Mit Kobolden reden
Von Christoph Horst
Die Coronapandemie hat viel zur Entzauberung der Anthroposophie und ihrer Waldorfpädagogik beigetragen, da diese esoterische Bewegung sich in ihrer Tradition der Wissenschaftsfeindlichkeit offen auf seiten der Verschwörungsdenker positioniert hat. Waldorfschulen – das Flagschiff der Anthroposophie – waren Hotspots der Impffeindschaft und Maskenvermeidung. Es ist spätestens seither, aber in kleinerem Kreis auch durch vielfältige kritische Publikationen seit Ende der 1990er Jahre, bekannt, welch wirre Ideenwelt sich hinter dieser Spielart des Okkultismus verbirgt. Peter Bierl brachte die Grundgedanken der Anthroposophie schon mit dem Titel seines kritischen Standardwerks auf die Formel »Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister« (1999).
In anthroposophischen Kreisen gilt ihr Begründer Rudolf Steiner noch immer als unantastbarer »Menschheitsführer«. Darüber hinaus wird er als Autor aber kaum noch wahrgenommen. Da Steiner für sich absolute und unfehlbare Erkenntnis proklamiert hat, kann sich seine Lehre nicht mit den veränderten Zeiten entwickeln und hat selbst der reaktionären Jetztzeit nur noch Abgestandenes zu bieten. Wohl aber wirkt er als Begründer einer eigenen esoterischen Denkschule in diversen Praxisfeldern wie nicht nur der Pädagogik, sondern auch in der biodynamischen Landwirtschaft oder der anthroposophischen Medizin nach.
Steiner, am 27. Februar 1861 in dem kleinen Ort Kraljevec – damals Königreich Ungarn, heute Kroatien – geboren, war zu Beginn seiner weltanschaulichen Laufbahn noch kein Okkultist. Zwischenzeitlich sympathisierte er sogar kurzzeitig mit einem materialistisch fundierten Individualanarchismus im Sinne Max Stirners. Erst akademische Erfolg- und Arbeitslosigkeit – sein Studium hat er nicht abgeschlossen, eine Dissertation, die er trotzdem ablegen durfte, wurde mit dem schlechtestmöglichen Ergebnis durchgewinkt – ließ ihn im Geheimwissenschaftlichen seine Nische finden.
»Nichts als Heuchelei«
Steiner war zwar von seinen jungen Jahren an bis zu seinem Tod durchgehend überzeugter Deutschnationalist und Antisemit. Darüber hinaus wandelten sich jedoch seine weltanschaulichen Fundierungen. In seiner Biographie gab es um 1900 eine Bewegung weg vom zwar zu den meisten Zeiten idealistischen, aber zumindest naturwissenschaftlich fundierten Denken. So war er auch Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Steiners nichtanthroposophischer Biograph, der Religionshistoriker Helmut Zander, fasst die vielfache Kritik an der Herausgeberschaft so zusammen, Steiner habe »Goethe nicht ausgelegt, sondern etwas in ihn hineingelegt«.
Steiner wandte sich recht unvermittelt der Mystik und dem Spiritualismus der Theosophischen Gesellschaft zu, in der er sich schnell erfolgreich hocharbeitete. Noch 1897 urteilte Steiner über die Theosophische Gesellschaft: »Die inneren Erlebnisse sind nichts als Heuchelei.« Doch 1904 schrieb er bereits als theosophischer Funktionär eines ihrer Grundlagenwerke. Als junger Mann war Steiner noch stark von Kant beeinflusst, als Theosoph behauptete er, Kant würde als »Neger« inkarnieren und damit einer »degenerierten Rasse« angehören.
