Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 08.04.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Ernährung

Dänemarks Exportschlager

Von Ozempic bis Wegovy: Wie die Abnehmspritze funktioniert
Von Daniel H. Rapoport
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Pumper in Massephase enttäuscht: Die Fettspritze enthält kein Fett

Seit dem 15. Juli 2023 ist das als »Abnehmspritze« bekannte Arzneimittel Semaglutid auf dem deutschen Markt erhältlich. Sein Handelsname: Wegovy. Obwohl es ziemlich teuer ist – je nach Dosierung circa 200 bis 300 Euro im Monat – und keinen Zuschuss von den Krankenkassen erhält, verkauft es sich besser als das proverbiale geschnitten Brot. So unfassbar gut nämlich, dass der Börsenwert des dänischen Pharmakonzerns Novo Nordisk, der Semaglutid entwickelt hat, auf über 300 Milliarden Euro gestiegen ist. Damit wurde er einer der wertvollsten Pharmakonzerne der Welt und das bei weitem teuerste »Asset« der gesamten dänischen Nationalwirtschaft (der Wert des Unternehmens beträgt mehr als 80 Prozent des dänischen Bruttoinlandproduktes).

Ein bisschen war das klar: Wer ein wirksames Mittel gegen Übergewichtigkeit findet, hätte praktisch eine Lizenz zum Gelddrucken in den Händen. Für gewöhnlich ist der Mensch nicht gern dick. Da sich der menschliche Organismus aber evolutionär durch Fähigkeit zur Vorratsbildung an die Bedingungen von Mangel und Hunger angepasst hat, neigt er dazu. Was einst Überlebensvorteil war – das Einlagernkönnen von Fett für karge Zeiten – hat sich in Gegenden mit hoher Ernährungssicherheit zu einem Fluch gewandelt. Es ist schon pervers: Während weltweit fast eine Milliarde Menschen unterernährt sind, Tendenz leider seit einigen Jahren wieder steigend, verdienen Pharmakonzerne in den wohlgenährten Weltregionen Milliarden Euro damit, Menschen appetitloser zu machen.

Von derlei Irrsinn abgesehen ist Semaglutid durchaus eine pharmakologische Meisterleistung. In ihm kulminieren ziemlich genau hundert Jahre Entwicklungs- und Forschungsarbeit; Novo Nordisk wurde 1923 gegründet, nur zwei Jahre nach der Entdeckung des Insulins, und war immer mit der Erforschung und Behandlung von Diabetes befasst.

Komplexe Wirkstoffe

Die Pharmakologie fast des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts war von der Entwicklung »kleiner Moleküle« geprägt, also von meistenteils organischen Verbindungen mit einem Gerüst aus größenordnungsmäßig rund zehn Kohlenstoffatomen. Obwohl bereits mit derart kleinen Gerüsten eine unvorstellbar große Anzahl unterschiedlicher Moleküle gebildet werden kann, beruhen biochemische Effekte oft nicht nur auf kleinen, lokalen Wechselwirkungszonen, sondern finden über größere räumliche Domänen und nach komplexeren, mehrschrittigen Mechanismen statt.

Das heißt, die Pharmaindustrie musste sich, wenn sie die Limitierungen kleiner Moleküle überwinden wollte, bequemen, das Tor zu größeren, komplexeren, aber biologisch präziseren Wirkstoffmolekülen zu öffnen. Das gelingt nach und nach vor allem mit Hilfe von Gentechnik. Zu den neuen, »Biologika« genannten Wirkstoffen zählen therapeutische Antikörper, Nukleinsäuren wie DNA oder RNA (aus der Coronaimpfung bekannt) sowie Peptide. Bei letzteren handelt es sich um kleine Eiweiße, die aus zehn bis fünfzig Aminosäuren bestehen und oft als Hormone wirken. Sie sind besonders schwierig herzustellen und technologisch zu beherrschen.

Hormone sind Botenstoffe, die sich über das Blut- und Lymph-system im Körper verbreiten und ihre Nachricht an all jene Zellen überbringen können, die ein entsprechendes Rezeptormolekül auf ihrer Zellmembran tragen, sozusagen darauf horchen, ob ein Hormonmolekül in der Nähe ist. Zellen, die den Rezeptor nicht gebildet haben, bemerken das Hormon gar nicht. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass auch ungerichtet sich ausbreitende Signalmoleküle an sehr spezifischen Orten wirken können. Semaglutid wirkt als ein solches Hormon.

