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Aus: Ausgabe vom 19.04.2025, Seite 15 / Geschichte
Erster Weltkrieg

Deportation ins Nirgendwo

Vor 110 Jahren begann der türkische Völkermord an den Armeniern. Ihm fielen mehr als eine Million Menschen zum Opfer
Von Gerd Bedszent
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Russische Soldaten finden 1915 im Dorf Sheykhalan nur noch die Überreste der bei lebendigem Leib verbrannten Bewohner

Der heutige Staat Türkei ist ein Zerfallsprodukt des Osmanischen Reiches. Dieses entstand im 14. Jahrhundert als Herrschaftsgebiet turksprachiger Nomadenstämme im Osten Anatoliens. In einer Reihe von Kriegen konnten sich die Osmanen auf Kosten benachbarter Feudalreiche ausdehnen und wurden zu einem bedeutenden europäischen Machtfaktor. Das Osmanische Reich erstreckte sich zeitweise über weite Teile des Nahen Ostens, Nordafrikas und Südosteuropas. Es profitierte von seiner Lage als Transitregion für den Handel zwischen Europa und Ostasien. Mit der Expansion europäischer Seemächte ab dem 15. Jahrhundert verlor es aber zunehmend an Bedeutung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde es zum Spielball entwickelter kapitalistischer Staaten und verlor Teile der zuvor eroberten Territorien wieder.

Die türkische Bevölkerungsgruppe bildete im Osmanischen Reich eine Minderheit, die aber fast alle Schaltstellen von Politik und Militär besetzt hielt. Ein größeres, rein türkisches Siedlungsgebiet gab es im Osmanischen Reich nirgends. Eine Unterdrückung der nichttürkischen Bevölkerung fand zunächst kaum statt; auch nichtmuslimische Religionsgemeinschaften genossen Schutz – ihre Anhänger waren allerdings durch eine höhere Steuerbelastung benachteiligt. Auch die Bevölkerung des türkischen Kerngebietes Anatolien war ethnisch gesehen eine Mischung aus Türken, Kurden, Armeniern, Griechen, Arabern sowie anderen Ethnien.

Unzufriedenheit umgelenkt

Eine zentral gesteuerte absolutistische Verwaltungsstruktur konnten die osmanischen Herrscher nie errichten. Karl Marx charakterisierte solche nicht funktionierenden Riesenreiche an der Schwelle zur kapitalistischen Moderne als »Konglomerat schlechtverwalteter Provinzen mit einem nominellen Herrscher an der Spitze«. Als die osmanischen Eliten dann am Ende des 19. Jahrhunderts Kurs auf die längst überfällige Herstellung eines kapitalistisch strukturierten Nationalstaates nahmen, rief dieser späte Versuch der Modernisierung eine Reihe einander ausschließender Nationalismen hervor. Schließlich bemächtigten sich unter der Bezeichnung »Jungtürken« agierende Erneuerer – hauptsächlich höhere Staatsbeamte und Offiziere der osmanischen Armee – der Führungsspitze des niedergehenden Feudalreiches und erzwangen mit rabiaten Methoden einen Kurs der schrittweisen Anpassung an den Westen. Zu deren Folgen zählten zahlreiche Pogrome gegen nichttürkischstämmige Teile der Bevölkerung.

Schrittmacher der kapitalistischen Entwicklung im Osmanischen Reich waren auch armenischsprachige Angehörige der Oberschicht. Diese hatten als Kaufleute und Bankiers durch Handelskontakte mit westlichen Staaten zum Teil nicht unbeträchtliche Reichtümer angehäuft und unterstützten anfangs die Reformbemühungen der jungtürkischen Regierung. Allerdings kollidierten die Interessen der hinter der Regierung stehenden »Komitees der Jungtürken« mit denen ihrer armenischen Konkurrenten. Die Unzufriedenheit osmanischer Traditionalisten und religiöser Fundamentalisten mit den Reformen der jungtürkischen Regierung wurde von dieser zielgerichtet auf die armenische Bevölkerungsgruppe umgelenkt – die ursprünglich liberale Ideologie der Jungtürken nahm so zunehmend ethnorassistische Züge an.

Im Windschatten des Ersten Weltkrieges, in dem das Osmanische Reich auf deutscher und österreichischer Seite kämpfte, versuchte die Staatsführung, sich per Massenmord der ungeliebten armenischen Bevölkerung endgültig zu entledigen. Die immer mehr ausufernden Kriegskosten sollten durch Beraubung und Enteignung dieser Bevölkerungsgruppe beglichen werden. Zudem hofften die Jungtürken, ihrem Ziel eines rein türkischen Nationalstaates so ein Stück näher zu kommen. Auch konnte die aufstrebende türkische Bourgeoisie sich auf diese Weise Immobilien, Unternehmen und sonstige Vermögenswerte von Armeniern kostengünstig aneignen. Helfershelfer dieses Massenmordes waren oft gewöhnliche Kriminelle, die bei der Gelegenheit ungestraft morden, plündern und vergewaltigen durften. Es ging also bei der Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich nicht nur um ethnische Säuberung, sondern auch um nackten Raub.

