stadt. Im Abstand von drei Minuten folgten weitere Bombergruppen. Als die Betriebsfeuerwehr zwischen Werk I und Werk II pendelte, erlitt sie einen Volltreffer. In 50 Minuten starben fast 2.000 Menschen, die Hälfte von ihnen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, auch die im Werk II der Auer-Werke eingesetzten. Tagelang explodierten die Langzeitzünderbomben und behinderten die Löscharbeiten. Vor allem KZ-Häftlinge wurden gezwungen, mit primitivsten Werkzeugen nichtexplodierte Bomben zu entschärfen.
Was die Amerikaner nicht wussten: Der sowjetische Geheimdienstchef hatte seit dem 28. Februar 1945 einen Bericht über den Stand der US-Aktivitäten auf dem Tisch, auch über ein Ereignis im Thüringischen Ohrdruf war er informiert. Dort hatte Kurt Diebner, der mit allen Gerätschaften vom brandenburgischen Gottow nach Stadtilm in Thüringen umgezogen war, am 4. März 1945 eine Bombe unbekannten Typs zünden lassen. Eine grelle Lichtsäule, so eine Augenzeugin, »vergrößerte sich nach oben wie ein Baum«. In einem Bericht der sowjetischen Militäraufklärung GRU an Stalin hieß es: »Vom Zentrum der Explosion wurden Bäume bis zu einer Entfernung von 500 bis 600 Metern gefällt. (…) Kriegsgefangene, die sich im Explosionszentrum befanden, kamen um, wobei häufig von ihnen keine Spur blieb.« Was da explodierte, etwa eine schmutzige Bombe mit etwas Uran und viel Sprengstoff, ist bis heute ungeklärt und strittig.
Geheimdienstchef Lawrenti Berija schlug vor, wichtige Kernphysiker nach Deutschland zu schicken. In Militäruniformen, damit sie Befehle erteilen konnten. Mit der einrückenden Roten Armee fanden sie Ende April 1945 in Oranienburg noch Patente, Dokumente, Laborausrüstung, auch in Kagar und Zechlin sowie Thüringen wurden sie fündig. Sie sammelten insgesamt 330 Tonnen verschiedener Uranverbindungen und sieben Tonnen metallisches Uran – während die Amerikaner im sachsen-anhaltischen Staßfurt über 1.000 Tonnen reines Uran und in einem Bierkeller im baden-württembergischen Haigerloch den Versuchsreaktor von Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker entdeckten.
Der wichtigste Fang
Zwei sowjetische Physikprofessoren in Uniformen mit dem Dienstgrad »Oberst« holten Nikolaus Riehl aus Kagar nach Berlin-Friedrichshagen,wo Lawrenti Berijas Stellvertreter Awraami Zawenjagin, einst Bergbau-, später Atomminister, die Verhöre und Untersuchungen leitete. Zweimal musste Riehl mit in die zerstörten Auer-Werke, wo alles noch Verwertbare demontiert wurde. Schließlich kam er Anfang Juni 1945 mit seiner Familie und 300 weiteren Wissenschaftlern in die Sowjetunion. Darunter war auch die Gruppe des Elektronikspezialisten Manfred von Ardenne.
Nach wochenlanger Standortsuche entstand unter Nikolaus Riehls Leitung 70 Kilometer südlich von Moskau in einer leeren Munitionsfabrik im »Elektrostahlwerk Nr. 12« eine neue Anlage für Uranproduktion. Bei der schwierigen Geräte- und Materialbeschaffung in der kriegszerstörten Sowjetunion halfen ihm oft nur Minister- und Geheimdienstbefehle. Für Riehl wurde es trotz des staatlichen Drucks eine Erfolgsgeschichte. Wie er in seinem 1988 veröffentlichten Buch »Zehn Jahre im Goldenen Käfig« schreibt, gelang schon Anfang 1946 die Produktion »von einigen Tonnen an reaktorreinem Uran« in Form kugelrunder Presslinge. Im Dezember 1946 wurde der erste experimentelle Atomreaktor »F1« am Stadtrand von Moskau zum ersten Mal »kritisch«, beschickt mit allem, was man in Oranienburg und an den anderen Orten gefunden hatte. Am 29. August 1949 wurde die erste sowjetische Atombombe gezündet.
Als 1950 die Produktion von Brennelementen gut lief, berief Atomminister Sawenjagin Nikolaus Riehl als wissenschaftlichen Leiter an ein neues Institut für Isotopenforschung in Sungul im Ural. Erst 1955, nach vielen Antragsschwierigkeiten, kehrte Riehl mit Familie nach Deutschland zurück – in der Tasche den Stalinorden, den Leninorden und den Titel »Held der sozialistischen Arbeit«. Er ging an das Institut für Technische Physik der Hochschule München, entwickelte den Forschungsreaktor in Garching mit und wurde Direktor im Laboratorium für Technische Physik der Hochschule München.
