Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 09.04.2025, Seite 12 / Thema
Deutschland im Faschismus

Mörderisches Ende

Die Kriegsniederlage vor Augen schickten die Faschisten Hunderttausende KZ-Insassen auf Todesmärsche. Über die Naziverbrechen in den Jahren 1944/45
Von Ulrich Schneider
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Mahnmal zur Erinnerung an die Todesmärsche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Eine Kopie der von Hubertus von Pilgrim geschaffenen Skulptur steht auch in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem

Eines der faschistischen Massenverbrechen, das in der alten Bundesrepublik viele Jahrzehnte verdrängt worden war, waren die Todesmärsche aus den Konzentrationslagern, von den Nazis oft »Evakuierungstransporte« genannt. Der Hintergrund war das Heranrücken der alliierten Streitkräfte an der Ostfront und im Westen. Dies führte dazu, dass die faschistische Administration den Befehl gab, die im Einflussbereich der Front liegenden Konzentrations- und Vernichtungslager zu räumen und die Häftlinge in Lager im Reichsgebiet zu transportieren. Das betraf zuerst die Vernichtungslager in Polen, später auch das im Elsass befindliche KZ Natzweiler-Struthof.

Während in der DDR durch die historischen Abteilungen der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten, durch Arbeitsgemeinschaften junger Historiker und regionale Strukturen des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer die Todesmärsche erforscht, dokumentiert und mit öffentlichen Erinnerungszeichen markiert wurden, war das Thema in der alten BRD weitgehend unbekannt. Einzelne Beispiele der Erinnerung waren in den 1980er Jahren zu erkennen, aber es gab keine systematische Beschäftigung seitens der öffentlichen Erinnerung.

Dieses jahrzehntelange Schweigen wurde zum ersten Mal zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetischen Streitkräfte durchbrochen, als am 27. Januar 2005 der jüdische Historiker Prof. Dr. Arno Lustiger in einer Gedenkansprache im Deutschen Bundestag diese Verbrechen thematisierte. Lustiger, der viele Jahre zum jüdischen Überlebenskampf geforscht hatte, brachte die Verbrechen mit folgenden schlichten Worten auf den Punkt: »Zwischen November 1944 und Mai 1945 wurden etwa 700.000 Häftlinge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räumung und Liquidierung der KZ in Polen und Deutschland auf etwa hundert Todesmärsche durch ganz Deutschland getrieben. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte von ihnen umgekommen ist. Sie wurden erschossen, in Scheunen verbrannt, sind verhungert oder an Seuchen verstorben.« Hinter diesen knappen Sätzen verbirgt sich eine Dramatik, die im Folgenden an einzelnen Beispielen exemplarisch dargestellt werden soll.

Tatsächlich begannen die Todesmärsche schon Ende 1944 und endeten erst im Mai 1945. Manchmal wird auch davon gesprochen, die Transporte in die Vernichtungslager und die Weiterverschickung in die unterschiedlichen Außenlager in den jeweiligen Kriegs- und Rüstungsbetrieben darunter zu fassen, weil auch bei diesen Transporten unmenschliche Bedingungen herrschten und viele Opfer zu beklagen waren. Dennoch war die Dimension der Verbrechen und der unmenschlichen Transporte bei der Evakuierung der Lager um ein Vielfaches größer.

Bei der Auflösung der Vernichtungslager in Sobibor und Treblinka hatte die SS noch bis zuletzt die Arbeitskraft der Häftlinge dazu genutzt, um die Spuren der Vernichtung zu beseitigen. Als die verbliebenen Häftlinge versuchten, sich mit einem Aufstand zu retten, wurden mit großer Brutalität – und mit Unterstützung der polnischen Zivilbevölkerung im Umkreis des Lagers – die Geflohenen gesucht und getötet. Nur wenigen gelang damals die Flucht. Als das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek überhastet geräumt werden sollte, wurden auf Anweisung des Wirtschaftsverwaltungshauptamts der SS alle Häftlinge, die überhaupt nur geh- und damit in den Augen der SS arbeitsfähig waren, auf Evakuierungstransporte geschickt. Die Auflösung des Lagers erfolgte in solcher Eile, dass zentrale Gebäude, darunter die Gaskammer und ein Großteil der Häftlingsbaracken, unzerstört blieben. Die sowjetischen Truppen trafen, als sie das Lager befreiten, jedoch nur noch etwa 1.000 sowjetische Kriegsgefangene im Krankenbau an.

