Geburt einer Oligarchie
Von Marc Püschel
Am Anfang war die Ware. Die Kolonien, aus denen später die USA hervorgingen, waren von Beginn an eine protokapitalistisch organisierte Schöpfung. Mit königlicher Genehmigung – der von Jakob I. gewährten Royal Charter – stach im Dezember 1606 die Virginia Company in See und gründete im Mai 1607 an der Küste Nordamerikas Jamestown, Keimzelle der Kolonie Virginia. Zur Bewältigung der doppelten Aufgabe – den eigenen Lebensunterhalt sichern und für den Export produzieren – war die Anspannung aller Kräfte nötig. Die frühen Siedler leisteten dies eher schlecht als recht. Im Winter 1624 wurden die Vorräte knapp, von den 4.000 Kolonisten überlebte nur ein Drittel – unter anderem durch Kannibalismus.
Die Lösung der Siedler war handfester, als es später Max Weber darstellte. Nicht durch protestantische Arbeitsethik, sondern vor allem durch schieren Zwang gelang die Kapitalakkumulation. Zu der Versklavung von aus Afrika verschleppten Menschen ab den 1620er Jahren trat das System der »Indentured servitude«, der Vertragsknechtschaft. Handelskompanien oder Schiffseigner finanzierten europäischen Arbeitern die teure Überfahrt nach Nordamerika. Im Gegenzug mussten diese ohne Lohn ihre Schuld abarbeiten. Die Verfügungsgewalt über die Arbeiter, die in der Regel sieben Jahre dauerte, war nahezu unbeschränkt, die Ausbeutung aufgrund der befristeten Verfügbarkeit der Arbeitskraft teilweise sogar brutaler als die der schwarzen Sklaven. Mehr als die Hälfte aller Kolonisten aus Europa kam als Dienstknechte über den großen Teich. Dazu kamen deportierte Verbrecher: Rund 50.000 Sträflinge – manche nur der Bettelei schuldig – schickten die Briten bis in die 1770er Jahre nach Nordamerika.¹
Über dieser Masse an Arbeitskräften, deren Ausbeutung durch keine Form »buntscheckiger Feudalbande« mehr abgemildert wurde, erhob sich eine Händler- und Großgrundbesitzerklasse. Das größte Risiko für diese Kolonialelite bestand in einem Zusammenschluss von schwarzen Sklaven und weißen Dienstknechten. Tatsächlich kam es in der Anfangsphase oft zu vereinten Protesten oder Flucht. Im ersten bedeutenden Plan eines Aufstandes in Nordamerika, der Gloucester-County-Verschwörung von 1663, sammelten irische, englische und afrikanische Diener gemeinsam Waffen, um sich ihre Freiheit zu erkämpfen – da sie verraten wurden, blieb es beim Versuch.
Die rassistische Konstruktion weiß/schwarz war nicht Auslöser der Sklaverei, sondern entstand als Reaktion auf das Bedürfnis der Kolonialelite, ihre Herrschaft durch eine Spaltung der Ausgebeuteten abzusichern. So entstand die Sklaverei auf Lebenszeit erst im Laufe der 1640er Jahre, während anfangs die Afrikaner sogar, ähnlich wie die weißen Vertragsknechte, nach einigen Jahren freigelassen wurden. Erst 1670 wurde gesetzlich festgelegt, dass der Status der Mutter auch auf die Kinder übertragen wurde.²
Die weißen Dienstknechte begann man dagegen schrittweise zu privilegieren; viele Herren schenkten ihnen nach Ende ihrer Dienstzeit ein Gewehr und ein Stück Land.³ Letzteres lag natürlich nicht in den fruchtbaren Küstengebieten, sondern an der »Frontier«, der sich langsam nach Westen verschiebenden Grenze zwischen den von Europäern annektierten Gebieten und den Indianerterritorien. Es waren gerade die nun freien Kleinbauern, die im Gegenzug für karges Land den permanenten Kleinkrieg gegen Indianerstämme führen mussten.
Auf diese Weise bildete sich früh die typische amerikanische Sozialstruktur heraus: Einer Klasse von Handelskapitalisten und Großgrundbesitzern, die ihre Untergebenen noch härter ausbeutete als ihr europäisches Pendant, stand eine große Anzahl an freien Kleinbauern im Landesinneren gegenüber. Durch den ständigen Austausch der Arbeitskräfte in der »Indentured servitude« und die wachsende rassistische Spaltung verzögerte sich die Herausbildung einer Arbeiterklasse bzw. einer Solidarität zwischen den Ausgebeuteten.
