»Fort mit dieser Reaktion!«
Von Erhard Kiehnbaum
Sie gehörten zu den Auserwählten ihres Standes. Sie trugen a priori Verantwortung für die Erhaltung des adlig-monarchistischen Systems. Ihnen war der Bestand des königlichen »Gottesgnadentums« anvertraut. Jedes eigenständige politische Denken oder Handeln war suspekt und wurde bereits im Ansatz bekämpft. Wer es auch nur wagte, wider den Stachel zu löcken, bekam die volle Macht des Standesrechts zu spüren. »Ehrengerichte« waren ein probates Mittel, Widerborstige zur Räson zu bringen. »Entlassung aus dem Dienst« oder »Entfernung aus dem Offizierstande« – Urteile, die Biographien zerstörten.
Manch einer entging dem Verdikt, indem er rechtzeitig seinen Abschied einreichte. Manch einer hatte offenbar auch wohlwollende Vorgesetzte, die das Schlimmste verhinderten. Es waren aber eher Einzelfälle, in denen demokratische Aktivitäten den Hintergrund bildeten und dennoch ein »ehrenvoller« Abschied mit Aussicht auf Pension und Zivilanstellung erteilt wurde. Ganz selten blieben derartige Aktivitäten folgenlos, etwa im Fall Emil Theodor von Sydows, der sich selbst als konservativ bezeichnete. In dem einen oder anderen Fall milderte »königliche Gnade« nach Jahren die Härte des Urteils. Manch einer, der den Weg in die Fremde scheute, mag sich auch angepasst haben. Das ändert nichts an der Kühnheit ihrer Tat.
Viele von denen, die wie Friedrich Anneke emigrierten und den Schritt in die »Neue Welt« wagten, stellten während des US-amerikanischen Bürgerkrieges ihre militärischen Kenntnisse zur Verfügung. So blieb die Erinnerung an den einen oder anderen bewahrt.
Dennoch ist über viele noch immer fast nichts bekannt. Von den Regimentsgeschichtsschreibern und der Familiengeschichtsschreibung wurde ihr mutiges Auftreten oft schamvoll kaschiert. Etwas über ihre Lebenswege und ihre Ansichten herauszufinden ist daher mit dem Schürfen nach Gold vergleichbar.
Und sie passen so gar nicht in das Bild, das man heute gemeinhin vom preußischen Offizier hat. Diesem werden vielfach Eigenschaften zugeschrieben, die pejorativ besetzt sind, wie Arroganz, Standesdünkel und Kadavergehorsam. Nicht selten werden Offiziere als reaktionär bis ins Mark geschildert.
Das ist gewiss in vielen Fällen, ja möglicherweise überwiegend zutreffend. Aber es ist eben nur die eine Seite. In Fontanes Roman »Stechlin« sagt ein preußischer Offizier: »Aber die wirklich Vornehmen, die gehorchen nicht einem Machthaber, sondern dem Gefühl ihrer Pflicht.«¹
Zwischen diesen Fronten bewegten sich preußische und später deutsche Offiziere bis 1945 und darüber hinaus. Als Verräter wurden immer jene bezeichnet und behandelt, die nicht gedankenlos gehorchten.
Militärreformen
Die Mehrzahl der hier Vorgestellten gehörte einer Generation preußischer Offiziere an, die nicht das Trauma der Schlacht von Jena und Auerstedt (1806) erlebt hatte. Seit diesem Desaster preußischer Militärstrategie waren Jahrzehnte vergangen: Jahre des Friedens und der Militärreformen. Bereits 1808 hatte General Hermann von Boyen, Mitglied der Kommission für die Heeresreform, darauf aufmerksam gemacht, dass »Allgemeinbildung für den Offizier wichtig« sei.² »Um diese hohen Ziele zu verwirklichen, wurde der Schwerpunkt der Ausbildung der Offiziere in der preußischen Armee grundlegend verändert: weg von einer voluntaristischen Willensbildung des traditionellen, feudalen Offiziers hin zu einer intellektuellen Verstandesbildung eines modernen, dynamischen Offiziers. Das Maß an Bildung, nicht die adlige Herkunft, sollte von nun an der entscheidende Maßstab für den beruflichen Werdegang eines Offiziers sein.« Das Ziel der Reformer war nicht, einer »Verwissenschaftlichung« der Offiziersausbildung das Wort zu reden, sondern die Nutzung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, um mit dem technischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel in Staat und Gesellschaft Schritt halten zu können.³ Wenn auch noch immer in der Minderzahl, gehörten dem preußischen Offizierskorps nun nicht nur Kader an, die einen adeligen Hintergrund und preußische Kadettenanstalten durchlaufen, sondern auch solche, die humanistische Gymnasien besucht und zum Teil auch dort ihr Abitur abgelegt hatten.