Angeblich Kollaboration

Der am 24. April 1915 einsetzende Völkermord wurde damit begründet, dass die christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich – insbesondere die Armenier – den Kriegsgegner Russland unterstützen würden. Für kleinere politische Gruppierungen traf dies zwar durchaus zu – jedoch keinesfalls für die Masse der armenischen Bevölkerung.

Der Massenmord begann damit, dass die politische und wirtschaftliche Elite der armenischen Bevölkerung verhaftet und in der Folge zumeist umgebracht wurde. Als nächstes wurden die armenischsprachigen Soldaten im osmanischen Heer entwaffnet und größtenteils erschossen. Dann wurde die armenische Bevölkerung in die syrische Wüste zwangsumgesiedelt. Die große Masse der Deportierten verhungerte oder verdurstete unterwegs, andere wurden von armenierfeindlichen Milizen oder auch von Räuberbanden massakriert.

Binnen kurzer Zeit kamen so Hunderttausende von Menschen ums Leben – die genaue Anzahl ist unbekannt, zumal die Massaker an den Armeniern keinesfalls auf die Jahre 1915 bis 1916 beschränkt blieben: Kämpfe zwischen türkischen und armenischen Milizen als Spätfolge des Genozids gab es noch in den 1920er Jahren. Die meisten Schätzungen von Historikern gehen derzeit von etwa 1,5 Millionen Toten aus. Der türkische Staatsgründer und Präsident Mustafa Kemal Atatürk nannte 1920 einem US-amerikanischen Diplomaten gegenüber die Zahl von 800.000 armenischen Toten. Eindeutig dokumentiert sind die osmanische Ausrottungspolitik und auch deren Unterstützung durch die deutsche Regierung und ihr Militär in den Akten des Auswärtigen Amtes.

Gab es Widerstand gegen den Völkermord? Gewiss. Nicht alle osmanischen Soldaten türkischer Nationalität beteiligten sich an den angeordneten Massakern. Türkische Dorfbewohner versteckten gelegentlich ihre armenischen Nachbarn vor den Mördern oder versorgten die Elendszüge der Deportierten mit Lebensmitteln.

In mehreren Orten Anatoliens setzte sich die armenische Bevölkerung – wenn auch vergebens – bewaffnet gegen die Deportation zur Wehr. Einige armenische Milizen konnten sich bis zu den vorrückenden russischen Truppen durchkämpfen. Und im heutigen Syrien verteidigten sich mehrere armenische Küstendörfer gegen das osmanische Militär – bis zu ihrer Evakuierung durch englische und französische Kriegsschiffe. Der Schriftsteller Franz Werfel hat diesem Akt erfolgreichen Widerstands mit seinem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« ein literarisches Denkmal gesetzt.

Ohne diplomatische Störungen

Die Austreibung der armenischen Bevölkerung aus ihren Wohnsitzen in den ostanatolischen Provinzen und ihre Ansiedelung in anderen Gegenden wird schonungslos durchgeführt. Nach den glaubwürdigen Angaben des Katholikos von Sis sind allein aus seiner Diözese bisher 30.000 Armenier deportiert worden. Zeitun und Umgebung, Elbistan, Dörtyol, Alabasch, Hassanbeili und selbst kleinere Ortschaften sind vollständig geräumt. Hier wie anderwärts werden die Bewohner über das Innere zerstreut und unter Muhammedanern angesiedelt, zum Teil in weit voneinander entfernten Gegenden, wie zum Beispiel die Bewohner von Zeitun, die teils nach der Umgebung von Konia, teils nach Der Zor am Euphrat verpflanzt werden. Die Armenier von Erzerum sind nach Terdjan geschafft worden.

Die Ausgesiedelten werden gezwungen, sofort oder in wenigen Tagen ihre Wohnsitze zu verlassen, so dass sie ihre Häuser und den größten Teil ihrer beweglichen Habe im Stiche lassen müssen und sich nicht einmal mit den notwendigsten Subsistenzmitteln für den Transport versehen können. Bei der Ankunft an ihrem Bestimmungsort stehen sie hilf- und wehrlos inmitten einer ihnen feindlich gesinnten Bevölkerung da. An einzelnen Stellen ist es schon während ihrer Überführung zu Ausschreitungen gekommen; die von Diarbekir abgeschobenen Armenier sollen unterwegs sämtlich abgeschlachtet worden sein. (…)

Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage. Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich gegenüber dem zur Zeit bei der Kaiserlichen Botschaft beschäftigten Dr. Mordtmann ohne Rückhalt dahin ausgesprochen »daß die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, da die Türkei auf diese Weise gestärkt würde«.

Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg) am 24. Juni 1915, zit. n. Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Springe 2005, S. 170 f.

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