Britischer Pyrrhussieg
Auf den englischen Staat als eine die Unterdrückung zumindest mildernde Instanz war nicht zu hoffen, schließlich waren die Siedlungen lange Zeit Privatbesitz der Handelsgesellschaften oder – wie das nach William Penn benannte Pennsylvania – einzelner Reicher. Faktisch hatten König und Westminster-Parlament im 17. Jahrhundert überhaupt keine Kontrolle über die Kolonien, in denen reines Unternehmertum herrschte. Die Engländer, so der Historiker Michael Hochgeschwender, traten »ihr koloniales Abenteuer auf der gegenüberliegenden Seite des Ozeans ohne Plan und mit beschränkt rationalem Kalkül«⁴ an.
Jahrzehntelang war man in London vor allem froh, widerspenstige Untertanen wie Schotten, Iren oder protestantische Sektierer loswerden zu können. So verhalfen die innenpolitischen Turbulenzen Englands den dreizehn Kolonien⁵ zu einem sprunghaften Wachstum: Von 50.000 Einwohnern im Jahre 1650 stieg die Bevölkerung auf eine Viertelmillion um die Jahrhundertwende und bis 1775 auf 2,5 Millionen an. Eine Konzeption für ein unter der Kontrolle Londons stehendes einheitliches Kolonialreich gab es jedoch nicht. Erst im 18. Jahrhundert gelang es, einzelne Kolonien unter königliche Verwaltung zu stellen und die dort regierenden Gouverneure dauerhaft von London aus zu ernennen. Noch bemerkenswerter war, dass die englischen Kolonien Nordamerikas keine Militärpräsenz aus dem Heimatland kannten und lediglich Siedlermilizen unterhielten. Das änderte sich erst 1754 im Zuge des »French and Indian War«.
Anfang der 1750er Jahre drängten die Franzosen ins Ohio-Tal südlich des großen Erie-Sees. Das Gebiet westlich der Appalachen war für König Ludwig XV. von zentraler Bedeutung, um eine durchgehende Verbindungslinie vom französischen Kolonialgebiet im heutigen Kanada bis nach New Orleans zu schaffen. Dies hätte jedoch die englischen Siedler östlich der Appalachen quasi »eingeschlossen« und ihre Expansion nach Westen verhindert. Das widerstrebte besonders der von reichen Plantagenbesitzern aus Virginia kontrollierten Ohio Company, die in dem noch größtenteils unerschlossenen Gebiet bereits Ansprüche auf Land erhob, um damit spekulieren oder es an Bauern verkaufen zu können. Der spätere erste US-Präsident George Washington arbeitete als Landvermesser für die Ohio Company. Als 1754 der Wettlauf der Briten und Franzosen um die Errichtung strategisch gelegener Forts eskalierte, war er es, der mit einer Miliz die französischen Truppen in der Region angriff. Mit Washingtons Niederlage am 3. Juli 1754 begann ein zunächst lokaler Krieg, der sich aber bald zum weltweit geführten Siebenjährigen Krieg auswuchs.
Aus ihm ging 1763 England scheinbar als strahlender Sieger hervor, unter anderem das spanische Florida und Französisch-Kanada fielen an die Briten. Rasch entpuppte sich der Erfolg jedoch als Pyrrhussieg. Erstmals wurde König Georg III. gewahr, dass die Kolonien nur an ihre ökonomischen Interessen dachten: Den ganzen Krieg über handelten sie munter weiter mit dem Kriegsfeind Frankreich. Wo die Briten versuchten, das zu unterbinden, wurde geschmuggelt. Dank der erstmaligen Präsenz regulärer britischer Truppen erhielt London auch einen Einblick in den Reichtum, zu dem die Kolonien es gebracht hatten. Das durch den Krieg am Rande eines Staatsbankrotts stehende England war nun darauf angewiesen, die Siedler finanziell in die Pflicht zu nehmen.