Diesem Reformkonzept entsprach auch, dass das Niveau der Ausbildung an den militärischen Bildungseinrichtungen inzwischen – insbesondere an der Artillerie- und Ingenieurschule, aber auch an den Divisionsschulen – deutlich erhöht worden war. Vor allem im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich erfolgte die Ausbildung auf einem hohen, an den Erkenntnissen der Zeit orientierten Niveau und förderte die wissenschaftlichen Neigungen der Kursanten.
Es ist heute kaum noch bekannt, wie der vorgezeichnete Weg verlief, wenn sich junge Männer für eine Offizierslaufbahn in der preußischen Armee entschieden hatten. Auch die Tatsache, dass die Offiziersanwärter ihren Beruf von der Pike auf erlernen mussten, und dass es durchaus nicht selten war, dass einer die Kadettenanstalt oder Divisionsschule als Gefreiter verließ, um den mühseligen Weg bis zum Ziel weiterzuverfolgen (oder aufzugeben), dürfte weitgehend unbekannt sein.
Im Allgemeinen galt: Hatte sich ein junger Offiziersanwärter für die Laufbahn eines Infanterieoffiziers entschieden, so führte der Weg nach einer sechsmonatigen Grundausbildung in dem Regiment, in das er eingetreten war, zunächst an eine der Divisionsschulen. Nach etwa anderthalb Jahren intensiver Ausbildung bestand die Möglichkeit, sich für das Examen zum Portepee-Fähnrich anzumelden. Nach erfolgreicher Prüfung erlangte der Offiziersanwärter den Dienstgrad eines Portepee-Fähnrichs. Als solcher musste er weitere sechs Monate gedient haben, bevor er sich zum Offiziersexamen melden durfte. Diese Prüfung erfolgte stets in Berlin vor der »Ober-Militär-Examinazions-Kommission«.
Für die Artillerie- und Ingenieuroffiziere schloss sich nach ihrer Ernennung zum ersten Offiziersdienstgrad in der Regel eine einjährige Kommandierung an die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin an, die mit einem entsprechenden Abschluss als Artillerie- oder Ingenieuroffizier beendet wurde.
Auch nach dem Offiziersexamen war zumindest ein kleiner Teil der preußischen Offiziere um Weiterbildung bemüht. Sie interessierten sich für Naturwissenschaften, für Philosophie, Literatur und Kunst, sie lernten Fremdsprachen. So berichtet der Schriftsteller Rudolf von Gottschall über den Leutnant Adolph »Fridolin« Buschbeck, Lehrer an der Berliner Kadettenanstalt, der Italienischunterricht nahm, um seine Reise nach Italien vorzubereiten. Dieser hätte ihn in einen kleinen Kreis von Offizieren, allesamt Lehrer an der Kadettenanstalt, eingeführt, die ein wissenschaftlich-ästhetisches Kränzchen bildeten, in dem vor allem Dantes »Divina commedia« gelesen und kommentiert wurde.⁴
Der Artillerieleutnant Wilhelm von Bruchhausen wurde 1847 an der Universität Heidelberg mit seiner bereits 1845 erschienenen Schrift »Eiszeiten« promoviert. Er schildert die Situation im Offizierskorps folgendermaßen: »Es wurde in den Preuß(ischen) Kasernen ernsthaft geforscht, und die lange viele Muße von sehr vielen meiner Kameraden (…) mit Ausdauer benutzt. Ich war noch nicht Officier, da wurde in unserm Kreise schon über Atemtheorie, Aether, Physikalisches und Kosmisches u. s. w. ernsthaft diskutiert.«⁵
Auch auf philosophische Fragen erstreckte sich das Interesse. So hebt Bruchhausen, der unter anderem mit dem Sozialisten Moses Heß in Verbindung gestanden hatte, hervor, dass er selbst »viel mit Hegelianern pp. herumdisputirt« habe.⁶ Dabei war dieser Trend nicht nur auf den Kreis der Artillerieoffiziere beschränkt, sondern erfasste auch die »Pflastertreter«, wie Bruchhausen die Infanterieoffiziere nannte. Friedrich von Beust, Leutnant in einem Infanterieregiment, bezeugt: »Das Studium der Hegelschen Philosophie und der politisch-sozialen Wissenschaften führte zu einer kritischen Betrachtung unserer Zustände, gebar in dem Offizierskorps selbst eine Oppositionspartei.«⁷ Schließlich soll hier ein weiterer Infanterieoffizier, der in Torgau stationierte Carl van der Leeden, erwähnt werden. Aus einer von ihm verfassten Schrift von 1848 geht der ganz selbstverständliche Umgang mit Hegel und Fichte hervor.