Auflösung des KZ Auschwitz

Ab September 1944 begannen erste Maßnahmen zur Evakuierung und Auflösung des Lagerkomplexes Auschwitz. Im Sinne der Sicherung von Arbeitskräften wurden vom August 1944 bis Mitte Januar 1945 ungefähr 65.000 männliche und weibliche Häftlinge – in ihrer überwiegenden Zahl Juden – in Außenlager anderer Konzentrationslager zum Arbeitseinsatz in das Reichsinnere überstellt. Mehrere in diesen Monaten neu entstandene Außenkommandos der Lager Buchenwald, Neuengamme und Ravensbrück hatten hier ihren Ursprung. Neben den jüdischen Häftlingen wurden auch polnische und russische Gefangene als »unsichere Elemente« evakuiert, befürchtete man doch nach den Erfahrungen in Sobibor, dass mit dem Heranrücken der Front hier ein Aufstandsrisiko bestand. Gleichzeitig ging die Massenvernichtung von nicht arbeitsfähigen Häftlingen in den Gaskammern bis Ende Oktober 1944 in Auschwitz unvermindert weiter. Erst Anfang November 1944 wurde auf Befehl Heinrich Himmlers die Vernichtung eingestellt, die Häftlinge der Sonderkommandos als lästige Zeugen der Vernichtungspolitik ermordet.

Mitte Januar bekam der SS-Lagerkommandant die Order, das Lager Auschwitz aufzulösen. Am 17. Januar 1945 fand der letzte reguläre Abendappell statt. Nach den vorliegenden Bestandslisten befanden sich an diesem Tag noch über 67.000 Häftlinge in allen Lagerteilen von Auschwitz, knapp 32.000 im Stammlager und in Birkenau sowie gut 35.000 im IG-Farben-Lager Monowitz.

Zwischen dem 17. und dem 23. Januar 1945 wurden unter dem Deckmantel »Karla« etwa 56.000 männliche und weibliche Häftlinge in Todesmärschen nach Westen getrieben. In einer Dienstanweisung des Gauleiters und »oberschlesischen Reichsverteidigungskommissars« Fritz Bracht von Ende Dezember 1944 wurden bereits spezielle Regeln für solche »Evakuierungsmärsche« festgelegt. Es wurde angeordnet, dass bei drohender »Feindberührung« vor allem Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zu Fuß evakuiert werden sollten. Dafür wurden entsprechende Trassen für diese Märsche festgelegt. In einem Aufsatz zur Auflösung des Lagers beschreibt Andrzej Strzelecki, dass aus Furcht vor Aufruhr und Widerstand die formierten Häftlingsmarschkolonnen Vorfahrt haben sollten, falls sie an Kreuzungen mit anderen Evakuierungstransporten zusammenträfen. Die Führer der Marschkolonnen sowie andere für die Durchführung der Evakuierung verantwortliche Nazifunktionäre vor Ort wurden verpflichtet, flüchtende Kriegsgefangene und Häftlinge wie Saboteure zu behandeln und sie auf der Stelle zu erschießen.

Unter diesen Bedingungen vollzog sich die Massenevakuierung aus dem Stammlager und den östlich gelegenen Außenlagern. Nachdem die ersten Vorbereitungen der Evakuierung recht zögerlich begonnen hatten, wurde durch die neuerliche Offensive der Roten Armee das Tempo der Transporte erhöht – mit grausamen Folgen für die Häftlinge. Die SS-Leute trieben die Häftlinge aus den Arbeitskommandos teilweise mehrere hundert Kilometer durch Oberschlesien. Häftlinge, die zusammenbrachen oder nicht mehr weiterlaufen konnten, wurden erschossen und am Straßenrand liegengelassen.