Für die Amerikaner wiederum, die meisten von ihnen Nachfahren oppositioneller Engländer, fühlte sich die Präsenz Tausender »Rotröcke« wie eine Besatzung an. Schlimmer noch: 1763 verkündete Georg III., die Appalachen – also der Gebirgszug zwischen dem schmalen Küstensaum am Atlantik und dem Rest des Kontinents – seien die endgültige Grenze zwischen den Siedlerkolonien und dem Indianerterritorium. Damit war der Kolonialelite der Weg nach Westen versperrt. Zahlreiche Bodenspekulanten, Siedler und einige der späteren »Gründerväter« der Nation, darunter Washington und Benjamin Franklin, versuchten, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Denn der königliche Bescheid stellte letztlich ihr »amerikanisches Modell« in Frage – ohne den Verkauf von Land an Neuankömmlinge oder die Vergabe an ehemalige Dienstknechte drohte ihre Klassenherrschaft aus den Fugen zu geraten.
Propaganda mit Tee
Von solchen Zusammenhängen war freilich später, als sich die Kolonien auflehnten, kaum die Rede. Die nationale Geschichtsschreibung der USA hat sich statt dessen auf die berühmte »Boston Tea Party« fokussiert. Nicht ohne Grund: Auf diese Weise konnte zugestanden werden, welch hohe Bedeutung ökonomischen Interessen zukam, ohne dass damit die Rebellion ein negatives Image erhalten hätte. Schließlich handelte es sich, so die Erzählung, um gute, »ehrbare« Interessen.
Tatsächlich versuchten die Briten, die Kolonien wirtschaftlich unten zu halten, und wer will, kann in dieser Hinsicht in den Aufständischen antikoloniale Kämpfer sehen. Durch den »Iron Act« von 1750 beispielsweise wurde die Einrichtung von Stahlöfen und Walzwerken in Nordamerika untersagt, um die Industrialisierung zu verhindern. Den heftigsten Protest rief aber die Erhebung neuer Steuern hervor, widersprach dies doch dem geheiligten Grundsatz des englischen Parlamentarismus: No taxation without representation – keine Besteuerung, ohne in Westminster vertreten zu sein.
In Reaktion auf den »Stamp Act« von 1765, der alle Schriftdokumente einer Steuerpflicht unterwarf, kam es zu Boykotten britischer Waren und zur Gründung erster Komitees zur Koordination des Widerstands. Allerorten wurden englische Zollbeamte und Steuereintreiber verfolgt und verprügelt, hauptsächlich durch die »Sons of Liberty«, einer Art elitärer Freimaurerloge, die als erste überkoloniale Organisation die Interessen südlicher Plantagenbesitzer und nördlicher Handelskapitalisten zusammenführte.
Für die »Söhne der Freiheit« dienten die Proteste nicht nur der Verteidigung ihrer Interessen gegenüber England, sondern auch der Einhegung der sozialrevolutionären Energie, die sich in den Städten der Ostküste allmählich aufstaute. Boston etwa hatte in den Jahrzehnten zuvor 27 Aufstände erlebt, darunter Hungerrevolten und Arbeiterunruhen. Mit dem Boykott englischer Waren, der auch Handwerkern und anderen Kleinproduzenten wirtschaftlich half, gelang erstmals eine Kooperation der Oligarchie mit Teilen der städtischen Arbeiter und Kleinbürger.
Doch es war ein Ritt auf der Rasierklinge. Die »Sons of Liberty«, die in der Regel die Proteste entzündeten, hatten vielerorts Mühe, sie in rechte Bahnen zu lenken. Im Zweifelsfall stellte man sich doch lieber auf Englands Seite. Symptomatisch dafür steht das sogenannte Boston-Massaker. Am 5. März 1770 war dort eine Handvoll britischer Soldaten von einer Menschenmenge bedrängt worden. Dass sie daraufhin in die Menge schossen und fünf Menschen töteten, wurde von den Kolonisten propagandistisch reichlich ausgeschlachtet. Welche Angst die Oligarchie jedoch vor einem unkontrollierbaren Mob hatte, zeigte sich im folgenden Gerichtsprozess, als der spätere zweite US-Präsident John Adams als Verteidiger der Soldaten auftrat. Die Briten hätten sich gegen wildgewordene Schwarze und Iren verteidigen müssen. Besonders der afrikanischstämmige Hafenarbeiter Crispus Attucks, einer der Ermordeten, wurde dämonisiert. Die Täter-Opfer-Umkehr war erfolgreich: Sechs Soldaten wurden freigesprochen, zwei nur aus dem Militärdienst entlassen.