Obzwar im Offizierskorps Unzufriedenheit mit den (militärischen) Verhältnissen durchaus keine Seltenheit war, gelangte davon kaum etwas an die Öffentlichkeit. Abgesehen von den spektakulären »Ehrengerichtsverfahren« gegen Friedrich Anneke, Hermann Korff und August Willich, die viel Aufsehen erregten, in der Vormärzpresse ihren Niederschlag fanden und von den Betroffenen in eigenen Broschüren öffentlich gemacht wurden, erfuhr die Allgemeinheit kaum etwas über die Vorgänge in der Armee.
Die Reaktionen der Offiziere auf die Märzereignisse der Revolution fielen naturgemäß unterschiedlich aus. Nicht jeder brachte die Konsequenz des Artillerieleutnants Hermann Orges auf. Dieser war 1845 zum Besuch der Allgemeinen Kriegsschule, der Bildungsanstalt für künftige Generalstabsoffiziere, nach Berlin kommandiert worden. Während der Straßenkämpfe in der Nacht vom 18. zum 19. März 1848 versuchte er Soldaten davon abzuhalten, auf das Volk zu schießen. Folgerichtig bat er am 19. März um seinen Abschied.
Der Oberleutnant Gustav Adolph Techow ermöglichte im Juni der Bürgerwehr den Zutritt zum Zeughaus, sein Vorgesetzter Hauptmann von Natzmer verzichtete auf den Gebrauch der Schusswaffe.
Wilhelm von Bruchhausen versuchte in einem Flugblatt, Verständnis für die Lage der Offiziere zu wecken. Er schreibt: »Wir Offiziere standen bisher selbst unter einem Drucke, der mitunter unerträglich wurde. Durch unsere Ehrengerichte wussten manche Kommandeure diejenigen zu fassen, denen das Gesetz nichts anhaben konnte, und geheime Conduitenlisten, deren Inhalt wir nie erfuhren, wirkten mitunter deutlich genug auf das Geschick einzelner Offizier ein.«⁸ Wenn er schließlich betont, dass einige »Offiziere nur deshalb gegen Euch fochten, weil sie ihrem Soldaten-Eide nicht ungetreu werden wollten«, so berührt er ein Thema, das zum Sündenfall preußisch-deutscher Offiziere werden sollte.
Otto de la Chevallerie, der später in einem Brief an Fontane bekannte, »1848 in’s Demokratische« Lager geraten zu sein,⁹ geißelte in dem Flugblatt »Bürger und Soldaten« im Herbst 1848 »die Umtriebe einer finstern, schleichenden, volksfeindlichen Partei (…) Diese Partei (…) und alle ihre, aus der Saat der Lüge emporgeschossenen Stützen (…) diese Stützen waren als giftige Blüthen: Absolutismus, Büreaukratie, Aristokratie, stehendes Heer, Pfaffen- und Geldsackthum; sie bilden jetzt in ihrer verpestenden Verwesung: die Reaktion. Fort mit dieser Reaktion, sie gehört in den Koth!«¹⁰
Durch die Märzereignisse angeregt, beteiligten sich viele Offiziere am öffentlichen Leben, entweder durch den Besuch von politischen Veranstaltungen, durch Unterschriftsleistung für Petitionen an die Nationalversammlung oder mit Vorschlägen für notwendige Veränderungen in der Armee.