Größere Marschkolonnen wurden nach Loslau und Gleiwitz geführt, von wo Eisenbahntransporte nach Mauthausen und Buchenwald auf den Weg gebracht wurden. Bei eisigen Wintertemperaturen wurden die Häftlinge zum Teil in offenen Viehwaggons transportiert. In der Regel hatten die Häftlinge für die mehrtägigen Fahrten keine Essensration bekommen. Wer diese Qualen nicht überstand, dessen Leiche wurde auf der Fahrt aus dem Güterwagen geworfen. Zeugen berichteten, dass beispielsweise bei den Häftlingstransporten nach Buchenwald fast ein Viertel der Deportierten bereits gestorben war, bevor der Zug den Ettersberg erreichte.

Selbst während der Transporte kam es laut Berichten zu Massakern an den Häftlingen. Bei dem Ort Rybnik ermordeten Polizei und SS fast 300 Häftlinge, als der geplante Transport nach Westen nicht weiterfahren konnte. Den Häftlingen wurde befohlen, auszusteigen und zu Fuß weiterzumarschieren. Diejenigen, die wegen Entkräftung den Zug nicht schnell genug verlassen hatten, wurden mit Maschinengewehrfeuer auf die offenen Waggontüren ermordet.

Strzelecki benennt in seiner Untersuchung auch einzelne Fälle von Hilfeleistungen für Häftlinge, die dem Transport entfliehen konnten. Aber das waren tatsächlich nur Einzelfälle. In einer Gesamtbilanz der Vernichtung auf den Todesmärschen kommen polnische Historiker auf eine Zahl von 15.000 Häftlingen, die auf diesen Evakuierungstransporten gestorben sind, richtiger gesagt ermordet wurden.

Buchenwald

Mit dem weiteren Vormarsch der alliierten Streitkräfte wurden in allen Teilen des Deutschen Reiches auch die KZ-Außenlager im Einzugsbereich der Front aufgelöst und die Häftlinge auf Transport in die Stammlager oder Lager in noch nicht besetzten Teilen des Reiches geschickt. Sofern die Transporte noch mit der Eisenbahn möglich waren und die Kapazitäten nicht für die Wehrmacht bzw. für Kriegstransporte genutzt wurden, fanden solche Evakuierungen noch mit Güterwaggons statt. Aber ab Mitte März 1945 waren auch die Rückführungen der Häftlingsgruppen nur noch per Fußmarsch möglich, wobei die so getriebenen Häftlinge in der Regel geschwächt und nicht für einen so langen Fußmarsch, der mehrere hundert Kilometer weit sein konnte, vorbereitet waren.

Anfang März befanden sich alleine vom KZ Buchenwald noch 25.000 Häftlinge in den Außenlagern als Zwangsarbeiter der Rüstungsindustrie. Ihr Rücktransport in das Stammlager war mit zahllosen Todesopfern verbunden. Exemplarisch kann das an dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ Adlerwerke in Frankfurt am Main nach Hünfeld Ende März 1945 gezeigt werden. In diesem Jahr erinnert eine Initiative daran, dass – zugeordnet dem KZ Natz-weiler-Struthof – in den Frankfurter Adlerwerken über 1.600 Häftlinge im dortigen Lager Katzbach untergebracht waren. Beim Heranrücken der US-Amerikaner wurden am Abend des 24. März 1945 etwa 360 noch verbliebene Häftlinge zu Fuß durch Frankfurt in Richtung Osten getrieben. Ihr Ziel sollte das KZ Buchenwald sein, von wo einige der in den Adlerwerken eingesetzten Häftlinge zuvor als Zwangsarbeiter überstellt worden waren. Der Marsch sollte bis Hünfeld gehen – eine Strecke von etwa 120 Kilometern. Im Anschluss sollte ein Güterwaggon nach Weimar fahren.

