Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 01.04.2025, Seite 1 / Titel
NSU-Komplex

Zschäpes Auftraggeber

Neue Hinweise auf Verstrickungen des Verfassungsschutzes in den NSU-Terror
Von Max Grigutsch
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Auch Jahre nach den NSU-Morden: Demonstranten sehen »keinen Schlussstrich« (München, 11.7.2018)

Staat und NSU unter einer Decke? Das darf nicht sein! Und doch legen neue Hinweise abermals eine Verbindung deutscher Ermittlungsbehörden zu der Neonaziterroristin Beate Zschäpe nahe. Ein Beamter des Bundeskriminalamts soll versucht haben, Handydaten des Mitglieds des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU), der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet hatte, zu löschen. Das will ausgerechnet die Bild am Sonntag aufgedeckt haben. Der Linke-Bundestagsabgeordnete Ferat Koçak kommentierte am Montag gegenüber junge Welt, es sei eine »Schande, dass bis heute die Verbindungen zum Verfassungsschutz nicht wirklich aufgearbeitet und aufgeklärt wurden«.

Das Springer-Blatt sieht die geläufige Vermutung erhärtet, dass Zschäpe als V-Frau für den Verfassungsschutz tätig gewesen sein soll. Neben Zschäpe waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Teil des NSU-Kerntrios. Die beiden Männer begingen nach offiziellen Angaben am 4. November 2011 Selbstmord, Zschäpe tauchte unter. Am 8. November stellte sie sich den Behörden. Drei Tage später sollen nach BamS-Informationen in Köln mehr relevante Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz vernichtet worden sein, als bisher bekannt. Es seien mehr als zehn gewesen, will die Zeitung aus anonymen Quellen wissen. Darin sei dokumentiert gewesen, welche Mitglieder der Neonazigruppe »Thüringer Heimatschutz« – dem auch das NSU-Trio angehört hatte – für eine Zusammenarbeit mit dem Inlandsgeheimdienst angeworben wurden. Dass Dokumente geschreddert wurden, ist bereits sei 2012 bekannt. Verantwortlich war der Verfassungsschützer Axel Minrath, Tarnname Lothar Lingen.

Datenvernichtung will gekonnt sein – auch digital. Nicht geglückt ist nach BamS-Angaben der Versuch, Daten eines Mobiltelefons von Zschäpe loszuwerden. Dem Springer-Blatt liege ein Vernehmungsprotokoll der Bundesanwaltschaft von Februar 2012 vor, in dem Aussagen des für die Datensicherung beauftragten Heinz-Dieter Meier vom Bundespolizeipräsidium Potsdam aufgeführt sind. Demnach sei ein Löschversuch eines Beamten seiner Abteilung vereitelt worden. Ein »Mitarbeiter des Nachbarreferats« habe den Verantwortlichen beim Löschvorgang erwischt und die Daten retten können, so Meier. Nach eigenen Angaben des Mitarbeiters hatte das Bundeskriminalamt, das den Auftrag erteilt hatte, selbst die Vernichtung angeordnet. Laut BamS waren die ausgewerteten Informationen bis heute nicht für die U-Ausschüsse in Bund und Ländern einzusehen.

Das Blatt berichtete zudem unter Berufung auf drei anonyme Quellen und die SPD-Politikerin Dorothea Marx, damalige Vorsitzende des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses, dass Zschäpe während ihrer viertägigen Flucht bis zu zwölfmal eine Nummer in der »Abteilung Verfassungsschutz im Innenministerium Thüringen« angerufen habe. Marx stellte allerdings auf jW-Nachfrage am Montag klar, dass sie falsch zitiert worden sei. »Weder habe ich behauptet, dass Zschäpe beim Verfassungsschutz angerufen hat, noch habe ich eine konkrete oder ungefähre Anzahl von Gesprächen genannt.«

Koçak wiederum erinnerte gegenüber jW, auch mit Verweis auf bereits zuvor bekanntgewordene Vertuschungsaktionen, an Intransparenz und Unkontrollierbarkeit des Inlandsgeheimdienstes und dessen vermutliche Verstrickungen mit dem NSU. »Deshalb fordere ich, dass der Verfassungsschutz abgeschafft wird«, so der Linke-Politiker. Er selbst war 2018 im Kontext des sogenannten Neukölln-Komplexes Ziel eines Neonazibrandanschlags auf das Haus seiner Familie geworden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (31. März 2025 um 22:00 Uhr)
    Ich traue dem VS ja auch einiges zu (und ja, er gehört abgeschafft), aber wenn Zschäpe Informantin war – warum hat sie sich dann zu lebenslänglicher Haft mit besonderer Schwere der Schuld verknacken lassen, ohne es anschließend der undankbaren Obrigkeit heimzuzahlen und auszupacken? Wartet sie noch auf die Gegenleistung? Darauf, dass eine halbe Generation später die Strafvollstreckungskammer sie gegen jede Rechtspraxis laufen lässt, weil die Richter dort, die momentan vielleicht noch gar keine sind, auch mit drin stecken? Vertuschung von Schlamperei scheint mir immer noch wahrscheinlicher als Vertuschung von Kollaboration. Schlimm genug.

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