Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 31.03.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Internationaler Handel

Größte Industrieschau

Hannover-Messe: Stelldichein multinationaler Großkonzerne. Allein China mit 900 Unternehmen vertreten. Düstere Zeit für BRD-Kapital
Von Jörg Kronauer
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Ein Clou aus dem vergangenen Messejahr: Roboterbasiertes Recycling von E-Waste (Hannover, 22.4.2024)

Noch ist sie Weltspitze, die Hannover-Messe, die an diesem Montag ihre Tore öffnet. Mit rund 4.000 Ausstellern aus mehr als 60 Ländern gilt sie weiterhin als größte Industrieschau der Welt. Gut 130.000 Besucher verzeichnete sie im vergangenen Jahr; diesmal könnten es ähnlich viele werden. Bedeutende Konzerne wie Siemens oder Bosch werden erwartet, dazu Techriesen aus den USA wie Microsoft, Google oder Amazon Web Services. Zahlreiche Mittelständler haben sich angemeldet; außerdem ist von über 300 Startups aus aller Welt die Rede. Allein China, die neue industrielle Großmacht, wird mit mehr als 900 Unternehmen vertreten sein. Zollschlachten hin, Wirtschaftskriege her: Man nehme »bei allen politischen Turbulenzen« bislang »keine Abkehr von Hannover und Europa« wahr, teilte Messechef Jochen Köckler vor Beginn des Events mit. Und doch: Für die Messe selbst mag die Welt noch einigermaßen in Ordnung sein; die deutsche Industrie aber, die es gewohnt war, in Hannover ihre Stärke zu demonstrieren, steckt in einer ernsten Krise.

Das belegen zunächst nüchterne Zahlen. Im vergangenen Jahr ging die Industrieproduktion in der Bundesrepublik gegenüber 2023 um gut 4,9 Prozent zurück. Dabei fällt auf, dass sie im Jahresverlauf immer weiter schrumpfte; im Dezember 2024 erreichte sie mit nur noch 90 Prozent des Durchschnittswerts von 2021 ihren seit Jahren niedrigsten Stand. Zentrale Branchen brachen besonders stark ein; die Produktion in der Kfz-Industrie kollabierte um 7,2 Prozent, diejenige im Maschinenbau gar um 8,1 Prozent. Einen Aufschwung verzeichnete lediglich die Mischkategorie »Sonstiger Fahrzeugbau«, die unter anderem Schiffe – darunter Kriegsschiffe – und Militärfahrzeuge umfasst; sie wuchs um 6,5 Prozent. Trübe Resultate zeigt auch ein »Industriebarometer«, das die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY Ende Februar vorlegte. Demnach ging der Gesamtumsatz der deutschen Industrie im Jahr 2024 um 3,8 Prozent zurück; die Zahl der Beschäftigten schrumpfte um 1,2 Prozent. Seit dem Jahr 2019 sind in der deutschen Industrie netto mehr als 140.000 Arbeitsplätze verlorengegangen, und die Zahl nimmt weiter zu.

Woran liegt’s? Zwei Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Der erste: Die Produktivität der deutschen Wirtschaft, die seit Jahrzehnten kontinuierlich stieg, ist ab 2017 mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Die Produktivität im produzierenden Gewerbe ging laut Statistik der Deutschen Bundesbank in den vergangenen drei Jahren sogar zurück. Dies wäre vielleicht nicht so wild, würde die Produktivität nicht anderswo in der Welt deutlich zunehmen; aber das tut sie eben, und zwar vor allem, man kann’s erahnen, in China. Und: Vor allem China hat in den vergangenen Jahren rasante technologische Entwicklungsschübe erlebt. Es habe Zeiten gegeben, in denen chinesische Firmen sich vieles bei der deutschen Konkurrenz abgeschaut hätten, hielt Ende vergangener Woche Andreas Evertz fest, Vorstandschef von Flender aus Bocholt, einem Unternehmen mit über zwei Milliarden Euro Jahresumsatz, das Antriebstechnik herstellt, etwa für Windkraftanlagen. »Die Zeiten sind vorbei«, konstatierte Evertz gegenüber der FAZ; heute müssten deutsche Betriebe sich allerlei bei chinesischen Firmen abschauen, vor allem »in Sachen Geschwindigkeit und Innovationsfähigkeit«. Flender sei es gelungen, mit der chinesischen Konkurrenz wenigstens »auf Augenhöhe« zu bleiben. Nicht alle hätten das vermocht.

Bekanntestes Beispiel: die Kfz-Industrie. Längst sind chinesische Elek­troautohersteller der deutschen Branche davongeeilt; auch beim autonomen Fahren liegen chinesische Firmen klar vorn. Sei die Volksrepublik bis zum Jahr 2020 bei Autos ein Nettoimporteur gewesen, heißt es in einer im Januar publizierten Analyse des Londoner Centre for European Reform (CER), so habe China im vergangenen Jahr fünf Millionen Autos netto exportiert. In Deutschland hingegen sei der Nettoexport seit dem Höchstwert vor der Covid-19-Pandemie um die Hälfte auf 1,2 Millionen gesunken. Ähnlich verhält es sich im Maschinenbau, in dem China, im Jahr 2000 noch mit einem Weltmarktanteil von 1,9 Prozent abgeschlagen hinter Deutschland mit 14,6 Prozent, die Bundesrepublik bereits im Jahr 2020 überholt (14,1 Prozent versus 13,9 Prozent) und seinen Vorsprung seitdem noch weiter ausgebaut hat. Das CER warnte, anders als Chinas großer Durchbruch bei der Herstellung von Mobiltelefonen, Computern oder auch Haushaltsgeräten, der Deutschland relativ wenig geschadet habe, treffe sein Durchbruch bei Autos und Maschinen Kernbranchen der deutschen Industrie. Reiße Berlin nicht das Ruder herum, dann drohe der Bundesrepublik ein »China-Schock«.

