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Aus: Ausgabe vom 21.03.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Lieferando

Rider vor die Tür gesetzt

Österreich: Lieferdienst kündigt 1.000 Beschäftigten und gleichzeitig sämtliche Tarifvertragsbestimmungen auf
Von Christian Bunke, Wien
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Sieht gemütlicher aus, als es ist: Fahrer von Lieferando

Fire and Rehire – Feuern und unter wesentlich schlechteren Bedingungen wieder anheuern. Das ist eine bei Konzernen vor allem im angelsächsischen Raum in den vergangenen Jahren zunehmend beliebte Praxis. In Österreich führt der zur niederländischen »Just Eats«-Gruppe gehörende Lieferdienst »Lieferando« nun vor, dass das auch in Ländern funktioniert, die allgemein viel auf ihre »Sozialpartnerschaft« geben.

Von einem Tag auf den anderen verkündete Lieferando die Kündigung von rund 1.000 Beschäftigten bis Juli. »Unser Betriebsrat hat das erst gestern erfahren«, sagt Markus Petritsch, Vorsitzender der Gewerkschaft VIDA für den Bereich Straße, im jW-Gespräch am Mittwoch. Zum Vergleich: Rund 5.000 Personen sollen in der Branche in Österreich insgesamt arbeiten. Die meisten von ihnen sind »Rider« genannte Lieferfahrer, die mit Elek­trorollern oder Fahrrädern Essen von Restaurants an Privathaushalte liefern.

Das Alleinstellungsmerkmal war bislang, dass Lieferando in Österreich einen Kollektivvertragslohn zahlte und einen Betriebsrat tolerierte. Der Lohn ist mit monatlich etwas mehr als 1.700 Euro brutto bei einer 40-Stunden-Woche zwar extrem niedrig, aber die Rider waren bei Lieferando bislang sozialversicherungspflichtig angestellt und hatten somit Zugang zu Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung. Damit soll nun Schluss sein.

Lieferando führt ein, was bei den konkurrierenden Lieferdiensten nicht nur in Österreich gängige Praxis ist. Rider werden von den Unternehmen als Selbständige geführt, die über die von den Lieferdiensten betriebenen Onlineplattformen per Auftrag bezahlt werden. Auftragsvergabe und Bezahlung erfolgt dabei durch für die Rider völlig intransparente Algorithmen, wodurch die Unternehmen auch versuchen, sie zu disziplinieren.

Letzteres hat in Österreich in den vergangenen Jahren nicht immer funktioniert. So organisierte das im Umfeld der Gewerkschaft Vida und des österreichischen Gewerkschaftsbunds ÖGB angesiedelte »Riders Collective« immer wieder Streikaktionen, um Druck für verbesserte Arbeitsbedingungen in der Branche aufzubauen. »Das Riders Collective ist durch die neue Situation noch wichtiger als bislang schon und wird auf jeden Fall als Ort erhalten bleiben. Es ist ein wichtiger Treffpunkt für die Rider, die der deutschen Sprache oft nicht so mächtig sind. Hier wird gelebt, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss«, so Gewerkschafter Petritsch zu jW.

Für die österreichische Gewerkschaftsbewegung ist die Entscheidung von Lieferando eine Niederlage mit Signalwirkung. Weder die Existenz eines Betriebsrats im Unternehmen noch die Zahlung eines Tariflohns waren zufällig, sondern mussten von einer organisierten Belegschaft über viele Jahre hinweg erkämpft werden. Jetzt zeigt Lieferando, wie einfach Konzerne solche Errungenschaften wieder wegwischen können.

Vida bemüht sich derweil um einen Sozialplan beziehungsweise die Einrichtung einer Arbeitsstiftung. »Dadurch wollen wir versuchen, Betroffene in andere Jobs zu vermitteln«, so Petritsch. Gemeinsam mit Betriebsratsmitgliedern will er in den kommenden Tagen die verschiedenen Lieferando-Standorte aufsuchen, um Beschäftigte über ihre Rechte aufzuklären. Diese werden sich mit dem neuen, vom Unternehmen angestrebten Status als »freie Dienstnehmer« jedoch drastisch verschlechtern. Für »freie Dienstnehmer« muss Lieferando keine Sozialabgaben zahlen. Bezahlter Urlaub, Weihnachtsgeld und Krankenstand fallen ebenfalls weg.

Die Gewerkschaft pocht nun auf Umsetzung der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit in Österreich. Die sei in den vergangenen Jahren vor allem durch die durchgängig regierende, konservative ÖVP verschleppt worden. Mit der Richtlinie soll es Scheinselbständigen erleichtert werden, ihren Status als angestellte Beschäftigte besser vor Gericht durchsetzen zu können. Bislang ist das allerdings nicht möglich. Petritsch hofft nun auf ein offenes Ohr bei Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten: »Wir werden unsere Arbeit fortsetzen und schauen, dass wir die Scheinselbständigkeit mit Hilfe der neuen Bundesregierung bekämpfen.«

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