Vom Rheinland bis Pommern
Geographische Schwerpunkte politischer Aktivitäten preußischer Offizier waren das Rheinland mit Köln (16. und 25. Infanterieregiment) und Aachen (34. Infanterie- und 4. Dragonerregiment), Ostpreußen mit Königsberg und Pillau (1. und 3. Infanterieregiment, die 1. Artilleriebrigade und die 1. Ingenieurinspektion) sowie Hinterpommern mit Kolberg und Danzig (4. und 18. Infanterieregiment).
Eine der frühesten Wortmeldungen nach den Berliner Märzereignissen ist mit »Köln, 28. März« datiert: »Mehrere Offiziere haben sich hier versammelt, um die Reformen zu besprechen, welche zeitgemäß und nothwendig sein dürften, um die gegenseitige Stellung des Volkes und der Armee auf einen naturgemäßen Stand zu bringen.« Gefordert wurde vor allem die Vereidigung der Offiziere auf die Verfassung, die Revision des Militärstrafgesetzes, der Schutz vor willkürlicher Behandlung, die Abschaffung der Ehrengerichte und die Wahlberechtigung zum Reichstag.¹¹
Schon Anfang der 1840er Jahre findet man Hinweise darauf, dass sich Offiziere im Umkreis der Rheinischen Zeitung bewegt haben sollen. Am »Montagskränzchen«, das Mitglieder des Aufsichtsrats des Blattes abhielten, um sich über soziale Fragen auszutauschen, nahmen auch politisch interessierte junge Männer teil, die nicht dem Aufsichtsrat angehörten.
Dass sich nach den Berliner Märzereignissen Hinweise auf Kontakte von preußischen Offizieren in Köln zu demokratischen Vereinen häufen, wird also nicht verwundern. Dem Köln-Aachener Kreis preußischer Offiziere sind Teofil Adamski, August Bernigau, Friedrich von Beust, Carl Eduard Faltin, Ferdinand Nithak, Wilhelm Steffen und Karl Philipp Otto Wülfing zuzurechnen.
Im Königsberger Raum ragte der Ingenieuroffizier Wilhelm Rüstow aus dem Kreis der politisch aktiven Offiziere heraus. Am 3. Oktober 1840 zum Seconde-Lieutenant ernannt, wurde er umgehend zum Festungsbau nach Königsberg kommandiert, wo er sich am dortigen »demokratischen Club« beteiligte. Bereits 1847 hatte er einen Aufsatz veröffentlicht, der sich mit lokalpolitischen Fragen befasste. Er wurde 1850 in Abwesenheit wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung zu sage und schreibe 31 ½ Jahren Festungshaft mit anschließender zehnjähriger Polizeiaufsicht verurteilt.
Auch im Ostseehafen Pillau war eine Gruppe von Offizieren politisch aktiv. In mehreren Beiträgen berichteten hierüber sowohl die Neue Kölnische Zeitung als auch die Neue Rheinische Zeitung. Sie wurden wegen Unterzeichnung einer Adresse an die Nationalversammlung des Hochverrats angeklagt. Das Urteil lautete auf fünf Jahre Festung, Ausstoßung aus dem Offizierstand und Verlust der Kokarde.¹² Hauptmann Biegon von Czudnochowski, der als Mitglied des demokratisch-constitutionellen Klubs eine Zustimmungserklärung an die preußische verfassunggebende Versammlung unterschrieben hatte, erhielt allein dafür drei Jahre Festungsarrest.¹³
Im pommerschen Raum entwickelte der Artillerieoffizier Friedrich Freiherr von Dücker bemerkenswerte politische Aktivitäten. Da mit Friedrich Anneke befreundet, wurde er nach Norddeutschland strafversetzt. In Kolberg gehörte er zu den Initiatoren und Begründern des »Vereins zur Wahrung der Volksrechte«, der Anfang November seine erste Versammlung abhielt und dessen Präsident er wurde. Er hatte eine Reihe von Kameraden für den Verein gewonnen.