Der hat die deutsche Kfz-Industrie allerdings bereits erfasst – und das droht Folgen mit sich zu bringen. Denn die Krise der Autobranche belastet zusätzlich den Maschinenbau stark. Der steckt ohnehin aufgrund der starken chinesischen Konkurrenz längst in Schwierigkeiten; laut einer Umfrage des Branchenverbandes VDMA vom Januar beurteilte jeder dritte Maschinenbauer seine Lage als »schlecht«, während jeder vierte davon ausging, innerhalb des ersten Halbjahres 2025 Personal abbauen zu müssen. Laut einer aktuellen Untersuchung der Unternehmensberatung Falkensteg nahm die Zahl der Insolvenzen von Maschinenbauern mit einem Jahresumsatz von mehr als zehn Millionen Euro im vergangenen Jahr um 33 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 32 zu, zwölf davon allein im letzten Quartal 2024. Dieses Jahr sei »eine weitere Steigerung der Insolvenzen um 20 Prozent« durchaus »realistisch«, heißt es bei Falkensteg. Kein Wunder, dass der deutsche Gesamtexport im vergangenen Jahr zum ersten Mal, abgesehen vom Pandemiejahr 2020, schrumpfte – um 2,8 Prozent. Die Inlandsnachfrage bringe, hielt die Beratungsfirma EY in ihrem »Industriebarometer« fest, leider keinerlei Erleichterung: Sie habe sich noch schlechter entwickelt als der Export.

Hintergrund: Künstliche Intelligenz im Fokus

Eins der zentralen Themen auf der diesjährigen Hannover-Messe ist künstliche Intelligenz (KI). Nicht so sehr freilich KI an sich, sondern vor allem ihre Nutzung in der Industrie. »Das ist keine Zukunftsvision mehr«, konstatierte kurz vor Beginn der Industrieschau Messechef Jochen Köckler; immer mehr Unternehmen seien mit »konkreten Anwendungen« befasst – und die werde man auch in Hannover sehen. Siemens und Microsoft etwa hätten einen »Industrial Copilot« entwickelt, der es erlaube, Robotern mündlich Anweisungen zu geben. Eine andere KI-Anwendung ermögliche es Robotern, eigenständig Elektrobatterien zu zerlegen. Das Thema hat erhebliche Bedeutung: KI dürfte sich in den kommenden Jahren zu einem entscheidenden Faktor in der globalen Industriekonkurrenz entwickeln. Wer da nicht mithalten kann, steht vor ernsten Problemen.

Wie die Chancen für die deutsche Industrie stehen, ist ungewiss. Klar ist: In der allgemeinen Entwicklung von KI liegt Deutschland sehr deutlich hinter den Vereinigten Staaten und China zurück. Wenngleich der jüngste Erfolg des chinesischen KI-Unternehmens Deep Seek in der Bundesrepublik Hoffnungen geweckt hat, man könne vielleicht auch ohne die zwei- bis dreistelligen Milliardensummen, die in den USA ausgegeben werden, KI-Spitzenergebnisse erzielen: Konkret ist diesbezüglich nichts in Sicht. Durchaus optimistisch geben sich deutsche Unternehmer aber mit Blick auf die industrielle Anwendung von KI. »Mir ist es egal, wer eine KI entwickelt hat«, sagte Alexander Evertz, Vorstandschef von Flender, einem Hersteller von Antriebstechnik aus Bocholt, Ende vergangener Woche der FAZ: »Da müssen wir nicht mithalten.« Doch »in der industriellen Nutzung von KI müssen wir Vorreiter sein.« Die Hannover-Messe komme da »genau richtig, um diesen Geist zu vermitteln«. Der Druck, dabei rasche Fortschritte zu machen – dafür sorgt nicht zuletzt die immer stärkere Konkurrenz aus China –, ist da. (jk)

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    • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (31. März 2025 um 14:05 Uhr)
      Das könnte alles so sein, wenn hätte und täte die Welt regierten. Aber wir leben im ganz realen Kapitalismus, in dem erst der Profit verteilt wird und dann der Rest. Da lautet die Wahrheit dann ganz einfach, dass es fürs einfache Volk deutlich weniger gibt, wenn die Wirtschaft leiser brummt. Es sind bei weitem nicht alle, denen das gar nichts ausmacht. Manchen zieht es sogar das ganze Leben unter den Füßen weg. Denen nützt die schönste Wachstumstheorie wenig, wenn sie etwas zu beißen brauchen.

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