Als es auch in dieser Geheimorganisation zu Schwierigkeiten um seine Person kam, schuf Steiner eklektizistisch aus allem bereits mystisch Herbeispintisierten seine eigene Lehre, die Anthroposophie. Dazu vermischte er fernöstliche Religionsansätze, christliche Mystik, Theosophie, Eugenik, Rassenlehre etc. Wirklich neue Gedanken hatte er dabei nicht. Nur neu geordnet hat er die Vorstellungen des damals populären esoterischen Zeitgeists, die er sich schnell angelesen hat. Zander zeigt an einem interessanten Beispiel, wie Steiner als übersinnlich wahrgenommen ausgibt, was er irgendwo aufgeschnappt hat. In der Schilderung eines angeblich real existierenden Atlantis beschreibt Steiner 1904, wie die Atlantier mit Fluggeräten knapp über dem Boden schweben konnten. Dies ist die leichte Abwandlung einer Atlantisspekulation des Theosophen William Scott-Ellis von 1896. Zander konkretisiert an diesem Beispiel, wie Steiners Weltbild entstanden ist: »Steiner liest theosophische Literatur, überarbeitet sie und legitimiert sie als eigene höhere Erkenntnis.«
Besonders in Kreisen des Adels und der Finanzwelt kursierte ein esoterischer Grundkonsens, an den Steiner andocken konnte. Seine Anthroposophie gereichte ihm somit auch finanziell zum Vorteil – ob dies der Hauptgrund ihrer Entwicklung war, bleibt bei bisheriger Quellenlage ungeklärt.
Einer von Steiners zentralen Gedanken war, alles in Analogien zu ordnen, die er vorgab, in hellseherischer Schau einer kosmischen Weisheit abgerungen zu haben. Hier offenbart sich, was Georg Lukács in seiner »Zerstörung der Vernunft« eine aristokratische Erkenntnistheorie genannt hat – dabei aber Denker größeren Formats vor Augen: Einzelne behaupten nicht nur tiefste, übersinnliche Schau in die Gesetzmäßigkeiten des Seins, sondern immunisieren sich zugleich gegen Kritik durch den Hinweis, dass nur sie mit ihren Methoden dazu fähig seien.
Ein Problem entstand für Steiner allerdings dadurch, dass er sich nach Vollzug seiner Wende zwar von seinen älteren, vortheosophischen Büchern lossagen musste, sich zu irren aber für einen selbsternannten »Hellseher« mit angeborenen seherischen Fähigkeiten nicht besonders glaubwürdig ist. Seine Anhänger stört dies allerdings bis heute nicht, und es ist für sie bei der kritiklosen Verehrung sicherlich auch hilfreich, dass Steiners autobiographische Hinterlassenschaften raunen und deuteln, anstatt tatsächliche Hinweise auf seine intellektuelle und biographische Entwicklung zu geben. So berichtet er von Geisteserscheinungen schon in der frühen Kindheit und Einführungen in die Naturmystik durch einen Kräutersammler, der das Prinzip der Weisheit romantisch verkörpert. Sein als Theosoph erfundenes Prinzip einer ganzheitlichen Entsprechung allen Seins konnte Steiner nach dem von wohlhabenden Mäzenen gesponserten Aufbau seiner Sekte allen möglichen Praxisbereichen überstülpen, ohne von den Dingen selbst etwas verstehen zu müssen. Damit meinte er aber keinesfalls den dialektischen Zusammenhang der Dinge, die sich gegenseitig zueinander verhalten, sondern seelisch-geistige Entsprechungen, die das Sein bestimmen sollen. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange fasst dies in seiner Kritik der Waldorfpädagogik (»Erziehung zur Anthroposophie«, 1985) anschaulicher zusammen, als Steiner es konnte: »Der Mensch ist im kleinen ein Kosmos, der Kosmos im großen ein Mensch. Welt, Natur und Geschichte sind ein genaues Pendant des Menschen, der Mensch deren Synthese en miniature.«
Das heute vielleicht weitreichendste Beispiel für diese Analogiebildung betrifft die anthroposophische Medizin, die Steiner ohne jede medizinische Ausbildung aus hellseherischer Einsicht entwickelte und praktizierte: Hier wird die Mistel dem Krebs zugeordnet, weil beide sich parasitär verhalten. Folglich solle die Mistel ein gutes Medikament gegen Krebs sein. Obwohl in klinischen Studien keine Wirkung festgestellt wurde, behandeln anthroposophische Ärzte und Heilpraktiker noch immer Krebserkrankungen mit Misteln und verzögern oder verhindern dadurch im schlimmsten Fall eine wirksame Therapie. Ebenso wurden von Steiner Planeten Mineralien zugeordnet, diese wieder Pflanzen usw.