Der Pole Andrzej Branecki war damals gerade 15 Jahre alt, als er auf den Todesmarsch geschickt wurde. Im Buch »Die letzten Zeugen« von Joanna Skibinska findet sich sein Erinnerungsbericht: »Wir waren in einem elenden Zustand. Als wir Fulda passierten, hat uns eine Gruppe amerikanischer oder englischer Kriegsgefangener gesehen, die ebenfalls von der SS bewacht wurde. Wir müssen einen furchtbaren Eindruck auf sie gemacht haben, da sie sofort anfingen, uns Lebensmittel zuzuwerfen. Die SS-Leute versuchten, sie davon abzuhalten, indem sie in die Luft schossen.« Janusz Garlicki, ein weiterer Überlebender dieses Todesmarsches, berichtet in seinem Buch »Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben« davon, wie ein Mitgefangener einem Kind am Straßenrand aus Hunger ein Stück Brot abgenommen habe. Die Mutter des Kindes habe die Wachmänner gerufen. Der Häftling wurde beiseite geführt und erschossen.

Der Todesmarsch führte über Maintal, Gelnhausen, Wächtersbach und Fulda und durch mehr als 20 Dörfer. Die ersten zwei Tage bewegte sich der Trupp nur in der Dunkelheit, dann auch am Tag, weil es schnell gehen musste. Die Überlebenden des Todesmarsches wurden von Hünfeld aus noch mit der Bahn nach Buchenwald deportiert. Die meisten von ihnen wurden jedoch in den kommenden Tagen erneut auf Transport geschickt – nun in Richtung KZ Dachau. Dort befreite die US-Armee am 29. April 1945 knapp 40 Überlebende dieses Todesmarsches.

Wie die Häftlinge des Lagers Katzbach erleben mussten, begannen bereits Ende März die ersten Schritte zur Evakuierung des KZ Buchenwald. Zur Beruhigung der Häftlinge versprach der Lagerkommandant, SS-Oberführer Hermann Pister, gegenüber den reichsdeutschen Häftlingen »bei seinem Ehrenwort als Offizier«, das Lager werde nicht evakuiert. Doch schon am 4. April 1945 kamen die ersten Anordnungen zur Evakuierung – zuerst gegen jüdische Häftlinge.

Am Nachmittag des 4. April kam über den Lagerlautsprecher der Befehl: »Alle Juden auf dem Appellplatz antreten!« Damit war klar, mit den jüdischen Insassen sollte der Anfang gemacht werden. Zu dem Zeitpunkt befanden sich noch rund 6.000 jüdische Häftlinge im Lager, die meisten von ihnen waren durch Hunger und Kälte geschwächt. Mit einer List gelang es dem kommunistischen Lagerältesten Hans Eiden, die Evakuierung um einen Tag zu verzögern. In der Nacht rissen dann die Juden den Judenstern von der Häftlingskleidung und versteckten sich wo immer es möglich war, in den Baracken unter den »Ariern«, in Lagerräumen, in Kanalschächten etc. Die Blockältesten vernichteten die Karteikarten – das Auffinden jüdischer Gefangener sollte der SS durch diese Art des passiven Widerstands so schwer wie möglich gemacht werden.

Als am Morgen des 5. April das Lager zum Appell antrat, zeigte der Appellplatz zum ersten Mal seit acht Jahren ein Bild des Durcheinanders statt der befohlenen »Ordnung«. Bei den Judenblocks fehlten Hunderte, bei den Blocks der »Arier« standen plötzlich mehr Häftlinge als zuvor. Insgesamt fehlten zahlreiche Häftlinge. Die SS versuchte mit Gewalt, die jüdischen Häftlinge zusammenzutreiben. Nachdem etwa 3.000 jüdische Häftlinge zusammengetrieben worden waren, brach die SS die Aktion ab. Im Kinderblock 8 verhinderte der kommunistische Blockälteste Wilhelm Hammann durch beherztes Auftreten, dass die Kinder und Jugendlichen ebenfalls auf Transport geschickt wurden.