Insulin und Glucagon

Seine Wirkung beeinflusst die Aufnahme von Zucker (Glukose) aus dem Blut. Der Blutzuckerspiegel wird durch zwei gegenläufig wirksame Hormone gesteuert: Insulin bewirkt eine Senkung des Blutzuckers, indem es die Glukoseaufnahme der Körperzellen einschaltet. Der Zucker geht aus dem Blut in die Zellen und steht dort als Energielieferant zur Verfügung. Gegenspieler des Insulins ist das Glucagon. Es lässt den Blutzuckerspiegel ansteigen, indem es die Freisetzung von Glucose bewirkt, die zuvor in der Leber gespeichert war.

Obwohl die Insulin- und Glucagonausschüttungen im wesentlichen über den Blutzuckerspiegel selbst reguliert werden – ansteigender Blutzucker führt zur Insulinausschüttung, abnehmender zur Glucagonausschüttung –, gibt es weitere Hilfshormone, die ihrerseits die Insulinausschüttung steuern und damit einen noch stärkeren Abfall des Blutzuckerspiegels erzeugen. Dieser zusätzliche Signalweg wurde bereits in den 1960er Jahren als »Inkretin-Effekt« festgestellt, als man bemerkte, dass Glukose, die direkt ins Blut injiziert wird, eine schwächere Insulinantwort erzeugt als dieselbe Menge Zucker, die über den Verdauungstrakt aufgenommen wird. Die für diesen Effekt zuständigen Hormone wurden in den 1980er Jahren gefunden. Es handelt sich um GIP (Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid) und GLP-1 (Glucagon-like Peptid 1). Sie werden vor allem von den Zellen des Dünndarms ausgeschüttet, sobald dieser mit der Verdauung zuckerhaltiger Nahrung befasst ist.

Du hast bereits gegessen

Jetzt haben wir alles beisammen, um die Wirkung von Semaglutid zu verstehen: Im Grunde ist Semaglutid das leicht modifizierte, synthetisch hergestellte GLP-1-Hormon. Die Modifikationen bewirken vor allem eine längere Haltbarkeit im Organismus, so dass es in der Regel ausreicht, das Medikament einmal wöchentlich zu spritzen. Als GLP-1-Mimetikum hat Semaglutid aber dieselbe prinzipielle Wirkung: Es regt die Insulinausschüttung an und senkt den Blutzucker. Im Grunde gaukelt es dem Körper auf molekularbiologischer Ebene vor, dass wir bereits gegessen haben. Dadurch wird nicht nur die Insulinausschüttung angekurbelt, sondern es stellt sich auch eine lang anhaltende Appetitlosigkeit ein. Man hat einfach seltener und weniger Hunger.

Ursprünglich wurde Semaglutid zur Diabetesbehandlung entwickelt und unter dem Handelsnamen »Ozempic« zugelassen. Der beachtliche Gewichtsverlust – im Schnitt etwa 15 Prozent – galt zunächst als Nebenwirkung. Erst nach und nach dämmerte den Dänen, wie wertvoll das Medikament werden könnte, wenn es eine weitere Zulassung zur Behandlung von Übergewichtigkeit bekäme. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.

Die Nebenwirkungen von Wegovy sind erstaunlich überschaubar für ein derart wirksames Medikament. Sicher eine Folge der großen Ähnlichkeit des synthetischen Hormons mit dem echten GLP-1. Man muss gewärtigen, dass man die Dinge spürt, die mit Appetitlosigkeit gemeinhin einhergehen: Übelkeit, Magenverstimmungen und Schwindelgefühl. An schweren Nebenwirkungen gibt es vor allem Entzündungen der Bauchspeicheldrüse. Das Medikament ist also keineswegs harmlos. Aber dafür, dass es den Anfang einer neuen Wirkstoffklasse macht, ist es bereits ungewöhnlich sicher.

Natürlich blickt die gesamte Pharmabranche voll Neid auf den dänischen Erfolg. Praktisch alle großen Pharmaunternehmen arbeiten mit Hochdruck an eigenen GLP-1-Versionen. Einige sind bereits zugelassen, darunter auch Darreichungsformen, die als Pille anstatt als Spritze verabreicht werden können. Einstweilen aber bleibt die Marktführerschaft von Wegovy ungebrochen.

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