Die Strategie der »Sons« schien zunächst aufzugehen. Der »Stamp Act« wurde 1766 zurückgenommen, und auch die später erlassenen und als Zölle deklarierten Abgaben auf Glas, Papier und andere Waren (»Townshend Duties«) konnten nicht lange aufrechterhalten werden und wurden 1770 von London wieder einkassiert. Die Lage beruhigte sich.
Die Kompromissbereitschaft der Briten blieb hoch. 1773 stand die englische Ostindienkompanie kurz vor dem Bankrott, war aber, wie man heute sagen würde, »too big to fail«. Die britische Regierung wollte ihr daher zwar mit dem »Tea Act« ein Teemonopol in Amerika verschaffen. Um es den Kolonien schmackhaft zu machen, sollten aber im Gegenzug ältere Zölle auf Tee teils abgeschafft, teils stark reduziert werden. Der Forderung nach Zollabbau wäre Genüge getan worden, und besonders die amerikanischen Konsumenten hätten profitiert, der Tee wäre deutlich billiger geworden. Die einzigen, die der »Tea Act« traf, waren »die Schmuggler und Zwischenhändler, die auf diese Weise aus dem Markt verdrängt werden sollten, allesamt Angehörige der Sons of Liberty«⁶.
Es waren die partikularen Interessen der reichen Händler, die es nun zu verteidigen galt. Der Rest der Geschichte ist vor allem ein gelungener Propagandacoup. Am 27. und 28. November 1773 erreichten drei Schiffe der Ostindienkompanie mit Teeladungen Boston. Die »Sons of Liberty« blockierten das Ausladen des Frachtguts und agitierten in der Stadt. Am 16. Dezember stürmten zwischen 30 und 300 Radikale – die Angaben schwanken stark – in Irokesen-Kostümen erst einen Versammlungssaal und zogen dann zum Hafen, wo sie 342 Kisten Tee im Hafen versenkten.
Befugte Paranoiker
Was die »Boston Tea Party« und ähnliche Happenings verdeckten, waren die weniger ehrbaren Interessen, die im Spiel waren. Denn das mit Abstand profitträchtigste Geschäft der Kolonien war die Sklaverei, sei es unmittelbar durch Einfuhr und Verkauf der Sklaven, sei es mittelbar, insofern ohne sie die Produktion der Hauptexportgüter wie Tabak oder Baumwolle nicht möglich war. Dass sein Geschäftsmodell wegbrechen könnte, ist die Angst jedes Kapitalisten. Doch um die »besondere Institution«, wie die Sklaverei euphemistisch genannt wurde, entstand eine außergewöhnliche Furcht, die sich zu einer regelrechten Paranoia auswuchs.
Wer an Sklaverei denkt, hat meist die Südstaatensklaverei des 19. Jahrhunderts vor Augen, eine perfektionierte und staatlich abgesicherte Maschinerie der Ausbeutung. Im Jahrhundert davor war das System weniger gefestigt. Die Sklavenhalter der Frühen Neuzeit – diese Genugtuung bietet die Beschäftigung mit der Geschichte – lebten in Angst. Immer wieder kam es zu Sklavenaufständen, bei denen Ausbeuter umgebracht wurden. Beispielhaft ist die Erhebung im Gebiet des Stono River bei Charleston in South Carolina, wo 80 afrikanischstämmige Sklaven am 9. September 1739 rebellierten. Sie trugen ein Banner mit der Aufschrift »Liberty«, während sie sieben Plantagen niederbrannten und 20 Weiße töteten, ehe die Miliz der Kolonie den Aufstand niederschlug. Noch viel häufiger waren kleinere Anschläge, bei denen einzelne Sklavenhalter vergiftet, Gutshäuser in Brand gesteckt oder Produktionsanlagen sabotiert wurden.