Die ersten Evakuierungskolonnen sollten zu Fuß das Ziel KZ Flossenbürg erreichen. Später wurden sie in Richtung KZ Dachau umgeleitet. Auf dem Marsch wurden zahllose Häftlinge erschlagen und erschossen, einige wenige konnten fliehen. Mitte April kamen nur noch rund 300 Häftlinge im KZ Dachau an. Über 4.000 Gefangene, die aus dem Außenlager Ohrdruf S III nach Buchenwald getrieben worden waren, wurden unmittelbar darauf unter dem Kommando der SS mit Viehwaggons auf den Weg zum KZ Flossenbürg gebracht. Auch dieser Transport wurde nach Dachau umgeleitet. Er erreichte nach 21 Tagen sein Ziel. In diesen drei Wochen starben rund 1.500 Häftlinge.

Am Sonntag, dem 8. April, wurde den Blockältesten erklärt: »Bis 12 Uhr muss das Lager leer sein.« Der SS-Rapportführer brüllte durch das Mikrofon: »Lagerältester, aufmarschieren lassen!« Tatsächlich geschah jedoch nichts. Häftlinge erklärten, sie hätten Angst vor Tieffliegern und Bombardierungen während der Evakuierung, außerdem hätten sie noch nichts zu essen bekommen. Als die Häftlinge nicht freiwillig antraten, knüppelte die SS im Laufe einer guten Stunde etwa 9.600 Gefangene aus dem Lager an Sammelplätze. Die Hälfte wurde zum Weimarer Bahnhof gescheucht. Die anderen erwarteten ihren Abtransport unter freiem Himmel, unter Aufsicht der sogenannten Schwarzen – schwarz uniformierte ukrainische SS-Freiwillige. Am Abend wurde ein weiterer Transport von 4.800 Häftlingen aus verschiedenen Nationen aus dem Lager geknüppelt.

Am kommenden Tag erlebte das Lager den längsten Fliegeralarm, so dass auch die SS in ihren Möglichkeiten eingeschränkt war. Da der Luftalarm erst nach neun Stunden beendet wurde, gingen an diesem Tag keine Todesmärsche ab. Am Dienstag, 10. April, früh, erfolgte ein neuer Befehl Pisters: »Das Lager wird heute restlos evakuiert.« Um 11 Uhr sollten die sowjetischen Kriegsgefangenen unter SS-Bewachung auf Sondertransport gehen, anschließend war geplant, alle übrigen Häftlinge in Gruppen zu 4.000 Mann in Abständen von je zwei Stunden auf Transport zu schicken. Die Richtung beziehungsweise die Ziele blieben im Dunkeln. Am 10. April 1945 verließen tatsächlich rund 10.000 Gefangene auf Todestransporten das Lager, durch Tieffliegerangriffe der Amerikaner verzögerte sich der Abmarsch jedoch bis in die Abendstunden, so dass 4.500 überwiegend tschechische, polnische und sowjetische Häftlinge auf dem Bahnhof in Weimar übernachten mussten, ehe sie zu je 100 in Waggons verladen wurden. Bereits kurz vor Jena wurde durch einen Fliegerangriff die Lokomotive des Zuges beschädigt, so dass die Häftlinge in Gruppen aufgeteilt zu Fuß marschieren mussten. Einzelnen gelang die Flucht, andere wurden von den nachrückenden Amerikanern befreit.

Verselbständigte Mordmaschinerie

Verbunden mit diesen Todesmärschen waren zahllose Massenverbrechen, die auch als Kriegsendeverbrechen bezeichnet werden. In der Dokumentation »Mörderisches Finale«, die Ulrich Sander im Auftrag des Internationalen Rombergparkkomitees und des Fördervereins Gedenkstätte Steinwache vor einigen Jahren herausgegeben hat, wurden zum ersten Mal diese Massenverbrechen systematisch zusammengetragen und in den historischen Kontext gestellt. Dazu gehörten die Massenmorde in der Bittermark und in der Wenzelnbergschlucht, aber auch verschiedene Todestransporte aus den Zwangsarbeiterlagern im Ruhrgebiet.