Ab in die Schublade
Auch »Charaktere« der Kinder an Waldorfschulen, einer Aktualisierung antiker Menschenschau, werden kosmisch sortiert, bis heute gilt an Waldorfschulen die Sitzordnung nach Temperamenten. Von links nach rechts sitzen: Phlegmatiker, Sanguiniker, Melancholiker und ganz rechts die Choleriker. Schon kleinste Eigenheiten genügten Steiner, um Kinder in Schubladen zu verfrachten. Beispielsweise galten ihm Kinder, die im Aufsatz das Wort »ich« unterstreichen, als »Verbrechernaturen«. Schüler der anthroposophischen Pädagogik werden zudem nach ihren »vorherigen Leben« beurteilt, denn die Seelenwanderung über mehrere Leben hinweg ist ein zweiter wesentlicher Bestandteil von Steiners Anthroposophie. Reinkarnation bedeutet in der Anthroposophie auch, dass Opfer von Gewalttaten oder Katastrophen dadurch für ein Vergehen aus früheren Leben leiden oder sich auf die nächste Wiedergeburt vorbereiten müssen. Sogar die Opfer des Ersten Weltkriegs verhöhnte er damit, dass ihre Zeit karmischen Notwendigkeiten gemäß gekommen sei.
Als »Geheimwissenschaftler« hießen Steiners Aufsätze und Vorträge beispielsweise »Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?« (1905), »Die Geheimwissenschaft im Umriss« (1910) oder »Die Schwelle der geistigen Welt« (1913). In »Die Stufen höherer Erkenntnis« (1908) unterscheidet er vier Erkenntnisstufen, von denen die höchste die »intuitive« ist, in der sich der Erkennende mit dem zu Erkennenden vereint: »Der Geheimschüler merkt an einer ganz bestimmten inneren Erfahrung, dass er bis zu dieser Stufe aufgestiegen ist. Diese Erfahrung drückt sich darin aus, dass er das Gefühl hat: er stehe jetzt nicht mehr außer den Dingen und Vorgängen, welche er erkennt, sondern innerhalb derselben.« Die Mittel dazu seien Meditation und Konzentration nach dem vom ihm entwickelten esoterischen Schulungsweg. Damit könne gesehen werden, was dem Nichteingeweihten verborgen bleibe.

So beschreibt Steiner seine Geschichtsauffassung, die sogenannte Akasha-Chronik: »Wir machen uns den besten Begriff davon, wenn wir uns klar sind, dass alles, was auf unserer Erde oder sonst auf der Welt geschieht, einen bleibenden Eindruck auf gewisse feine Essenzen macht, der für den Erkennenden, der eine Einweihung durchgemacht hat, aufzufinden ist. Es ist keine gewöhnliche Chronik, sondern eine Chronik, die man als eine lebendige bezeichnen könnte. Nehmen wir an, ein Mensch lebte im ersten Jahrhundert nach Christo. Das, was er damals gedacht, gefühlt, gewollt hat, das, was in seine Taten übergegangen ist, ist nicht ausgelöscht, sondern es ist aufbewahrt in dieser feinen Essenz. Der Seher kann es ›sehen‹. Nicht etwa so, wie wenn es aufgeschrieben wäre in einem Geschichtsbuche, sondern so, wie es sich zugetragen hat.«
Überall Geister
Steiners Erkenntnisidee ist ein übersteigerter Irrationalismus, nach dem Sein sein muss, wo Schein ist. Dadurch, dass Steiner einen Begriff denken kann, schließt er auf dessen reale Entsprechung, da das Denken ein Wahrnehmungsorgan der Welt der Ideen sei. So hält er auch naturgeistige Wesen für real, weil er sie imaginieren kann. Mit diesen Gnomen, Kobolden etc. gab er vor, im Kontakt zu stehen. In seinem Vortrag »Gnomen, Undinen, Sylphen und Salamander« beschreibt er, dass jeder Bergmann diesen Wesen begegnet, sie aber nur mit »Mitteln des Okkultismus« erkannt werden können. Wenn sie entdeckt werden, »bersten sie gleichsam auseinander« und vergrößern ihre Leiblichkeit.
Auch heutige Anthroposophen glauben an reale Naturgeister. Ein anthroposophisches Onlinelexikon beschreibt sie als »die unmittelbar in der Natur lebendig gestaltend wirkenden Werkmeister. Sie auch als ›Elementargeister‹ zu bezeichnen ist eigentlich irreführend, denn sie haben gerade kein ›Ich‹, keinen eigenständigen geistigen Wesenskern, sondern sind dienende Glieder der höheren geistigen Hierarchien.« In anthroposophischen Medien berichten immer wieder Esoteriker, wie sie mit mystischen Wesen wie Riesen, Elfen, Engeln und ähnlichen Kontakt aufgenommen haben; manche machen daraus ein Geschäft und bieten gegen Bezahlung Hilfe bei der Kontaktaufnahme an.