Der Ausbruch des Konflikts zwischen dem die Interessen des Königs vertretenden Ministerium Brandenburg und der preußischen Nationalversammlung veranlasste den Verein, sich in einer Adresse auf die Seite der Nationalversammlung zu stellen und zu erklären, dass er zu ihrem Schutz »mit Gut und Blut jederzeit bereit sei«.¹⁴ Gleichzeitig versuchte von Dücker, die Landbevölkerung zu mobilisieren. Diese Aktivitäten riefen nicht nur die Aufmerksamkeit und den Unwillen königstreuer Anhänger in Kolberg, sondern – nach entsprechender Denunziation in Berlin – auch das Generalkommando in Stettin auf den Plan. Von Dücker wurde in Stralsund, wohin er versetzt worden war, umgehend verhaftet. Im Ergebnis des durchgeführten Verfahrens wurden er sowie seine Kameraden Schultze und Mentz »aus d. Offizier-Stande entfernt« und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Entlassungsgesuche
Angesichts der mangelnden Bereitschaft der politischen und militärischen Führung zu Veränderungen und infolge der damit einhergehenden zunehmenden Repressionen sah sich eine Anzahl von Offizieren frühzeitig veranlasst, ihren Abschied einzureichen. Nicht immer wurden die politischen Motive so hervorgehoben wie durch Bernigau, von Beust, Böing oder Wülfing. In den veröffentlichten Abschiedsgesuchen bzw. Stellungnahmen zu ihrem Ausscheiden hoben diese Offiziere politische Gründe hervor. So schrieb August Bernigau am 11. Juli 1848: »Die Stellung, welche ich dem Offizierskorps gegenüber einnehme, seitdem ich offen meine politischen Ansichten und Überzeugungen ausgesprochen; die Untersuchungen, welche auf Grund derselben gegen mich vorgenommen, geben mir zur Genüge den Beweis, dass meines Bleibens in der Preuß. Armee anjetzo nicht länger sein kann. Da solches meiner Überzeugung widerstrebt und eine Reorganisation der Armee, wie ich sie nach der März-Revolution für mein Vaterland als heilbringend erachte, in geraumer Zeit noch nicht eintreten dürfte.«¹⁵
Friedrich von Beust erklärte: »Die Erlebnisse einer zwölfjährigen Dienstzeit haben in mir die Überzeugung hervorgebracht, dass in keinem Stand weniger eine freie menschliche Entwicklung, eine freie Betätigung am Gemeinwohl möglich ist als in dem des Offiziers. Das Bevormundungssystem hat in ihm seine höchste Vollkommenheit erreicht, Verordnungen, Erlasse und Befehle, durch eine ganze Reihe von Behörden hindurch, ersetzen ein auf der Vernunft basiertes Gesetz (…) Meine Ansichten brachten mich unterdessen in mancherlei Konflikte. Ich bekannte mich durch die Tat zu dem Grundsatz, dass der Soldat, der Offizier Bürger sei, dass der Bürger in Uniform als Erzieher, als Lehrer seine Mitbürger zur Verteidigung ihres Herdes tüchtig mache, dass der Bürger ein Recht habe seine Erzieher zu kennen, dass ihm die Vorgänge in den Offizierkorps nicht vorenthalten werden dürften. Dafür erhielt ich einen Verweis.«¹⁶
In einer ausführlichen Erklärung, datiert »Neiße, den 21. November 1848«, begründete Emil Böing seinen Austritt aus der Preußischen Armee. Er nennt zwei Gründe, die er ausführlich erläutert; als ersten führt er »die unnatürliche feindselige Stellung, die das preußische Heer dem Volke gegenüber« einnehme, an. Die mangelnde Teilnahme des Militärstandes »an den Interessen des ganzen Volkes« mache zudem »jede Möglichkeit einer friedlichen Beseitigung dieses traurigen Zerwürfnisses undenkbar«. Während der große Teil des Volkes eine »politische Umformung, eine Regenerirung des verstockten Staatslebens für nothwendig« halte, verweigere sich das Heer nicht nur diesen »Wünschen und Hoffnungen«, sondern stehe ihnen sogar feindlich gegenüber. Als zweiten Grund für sein Ausscheiden nennt er »die Unmöglichkeit, auf dem Wege der Reform im Heere eine Ausgleichung des so traurigen Zwiespalts zwischen Heer und Volk in nächster Zeit eintreten zu sehen«.¹⁷
Gebrochene Biographien
Das Spektrum der von den militärischen Vorgesetzten eingeleiteten disziplinarischen Maßnahmen gegen aufmüpfige Offiziere war breit gefächert. In manch einem Fall wurde zunächst ein »väterliches« Gespräch geführt, um den auf »Abwege« geratenen »Sohn« auf den »rechten Weg« zurückzuführen. Eine weitere Maßnahme konnte in der Versetzung in einen anderen Standort bestehen. Dass dies nicht nur eine Bagatellstrafe war, wird man verstehen, wenn man den Fall des Premierleutnants Steinhard betrachtet, der gerade nach einem Jahr Aufenthalt in Deutz, wohin er mit seiner Familie gezogen war, wieder nach Torgau zurück versetzt wurde. Aber selbst die jungen Offiziere traf es hart, wenn sie aus einer Garnisonstadt wie dem westfälischen Münster oder dem Rheinland (Köln oder Düsseldorf) in die pommersche Provinz versetzt wurden, wo sie sich, wie von Dücker und Böing, fern von alten Freunden und ihren Familien gegen reaktionäre »Kameraden« behaupten mussten.