Nicht ohne Grund gab Truman am 25. Juli 1945, als er mit Churchill und Stalin auf der Potsdamer Konferenz weilte, das Einverständnis zum Abwurf der Atombombe. Schon vorher hatte Leslie Groves gegenüber einem britischen Wissenschaftler geäußert: »Der wirkliche Sinn der Atombombe ist, unseren Hauptfeind, die Russen, niederzuhalten.«
Blindgänger
Mit Bohrungen, Magnetsonden und Radarwellen sucht der Munitionsbergungsdienst bis heute die Stadt Oranienburg ab. Straße für Straße, Meter für Meter. Seit 1997 helfen alliierte Luftbilder, seit 2008 ein Gutachten des Cottbusser Altlastenexperten Wolfgang Spyra. Er vermutete damals mehr als 300 Blindgänger, die jederzeit explodieren können.
Meist drangen sie schräg in den weichen Oranienburger Boden ein, nahmen in der Tiefe eine kreisförmige Bahn und blieben mit der Spitze nach oben liegen. So traf das Aceton nicht auf den Haltering des Schlagbolzens, sondern lief nach hinten und verdampfte unberechenbar. Seit 1977 kam es zu sechs Selbstdetonationen. Zweihundert Bomben wurden in der DDR entschärft, über 230 seit der »Wende«. Als 2010 in Göttingen eine Bombe mit Säurezünder eine Stunde vor der Entschärfung plötzlich allein detonierte, starben zwei Sprengmeister und ihr Mitarbeiter. Eine traurige Mahnung.
Weil die Belastung Oranienburgs, aber auch die Erfahrungen im Suchen und Entschärfen von Bomben deutschlandweit einmalig sind, erklärte sie das Land Brandenburg 2019 zur »Modellregion«. Jahr für Jahr muss die Stadt etwa vier Millionen Euro für die Bombensuche vorhalten. Allein die Kosten der oft nötigen Grundwasserabsenkung sind immens. Immer wieder gab es vergebliche Petitionen, der Bund möge sich stärker an den Kosten beteiligen. Jetzt versucht Oranienburg als »Kompetenzzentrum« mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Anmerkungen:
1 Darüber schrieben der Luftkriegsexperte Helmut Schnatz und der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch (»Hitlers Bombe«, 2005; »Für und Wider Hitlers Bombe«, 2007) erstmals 1998 in der Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau Der Anschnitt. Das Zitat stammt aus einem Interview mit Helmut Schnatz in der RBB-Fernsehsendung »OZON«: »Das Geheimnis der Bombardierung Oranienburgs« vom 26. März 2012.
Hartmut Sommerschuh lebt als Autor in Potsdam. Von November 1989 bis 2016 war er Redaktionsleiter und Redakteur der Umweltfernsehreihe »Ozon«, die zunächst im Deutschen Fernsehfunk (DFF) und anschließend im Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) und im RBB ausgestrahlt wurde.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (20. März 2025 um 10:37 Uhr)Das ist ein spannender, detailreicher und gut zu lesender Artikel. Vielen Dank! Bisher konnte allerdings kein Beweis erbracht werden, ob und wenn ja, wo genau der besagte Atombombentest in Thüringen tatsächlich stattgefunden hat. U. a. der MDR hat in der Vergangenheit darüber berichtet. Zu den Spätfolgen des monströsen Unternehmens, für die Nazis eine Atombombe zu entwickeln und der Versuche der USA, mit Tausenden Bomben zu verhindern, dass die Sowjetunion aus deren Ergebnissen Nutzen zieht: Auch hier sollte regelmäßig daran erinnert werden, dass das notwendige Geld zu deren Behebung und Kompensation heute mit Leichtigkeit aufgebracht werden könnte, würde man es stattdessen nicht sinnlos und friedensgefährdend in ein »Sondervermögen« ausgerechnet für Aufrüstung buchstäblich verpulvern und um Klientelregierungen wie in der Ukraine, z. B., zu finanzieren. Dasselbe gilt für die Finanzierung von Renten, Pflege, Jugendförderung, Kultur, Natur- und Klimaschutz oder auch Wirtschaftsförderung.
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Leserbrief von Martin (19. März 2025 um 20:31 Uhr)1927 hieß die Geburtsstadt von Nikolaus Riehl zu Auer Leningrad und nicht St. Petersburg.
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