Steiner forderte kritiklosen Glauben an die Richtigkeit seiner Aussagen, so dass sich die Anthroposophie nicht nur durch die Verweigerung intersubjektiver Überprüfbarkeit, sondern auch durch einen extremen Autoritätsglauben von wissenschaftlichem Denken unterscheidet. Anhänger Steiners begehen somit mindestens zwei logische Fehler, indem sie zum einen die Leerstelle des Wissens mit Spekulation füllen, die ihre Richtigkeit aus dieser Leerstelle beziehen (argumentum ad ignorantiam), zum anderen sind sie gegenüber einer unanfechtbaren Autorität hörig (argumentum ad verecundiam). Gegen wissenschaftliche Kritik wehren sich Anhänger Steiners bis heute dadurch, dass sie nur diejenigen als Diskutanten überhaupt ernst nehmen, die den geistigen Erkenntnisweg selbst gehen, der das Übersinnliche im Menschen mit dem Übersinnlichen im Kosmos vereinen soll. Wer Steiner hingegen nicht versteht, gilt als jemand, dem die seelische Tiefe dazu fehlt – Steiner schreibt über seine Phantasiegebilde: »Wer ihren Inhalt in Abrede stellt, der zeigt nur, dass ihm diese innere Erfahrung mangelt.« So weit wie Steiner in diese geistigen Tiefen vorgedrungen zu sein hat übrigens bis heute noch kein Anthroposoph behauptet, auch wenn einige Anthroposophen sich zumindest für Inkarnationen der ganz Großen der Geschichte halten.
In der Waldorfpädagogik, die sich noch heute erfolglos als Erziehungswissenschaft etablieren möchte, von ihr aber aufgrund praktischer Relevanz auch nicht ganz geschmäht wird, gilt, dass die Edukanden Träger übersinnlicher Botschaften sind. Den uralten Gedanken von Seelenwanderung und andere mystische Elemente mischte Steiner mit verschiedenen bereits bewährten pädagogischen Methoden, wobei er, wie Klaus Prange zeigen konnte, besonders auf die Ideen Johann Friedrich Herbarts zurückgriff.
Schüler werden in der Waldorfpädagogik nicht nur nach vermeintlichem früheren Leben und – wie gesehen – charakterlichen Eigenschaften, sondern auch nach körperlichen Merkmalen sortiert, wie sie die rassistischen Schädel- und Menschenvermesser des 19. Jahrhunderts entdeckt haben wollen: »Ein kleiner Kopf hängt zusammen mit dem Brüten, dem Nachdenken, während Großköpfige mehr flüchtig sind.« Wie in allen pädagogischen Theorien, die das Kind durch körperliche und/oder geistige Anlagen determiniert sehen, lässt sich hier fragen, was dann eigentlich noch Aufgabe der Erziehung ist.