Auch bei »Ehrengerichtsverfahren« kam es zu recht unterschiedlichen Entscheidungen. Im günstigsten Fall wurde dem Betroffenen die Empfehlung gegeben, selbst seinen Abschied einzureichen. Nach Paragraph 45 des Militair-Gesetz-Codex konnte aber auch das Urteil auf »Entfernung aus dem Offizierstande« lauten, wodurch der »Verurteilte seine Stelle und seinen Titel, so wie alle durch den Dienst erworbene Ansprüche« einbüßte, und »zur Wiederanstellung als Offizier unfähig« erklärt wurde. Die »mildere« Strafe war laut Paragraph 47 die »Dienstentlassung«. In diesem Fall verlor der Betreffende seine Stelle und alle »durch den Dienst erworbenen Ansprüche«.
Das härteste Schicksal der revolutionären Offiziere ereilte August Bernigau, 1849 Kommandeur des 1. Mannheimer Volkswehrbataillons. Er wurde am 24. Juni 1849 verhaftet, am 25. August durch ein Standgericht in Rastatt »wegen Kriegsverrats« zum Tode verurteilt und am 20. Oktober erschossen.
In seinem Abschiedsbrief, der in der Neuen Fränkischen Zeitung erschien, heißt es: »Ich sterbe unschuldig (…). Ich werde ungewöhnlich hart bestraft, weil ich ein preußischer Offizier gewesen bin.« Man habe ihn »aus Hass und Parteileidenschaft geopfert«. Er hoffe aber, dass sein Tod »ein Stein mit sein wird zu dem Baue menschlicher Gesetze«. »Gedenkt meiner als eines Opfers für bessere Zeiten«, wünschte er sich. Einen erschütternden Nachruf auf ihn verfasste sein Freund Otto de la Chevallerie in der Magdeburgischen Zeitung.
Auswege
Manch einer der Entlassenen versuchte anschließend sein Glück in der Armee Schleswig-Holsteins. Das dortige Kriegsdepartement warb um »Deutsche Offiziere«. Dabei wurde gefordert, dass den Gesuchen um Anstellung in der Schleswig-Holsteinischen Armee die »betreffenden Dienstpapiere, Führungsatteste und Zeugnisse« beizufügen seien. »Nur diejenigen«, so heißt es einschränkend, »welche befriedigende Zeugnisse über ihre Befähigung und ihr ehrenhaftes Verhalten beibringen, haben Anstellung zu gewärtigen«.¹⁸ Das bereits war für den einen oder anderen ein unüberwindliches Hindernis und erklärt, warum nach einem »Ehrengerichtsverfahren« ausgeschiedene preußische Offiziere in Schleswig-Holstein oft abgelehnt wurden.
Wer diese Hürde genommen und seinem »Vaterland« erneut gedient hatte, stand nach dem Ende der Kämpfe in Schleswig-Holstein und seiner Entlassung wieder vor dem Nichts. Viele Entwurzelte sammelten sich in Hamburg, Altona oder auf Helgoland und wurden entweder für die »Brasilianische Deutsche Legion« oder 1853 durch Großbritannien für den Krimkrieg angeworben und bildeten dort die »British-German Legion«.