Die Angst der Herren wurde dadurch erhöht, dass die Kolonisten faktisch einen Fünf-Fronten-Krieg führten: Zu der Gefahr durch schwarze Sklaven gesellte sich die Bedrohung durch Franzosen (bis 1763), Spanier, Indianer und ausgebeutete Weiße. Dass dies bis zur eigenen Auslöschung führen könnte, hatten eine Generation zuvor die Siedler in South Carolina erfahren, als im Yamasee-Krieg (1715–1717) mehrere Indianerstämme Krieg gegen die Kolonie führten und das Überleben der Provinz auf dem Spiel stand. Immer wieder kam es auch zu Verbrüderungen zwischen entflohenen Sklaven und Native Americans. Auf Jamaika entstand auf diese Weise sogar eine neue Volksgruppe – die Maroons, die aus den Bergen heraus einen so erfolgreichen Guerillakampf führten, dass die Briten 1739 einen offiziellen Friedensvertrag mit ihnen schließen mussten. Dass etwas Vergleichbares auch auf dem Festland passieren könnte, war ein Horrorszenario der Kolonisten.
Die Sklavenhalter waren in einem Teufelskreis gefangen: Um des Gewinns willen mussten immer mehr Sklaven eingeführt werden, doch je mehr von ihnen im Land waren, desto größer wurde die Gefahr einer großen Rebellion. Doch für 100 Prozent Gewinn, so bekanntlich Marx, stampft das Kapital »alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens«. Und die Profite aus der Sklaverei lagen nicht selten noch darüber.
Um 1775 herum lebten in Nordamerika 2,5 Millionen Menschen. Davon waren 500.000, also 20 Prozent der Bevölkerung, Sklaven. In South Carolina stellten sie sogar rund 60 Prozent der Bevölkerung. Ein veritabler innerer Gegner, sollte er sich einmal geschlossen erheben – oder von äußeren Mächten dazu angestachelt werden. Die Spanier hatten dies früh ausgenutzt. Schon 1693 hatte der spanische König allen Sklaven, die aus englischen Kolonien fliehen und zum Katholizismus konvertieren, die Freiheit versprochen. Diejenigen, die dem Ruf folgten und nach Florida flohen, verdingten sich dann oftmals als spanische Soldaten und plünderten auf Streifzügen Plantagen in Georgia und Carolina. Als die Briten, denen es immer an Soldaten mangelte, im Siebenjährigen Krieg begannen, auch Schwarze in ihre Infanterie aufzunehmen und sie im Anschluss oft in die Freiheit entließen, befeuerte dies die Paranoia der amerikanischen Oligarchie, dass ihr Mutterland jederzeit die Sklaven nutzen konnte, um die Kolonien wirklich unter königliche Kontrolle zu bekommen.
Konterrevolution
Das revolutionärste Ereignis im Kontext der Amerikanischen Unabhängigkeit fand nicht in den Kolonien, sondern an einem englischen Gerichtshof statt. Am 22. Juni 1772 fällte der Earl of Mansfield ein Urteil, das das Ende der Sklaverei einläutete.
1769 war der britische Zollbeamte Charles Steuart aus Boston nach England zurückgekehrt. Aus Amerika hatte er den afrikanischen Sklaven James Somerset mitgebracht, der allerdings 1771 floh. Als er wieder gefasst wurde, sollte er zur Strafe auf eine Plantage nach Jamaika gebracht werden. Abolitionisten intervenierten und brachten, auf unrechtmäßige Freiheitsberaubung plädierend, den Fall vor Gericht. Im Fall Somerset vs. Steuart entschied der Richter, besagter Lord Mansfield, zugunsten des ersteren und schuf damit einen radikalen Präzedenzfall: Ein Sklave, den man auf die britischen Inseln gebracht hatte, musste freigelassen werden. Aufgrund des partikularistischen englischen Rechts blieb zwar unklar, welche Sklaven es genau betraf, doch die Abolitionismusbewegung erlebte einen entscheidenden Aufschwung. Der Weg zur Abschaffung des Sklavenhandels durch das englische Parlament im Jahr 1807 war geebnet.
In den Kolonien schlug der Fall ein wie eine Bombe. Über die Tragweite waren sich die Sklavenhalter im klaren – nicht ohne Grund wurden Steuarts Gerichtskosten von Plantagenbesitzern von den Westindischen Inseln übernommen. Obwohl das Urteil ausdrücklich auf die britischen Inseln beschränkt war, wurde es jenseits des Atlantiks sofort als Grundsatzentscheidung gegen die Sklaverei und als Attacke auf die koloniale Wirtschaft interpretiert.