Zu den besonders brutalen Verbrechen gehört die Ermordung in der Isenschnibber Scheune in Gardelegen. Mit dem Heranrücken der Front wurden Anfang April 1945 die Dora-Außenlager in Ellrich-Bürgergarten, Ilfeld, Mackenrode, Nüxei, Osterhagen, Rottleberode, Stempeda und Wieda sowie ein Außenlager des KZ Neuengamme in Hannover-Stöcken geräumt. Die Lagerwachmannschaften der SS und der Wehrmacht trieben die KZ-Häftlinge in die Altmark. Ihr Ziel war ursprünglich das KZ Neuengamme bzw. Bergen-Belsen. Teilweise versuchte man Eisenbahnwaggons zu nutzen. Nach mehrtägigen Fahrten kamen die Transportzüge mit mehr als 4.000 KZ-Häftlingen in der Umgebung von Gardelegen wegen zerstörter Gleisanlagen zum Stehen. Orientierungslos schickte man Gruppen zu Fuß auf Transport, wobei entlang der Marschwege viele Häftlinge ermordet wurden, nur wenigen gelang die Flucht.

Auf Befehl des NSDAP-Kreisleiters Gerhard Thiele wurden am Abend des 13. April die Häftlinge zu einer Feldscheune auf dem Gut Isenschnibbe am Stadtrand getrieben. Nicht gehfähige Menschen wurden mit Fuhrwerken transportiert. Die Häftlinge wurden in die Scheune hineingepfercht und eingesperrt, die großen Schiebetüren wurden verriegelt. Mit Benzin getränktes Stroh wurde von der SS in Brand gesteckt, zudem schossen Wachmannschaften in die Scheune. Selbst Handgranaten, Panzerfäuste, Signalmunition und Phosphorgranaten sollen zum Einsatz gekommen sein. Bei dieser Aktion am 13. April 1945 wurden 1.016 KZ-Häftlinge ermordet. Die Dimension dieses Massenmordes veranlasste die heranrückenden alliierten Streitkräfte, an diesem Ort des Verbrechens schon 1945 eine Gedenkstätte einzurichten.

Weitere Todesmärsche gingen in Richtung des KZ Bergen-Belsen, wo die Haftbedingungen selbst bereits katastrophal waren. Auf diesen Transporten wurden ebenfalls zahllose Häftlinge ermordet. Zwei Beispiele sollen genügen. Auf dem Friedhof von Handeloh (Niedersachsen) findet man die Grabstätten und eine Erinnerungstafel »Hier ruhen 64 KZ-Häftlinge«. Sie gehörten zu einem Häftlingstransport in einem Güterzug, der im März/April 1945 tagelang auf der Strecke Buchholz–Soltau gestanden hatte. Sie wurden zwar bewacht, aber es gab keine Verpflegung. Die Gefangenen starben an Hunger, Kälte, Erschöpfung und Krankheiten.

Unter ähnlich katastrophalen Bedingungen vollzog sich der Todesmarsch aus dem Lager Kleinbodungen, einem Außenlager des KZ Mittelbau-Dora im Nordharz, Anfang April setzte sich der Marsch in Richtung KZ Bergen-Belsen in Bewegung. Wer den Strapazen nicht gewachsen war, wurde von der begleitenden SS erschossen. Noch auf den letzten Kilometern wurden bei Hustedt nachweislich acht Menschen ermordet. Von 613 Häftlingen, die losgegangen waren, kamen 583 in Bergen-Belsen an.

Wenn man die Berichte der Überlebenden und die Ergebnisse der historischen Forschung auswertet, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass diese Todesmärsche weder systematisiert noch wirklich geplant waren. Man muss den Eindruck gewinnen, dass sich die Mordmaschinerie des faschistischen Regimes in diesen Tagen längst verselbständigt hatte.

Eine rationale Begründung für die Todesmärsche gab es nicht mehr. Die Illusion eines »Endsieges« musste bei allen Tatbeteiligten längst zerstoben gewesen sein. Die Ausplünderung der Arbeitskraft stand mangels Arbeitsgelegenheiten nicht mehr an. Nur noch die Vernichtung möglicher Zeugen der Verbrechen konnte als Begründung für diese Transporte herangezogen werden. In diesem Sinne konnte es den Wachmannschaften egal sein, wie viele Häftlinge diese Tortur noch überlebten. Als »Entschuldigung« beriefen sich viele der Wachleute bei späteren Prozessen auf einen »Befehlsnotstand«, aber auch der rechtfertigt nicht, dass Wachleute Häftlinge, die nicht mehr gehfähig waren, einfach im Straßengraben erschossen. Dass sich die Täter ihres verbrecherischen Handelns durchaus bewusst waren, wird auch dadurch deutlich, dass es verschiedene Berichte gibt, nach denen Wachleute beim Herannahen der alliierten Streitkräfte Häftlinge ermordeten, um in deren Kleidung zu schlüpfen und als »Verfolgte« bei den Alliierten unterzutauchen.