Weil der Lehrer es gesagt hat
In Steiners Vortrag mit dem vielsagenden Titel »Das Ich-Gefühl im dritten und im neunten Lebensjahr und das Eingreifen geistiger Weltwesen in den Lebenslauf« vom 14. März 1913 beschreibt er die Wirkungen der beiden teuflischen Gestalten Ahriman und Luzifer auf das Kind: »Wenn man nämlich ein Kind, namentlich um das neunte, zehnte Jahr herum, unbekleidet in den Spiegel schauen lässt, und das Kind nicht abgestumpft ist durch unsere heutigen oftmals sonderbaren Erziehungsprinzipien, so wird es immer auf naturgemäße Weise von dem Anblick dieser seiner Gestalt Furcht empfinden, eine gewisse Angst (…), weil nämlich in dieser Zeit in dem Menschen etwas heranwächst, was wie eine Art Ausgleich zu der luziferischen Strömung wirkt.«
Steiner spricht dann weiter über Teufel, die nach dem Tod die »Seelenkräfte vampirisieren«, und offenbart sein Verständnis von Bildung: »Wir tun etwas Gutes, wenn wir heranziehen solche Kinder, die nicht im neunten, zehnten Jahre alles schon selber wissen wollen, sondern die, wenn man sie fragt: Warum ist dieses oder jenes richtig oder gut? – dann sagen: weil der Vater, weil die Mutter es gesagt hat, es sei gut, oder weil der Lehrer es gesagt hat.« Lehrer an der Waldorfschule sollen sein, was Steiner seinen Jüngern war – eine unhinterfragbare Autorität, genauer gesagt: Priester, die, wie Steiner an anderer Stelle beschreibt »ein feines Gefühl haben müssen für das, was sich aus dem früheren Erdenleben herüberentwickelt in dem werdenden Kinde«. Gegen die Wissenschaftsgemeinschaft, der er gerne angehören wollte, die ihn aber schon damals nicht für voll nahm, wehrt sich Steiner zum Abschluss seines Vortrags hilflos offensiv: »Wer schreit am lautesten: es gibt keinen Teufel? – Der am meisten von ihm besessen ist.«
Am 30. März 1925 starb Rudolf Steiner – in der Vorstellung seiner Gläubigen wurden dadurch seine astralisch-ätherischen Kräfte leibfrei und ganz Geist. Vermutlich hatte er Krebs, aber sein Umfeld vertuschte die Sterbeursache. Schließlich gab Steiner ja als Laienheiler an, Krebs durch Gabe von Misteln überwunden zu haben.
Angesichts Steiners wilder Phantasien ist es geradezu kurios, dass auch heute noch Menschen seinen Ideen folgen – darunter auch sehr geschäftstüchtige, so dass die Anthroposophie ein weltweit agierender Weltanschauungskonzern ist, der es geschafft hat, insbesondere ein grün-liberales Publikum zu binden. Neben den Waldorfschulen verdienen vor allem anthroposophische Konzerne der Lebensmittel- und Kosmetikbranche (Demeter, Weleda, Wala, DM …) gut mit dem Versprechen eines Distinktionsgewinns für Besserverdienende.
Aristokratie der Sehenden
Auch in der Politik wirken Steiners Ideen nach. Neben einzelnen anthroposophischen Politikern besonders durch Initiativen und Gruppen, die für direkte Demokratie werben, damit aber Steiners Idee einer sozialen Dreigliederung auf spiritueller Basis meinen. Diese ist ausdrücklich nicht demokratisch gemeint, sondern zielt auf eine Aristokratie von übersinnlich Begabten (letztlich also zu seinen Lebzeiten von ihm selbst). Und während viele Konsumenten seiner Ideen das Okkulte einfach unbeachtet lassen, weil die Waldorfschule durch das Schulgeld Ansehen in der Nachbarschaft verspricht, die nach Mondphasen produzierte Seife so schön duftet oder die nach kosmischen Gesetzmäßigkeiten angebaute Möhre einfach schmeckt, gibt es immer noch eine Handvoll aufrechter Anthroposophen, denen Steiner als unfehlbarer Hellseher gilt, der ein Organ besaß, mit dem dem Kosmos übersinnliche und überzeitliche Wahrheiten abgerungen werden konnten.
Dabei präsentierte sich Steiner nicht als Schöpfer von Ideen, sondern als Medium, durch das hindurch eine geistige Welt spricht. Mit ein bisschen Quellenstudium in der Geschichte der jeweiligen Fachgebiete ist Steiner mal schnell, mal nicht so schnell als trickreicher Abschreiber entlarvt, und es ist erstaunlich, wie einfach seine mit Pathos aufgeblasenen Hellsehereien oft herleitbar sind. Die deutlichste Beschreibung von Steiners Wesen bringt wohl eine Anekdote, die Zander in seiner Biographie festhält: Die Eröffnung eines anthroposophischen Prestigetempels wurde gelegt auf den »20ten des September Monats 1880 n. d. M. v. G. (nach dem Mysterium von Golgatha), d. i. 1913 n. Chr. Geb. da Merkur als Abendstern in der Waage stand«. Der Termin wurde dann aber doch etwas verschoben, weil der Zug einer reichen Geldgeberin Verspätung hatte.