Julius Bluhm trat in türkische Dienste, wo er sich insbesondere im Festungsbau verdient machte und rasch befördert wurde (1864 Oberst, 1884 Generalleutnant). Offiziere wie Karl von Boeckmann, Gustav Adolph Buschbeck, Gustav Gerber, Leopold von Gilsa, Rudolph Rosa, Wilhelm Steffen, Mortimer von Strantz und Alexander Schimmelpfennig von der Oye kämpften im amerikanischen Bürgerkrieg. Wilhelm Rüstow wurde 1860 Generalstabschef Garibaldis, von 1870 bis 1874 war er eidgenössischer Oberst und Ausbilder des Generalstabs der Schweiz. Doch mit 57 Jahren verlor er seine Dozentenstelle in Zürich und damit sein Einkommen; verzweifelt beging er Selbstmord. Einige Offiziere wandten sich dem Lehrerberuf zu, darunter Friedrich von Beust, Gustav Adolph Buschbeck, Wilhelm Steffen, Gustav Adolph Techow und Oscar von Wegnern. Redakteure wurden Otto de la Chevallerie und Hermann Orges. Noch ungewöhnlichere Berufswechsel sind zu verzeichnen etwa bei Theofil Adamski, der Fotograf wurde, Emil Böing (Farmer), Emil von Lilljeström (Geometer) und Carl Otto Philipp Wülfing (Landschaftsmaler).
Viele dieser bemerkenswerten Biographien sind noch immer ungenügend erforscht. Dabei könnten sie heute manchen Bundeswehr-Offizier ins Grübeln bringen.
Anmerkungen:
1 Theodor Fontane: Der Stechlin. Frankfurt am Main/Basel 1998, S. 99
2 Zit. n. Dieter H. Kollmer: Wieviel Bildung braucht der deutsche Offizier? Offiziersausbildung in Deutschland zwischen humanistischer Allgemeinbildung und beruflich-fachlicher Qualifikation (1806 bis 2003), in: S+F – Sicherheit und Frieden 22 (2004), S. 40
3 Ebd.
4 Rudolf von Gottschall: Aus meiner Jugend. Erinnerungen. Berlin 1898, S. 164
5 Wilhelm v. Bruchhausen an Friedrich v. Thiersch. München, 25. 1.1856, Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. Thierschiana I. 87
6 Ders. an Berthold Auerbach, 17.3.1852, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Sign. Z 3084
7 Friedrich v. Beust im Sonntagsblatt zur Westdeutschen Zeitung, Mai/Juni 1850
8 Ebd.
9 Regina Dieterle (Hg.): Theodor Fontane und Martha Fontane: ein Familienbriefnetz. Berlin 2002, S. 803
10 Otto de la Chevallerie, Bürger und Soldaten (19.9.1848)
11 Allgemeine Militär-Zeitung, Nr. 45, 13.4.1848
12 Neue Kölnische Zeitung (NKZ), Nr. 65, 19.3.1849
13 Neue Rheinische Zeitung (NRhZ), Nr. 260, 31.3.1849
14 Der Pommersche Bote für Stadt und Land, Nr. 93 1848, zit. in Höhn, Verfassungskampf, S. 323
15 Akten des Mil.-Kabinetts betr. Verabschiedung usw. von Offizieren wegen ihrer politischen Gesinnung oder wegen Unfähigkeit in den Jahren 1848/50, He. A. Rep. 2, 337t, Bl. 71, zit. n.: Walter Kühn: Der junge Hermann Becker, Bd. 1. Dortmund 1934, S. 195
16 Friedrich v. Beust, Abschiedsgesuch vom 2. April 1848, in: NRhZ, Nr. 56, 26.7.1848
17 NKZ, Nr. 21/22, 26./27.1.1849
18 Ostsee-Zeitung, Nr. 187, 11.8. 1849, Beilage, S. 1
Erhard Kiehnbaum ist Historiker und befasst sich seit den 1980er Jahren mit der Erforschung von Biographien vergessener 1848er-Revolutionäre. Er hat zahlreiche Publikationen zum Thema vorgelegt.
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