Und die Zivilbevölkerung?

Die Todesmärsche führten oftmals durch kleinere Orte, die zumeist bis dahin vom Krieg verschont geblieben waren. In diesem Moment waren der Krieg, aber insbesondere die faschistischen Verbrechen vor aller Augen sichtbar, wenn die Häftlinge und die SS-Wachmannschaften durch die Dorfstraßen zogen. Bezeichnend für die Haltung der deutschen »Volksgemeinschaft« war, dass solche Todesmärsche, insbesondere wenn sie zu Fuß erfolgten, vor allem als »Zumutung« empfunden wurden. Vielleicht verstärkten die Eindrücke auch die Angst der Menschen davor, was passieren würde, wenn die Alliierten den Krieg gewinnen, da man ja erkennbar selbst mittelbar beteiligt war an den faschistischen Massenverbrechen.

Auf diese Weise waren die Todesmärsche einerseits Ausdrucksform für die Menschenverachtung des faschistischen Regimes in den Zeiten seiner Agonie. Gleichzeitig stellten solche Verbrechen auch eine »Tätergemeinschaft« mit den »Volksgenossen« her, die verhinderte, dass individuelle Kapitulationen oder die Bereitschaft, beim Heranrücken der Alliierten den Krieg zu beenden, um sich griffen. Durchhalteparolen der Nazis führten dazu, dass sogar Wachmannschaften aktiv unterstützt wurden beim Weitertransport der Gefangenen oder beim Verscharren der Leichen der Transporte. Beteiligt waren nicht nur Funktionsträger, Polizisten, lokale Nazigrößen oder Mitglieder von »Volkssturm« und »Hitlerjugend«. Die Akteure kamen aus allen Schichten und Altersgruppen. Es gab nur wenige Fälle, in denen Menschen den KZ-Häftlingen bei diesen Transporten Hilfe leisteten.

Ulrich Schneider ist Historiker und Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR). Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 3. Februar 2025 über die Entstehung des KZ Buchenwald: Vernichtung durch Arbeit

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  • Leserbrief von Ulrich Sander aus Dortmund (9. April 2025 um 10:47 Uhr)
    Die Mordbefehle: »sind zu vernichten«. Diese Morde wie auch die Massaker in den KZ, den Gefängnissen und auf den Todesmärschen entsprachen dem Nachkriegs- und Überlebenskonzept des deutschen Faschismus. Gestapo-Chef Heinrich Müller erklärte der Frau von Graf Moltke: »Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde. Wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.« Nazigauleiter August Eigruber begründete einen Befehl, Häftlinge im KZ Mauthausen zu ermorden, mit den Worten: Die Alliierten dürften »keine aufbauwilligen Kräfte« vorfinden. Zugleich ging es darum, Zeugen der Naziverbrechen zu beseitigen. Am 24. Januar 1945 lautete ein Telegramm der obersten Gestapoleitung an die Dienststellen im Rheinland und Westfalen: »Die gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den ausländischen Arbeitern und auch ehemalige deutsche Kommunisten veranlassen, sich umstürzlerisch zu betätigen. (…) Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort und brutal zuzuschlagen. (…) Die Betreffenden sind zu vernichten.« Der Dortmunder Polizeihistoriker Alexander Primavesi schrieb später über solche Befehle (in den Ruhr Nachrichten vom 31. März 1994): »Es war der wahnwitzige Vorsatz, niemanden aus den Reihen der politischen Gegner am Leben zu lassen, damit sie nach dem Zusammenbruch nicht führende Positionen besetzen konnten.«

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