Christoph Horst schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. September 2024 über den Pädagogen Johann Bernhard Basedow: »Schule der Moral«
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (31. März 2025 um 08:44 Uhr)Krasse Sekte bzw. besser: Psychomanipulativer Kult. Was alle erfolgreichen Sekten gemeinsam haben, gemeinsam haben müssen, da sie sonst nicht funktionieren würden, lässt sich auch bei dieser finden: Einige Elemente des jeweiligen Glaubenssystems sind durchaus korrekt, entsprechen der Realität, sind oft sogar regelrecht progressiv. In etwa vergleichbar mit der Binse, dass jede gute Lüge immer ein Stück Wahrheit enthält. Dieser authentische Teil ist es, in diesem Fall z. B. dass – abgesehen von der oft gesehenen Heuchelei der Diskrepanz von Kommunikation/Anspruch und Praxis – es falsch ist, Tiere zu quälen, dass es falsch ist, Kinder unter extremen Leistungsdruck zu setzen, um sie zu besser Ausbeutbaren zu machen, dass es falsch ist, Essen mit giftiger, krank machender Chemie zu produzieren etc. Das ist der Teil, der dieser »Anthrosophie«-Sekte ganz materialistisch bis heute die Existenzgrundlage sichert und damit all den religiotisch-esoterischen Quatsch erfolgreich weiter tradiert. Eine gute Analyse, die gemäß dem Motto von Karl Marx, dass die Welt von Philosophen nicht nur richtig zu beschreiben, sondern richtig zu verändern ist, muss diese beiden Teile – also den destruktiven Quatsch und die konstruktiven/progressiven Fragmente – klar trennen und beide gut objektiv begründet entsprechend herausstellen. (Dem Autor ist das hier nur für den Quatsch und damit insgesamt leider noch nicht gelungen.) Nur so bekommt mensch die Basis hin, die es braucht, damit engagierte Menschen in der Praxis gute Chancen haben, die verwirrten Sektenopfer aus ihrer Hirnwäsche zu holen. Und damit die Welt zum Besseren hin zu verändern.
- Antworten
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Toralf K. aus Wandlitz (30. März 2025 um 17:59 Uhr)Als Arbeiterkind, das 10 Jahre an einer Polytechnischen Oberschule gelernt, eine dreijährige Facharbeiterausbildung mit Abitur und fünf Jahre Studium an einer Technischen Universität erfolgreich absolviert hat, durfte ich den Artikel über Rudolf Steiner und seine möhrenknabbernden Anhänger in meiner linken Tageszeitung lesen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, in welch einer Welt wir heute leben würden, hätte die Anthroposophie in der Vergangenheit das menschliche Denken übernommen. Wir hätten dann wohl nicht diese wissenschaftsbasierte, demokratische, soziale, friedliche und umweltfreundliche Zeit, die wir gerade erleben? Der Hauptfeind steht im eigenen Land – auch wenn er inzwischen 100 Jahre tot ist.
- Antworten
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael P. aus Berlin, Michael Polster (29. März 2025 um 15:12 Uhr)Wer von Steiner spricht oder schreibt, muss vor allem von Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) sprechen. Die Deutschrussin war die maßgebliche Begründerin der Theosophie und mit ihrem ganzen pseudowissenschaftlichen Gedankengebäude die Taktgeberin für Steiner und seine absurden Theorien. Ihre sogenannte Geheimlehre, die sie in mehreren Bänden veröffentlichte, prägen bis in die Gegenwart die Praxis und Theorien ganzer Esoterikervereine und -verbände, nicht nur der Anthroposophen. Ihre Äußerungen zur »Wurzel-Rassen-Lehre«, die Rolle der arischen Rasse und einer indoarischen Weltreligion dabei, sind tiefster Rassismus, theoretische und politische Basis vieler rechter Ideologen und okkulter Gesellschaften. Blavatskys Einfluss auf die Okkultszene ist überhaupt nicht zu übertreiben. Die von ihr vertretene Karma- und Inkarnationslehre findet auch bei Steiner regen Zuspruch, genauso wie die Ich-Auflösung und der Shambhala-Mythos. Der mystischen Stadt die vor über 7.000 Jahren angeblich von einer arischen Superrasse gegründet wurde und »Sitz des Weltenkönigs sein soll«. Nach Steiner dürfe das Land nur noch von Eingeweihten betreten werden. All dies und mehr findet sich im bizarren Gedankengebäude eines Rudolf Steiners wieder, wie es sehr anschaulich und treffend im vorliegenden Artikel beschrieben wurde.
- Antworten