Eine fehlerfreie Leistung
Von Holger Römers
Schon vor einem Jahr erfuhren treue jW-Leser, dass Tadej Pogačar (UAE Team Emirates–XRG) 2025 bei Mailand–Sanremo »wohl an der Cipressa angreifen« würde. Er hatte die Konkurrenz bei diesem Radsportmonument noch nie am fünf Kilometer vorm Ziel gelegenen Poggio abschütteln können. Und wie sein enttäuschender dritter Platz 2024 zeigte, kann nicht einmal dieser Ausnahmefahrer die Unwägbarkeiten einer Favoritengruppe beherrschen, die sich nach der letzten Abfahrt eines fast 300 Kilometer langen Rennens auf zwei flachen Schlusskilometern wiederfindet. Folgerichtig, dass der Slowene nun die nächstliegende Alternative probieren und am vorletzten Anstieg auf eine Vorentscheidung dringen würde.
Diese Taktik hatte seit 1996 niemand siegreich angewandt, doch am Samstag standen die Zeichen günstig: Die 116. »Classicissima« war bis zur Überquerung des Turchinopasses, der mit 537 Metern stets die höchste Erhebung im Streckenprofil markiert und in die zweite Rennhälfte überleitet, von kaltem Regen geprägt, der manchen Konkurrenten bereits vorm Finale entkräften mochte. An der ligurischen Küste waren die Straßen indes trocken, so dass die Abfahrten von der Cipressa und vom Poggio nicht mehr Risiko bedeuteten, als es ohnehin unvermeidlich ist. Vor allem aber gab es auf dem knapp zehn Kilometer langen Flachstück zwischen den beiden mäßig steilen Bergen diesmal Rückenwind – was die Chancen erhöhte, sich vor einer kollektiven Verfolgung ins Ziel zu retten.
Obwohl der Rest seiner UAE-Mannschaft am Fuße der Cipressa schlecht positioniert war, schlug Tim Wellens, kaum dass die Ausreißergruppe des Tages eingeholt war, ein Höllentempo an. Als Pogačar anderthalb Kilometer später von Jhonatan Narváez an die Spitze geführt worden war, übernahm der ecuadorianische Edelhelfer die drückende Tempoarbeit – bis der Kapitän bald selbst attackierte. Da waren es noch drei Kilometer bis zur Kuppe, und als die so schnell wie nie zuvor (nach insgesamt achteinhalb Minuten) erreicht war, hatte der zweifache Tourgewinner nur zwei Begleiter: den Sieger von 2023, Mathieu van der Poel (Alpecin–Deceuninck), sowie den Italiener Filippo Ganna (INEOS Grenadiers), der 2023 Zweiter war.
Da Vorjahressieger Jasper Philipsen am Mittwoch bei den Nokere Koerse schwer gestürzt und nun durch einen Platten aufgehalten worden war, brauchte van der Poel nicht auf ein Aufschließen des Kollegen zu spekulieren. Er war also ebenso zur Übernahme von Führungsarbeit bereit wie Ganna, der als Zeitfahrertyp über jede vorzeitige Selektion froh sein konnte. So hatte das Trio am Fuß des Poggio eine Dreiviertelminute Vorsprung, als Pogačar sogleich wieder angriff. Ganna wurde vorübergehend distanziert, van der Poel aber nicht, was sich noch einige Male wiederholte – bis der 30jährige Niederländer einen halben Kilometer vor der Kuppe seinerseits den vier Jahre jüngeren Slowenen kurz abhängte. Der 28jährige Ganna hatte indes am Ende der Abfahrt seinen Rückstand wieder eingeholt und ließ im Dreiersprint den ungünstig plazierten Pogačar überraschend hinter sich, während van der Poel mit seinem zweiten Sieg in Sanremo – und seinem siebten bei einem der fünf sogenannten Monumente – eine absolut fehlerfreie Leistung krönte.
Derweil hatte die erste Ausgabe von Sanremo Women einen weniger packenden Ausgang genommen. Organisatorischen Kompromissen sowie ungleichen Weltverbandsregeln zur erlaubten Rennlänge war zuzuschreiben, dass das in Genua gestartete Rennen, wie schon die von 1999 bis 2005 ausgetragene Vorgängerveranstaltung Primavera Rosa, auf die ligurische Küste begrenzt blieb und mit 156 Kilometern kaum überdurchschnittlich lang war.
Um so eher hätte man eine Attacke an der Cipressa erwarten dürfen – die jedoch ausblieb. Und um so dringlicher schien dann, dass Mitfavoritin Demi Vollering (FDJ–Suez) die verbliebenen Sprinterinnen am Poggio abhängen müsste. Dort bestimmte ihr Team tatsächlich das Tempo, doch die Niederländerin fuhr zu spät selbst an die Spitze, so dass es bloß zur Führung in der Abfahrt reichte. Als die beendet war, unternahm Elisa Longo Borghini (UAE Team ADQ) einen vielversprechenden Ausreißversuch. Aber die bei ihrem Saisonauftakt vorübergehend abgehängte Weltmeisterin Lotte Kopecky (Team SD Worx–Protime) führte die ein Dutzend Fahrerinnen umfassende Favoritengruppe soeben noch rechtzeitig heran. So konnte ihre 26jährige niederländische Kollegin Lorena Wiebes schließlich den Sprint vor ihrer elf Jahre älteren Landsfrau Marianne Vos (Team Visma–Lease a Bike) und der 23jährigen Schweizerin Noemi Rüegg (EF Education–Oatly) gewinnen.
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