In Nordamerika hatte kurz zuvor bereits die sogenannte Gaspée-Affäre die Gemüter erhitzt und das Misstrauen gegen London geschürt. Am 10. Juni 1772 hatten Mitglieder der »Sons of Liberty« unter Führung des Politikers und Sklavenhändlers John Brown (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen mutigen Abolitionisten des 19. Jahrhunderts) die vor Rhode Island liegende HMS Gaspée, einen britischen Schoner, der amerikanische Schmuggler verfolgte und Zölle eintrieb, geentert und in Brand gesteckt. Die Täter sollten in London vor Gericht gestellt werden, als Kronzeuge der Briten sollte Aaron Briggs dienen, ein Vertragsknecht mit schwarzer Hautfarbe.
Der Vorfall erschütterte das koloniale Establishment weit stärker als der »Tea Party«-Zirkus im Folgejahr. Rhode Island war eine Hochburg des Sklavenhandels. Dass die Briten bereit waren, das Wort eines Schwarzen über das eines in der Provinz anerkannten Sklavenhändlers zu stellen, in einer ohnehin politisch hochbrisanten Angelegenheit von Zoll und Schmuggel, schien alle Befürchtungen zu bestätigen. Die Gaspée-Affäre und der Somerset-Fall rührten an den ökonomischen Grundinteressen der amerikanischen Oligarchie. Der marxistische Historiker Gerald Horne nennt den Aufstand der Kolonien gegen das britische Mutterland daher eine »Konterrevolution zur Verteidigung der Sklaverei«.⁷
Die »Tea Party« war also aus kolonialer Perspektive nicht das entscheidende Ereignis – Übergriffe auf englische Schiffe oder Zollbeamte hatte es schon oft gegeben. Sie war allerdings der Tropfen, der für die Engländer das Fass zum Überlaufen brachte. Im Mai und Juni 1774 verabschiedete Westminster eine Reihe von Gesetzen, die als »Coercive Acts« bekannt sind, darunter etwa der »Boston Port Act«, der eine Totalsperre des dortigen Hafens veranlasste, solange die Ostindische Kompanie nicht entschädigt wurde. Mit dem »Massachusetts Government Act« wurde zudem die Kolonie direkt London unterstellt.
Als Reaktion trat Anfang September 1774 in Philadelphia der erste Kontinentalkongress mit Delegierten aus allen Kolonien außer Georgia zusammen und beschloss ein Importverbot für britische Waren. Im Oktober konstituierte sich in Salem bei Boston ein illegaler Provinzialkongress von Massachusetts. Daraufhin erklärten die Briten im Februar 1775, Massachusetts befände sich offiziell im Zustand der Rebellion. Thomas Gage, Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte, wurde angewiesen, die Ordnung wiederherzustellen.
Gage wählte als erstes Ziel ein Waffen- und Munitionsdepot bei Lexington im Landesinneren von Massachusetts. Doch Spione warnten die Kolonialmilizen. Als die Briten am Morgen des 19. April in Lexington ankamen, lagen ein paar Dutzend Milizionäre auf der Lauer, es kam zum Schusswechsel (wer zuerst schoss, ist umstritten). Aus dem nahegelegenen Concord rückten schließlich 3.600 Milizionäre der sogenannten Minutemen an und schlugen die Briten in die Flucht.
Jahrzehnte später sprach der romantische US-Schriftsteller Ralph Waldo Emerson in seiner »Concord Hymn« von dem »Schuss, der auf der ganzen Welt gehört wurde«. Das war zwar reichlich verklärend und diente eher der nationalen Mythenbildung, doch es besaß einen wahren Kern. Mit dem 19. April 1775 war der Krieg eröffnet, aus dem die größte Oligarchie der Welt hervorgehen sollte.
Anmerkungen
1 Vgl. Udo Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. 6. Auflage, Stuttgart 1998, S. 50
2 Ebd., S. 51
3 Vgl. Howard Zinn: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes. Hamburg 2013, S. 41 f.
4 Michael Hochgeschwender: Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763–1815. München 2016, S. 32
5 New Hampshire, Massachusetts, Rhode Island, Connecticut, New York, New Jersey, Pennsylvania, Delaware, Maryland, Virginia, North Carolina, South Carolina und Georgia.
6 Hochgeschwender, S. 153
7 Vgl. Gerald Horne: The Counter-Revolution of 1776. Slave Resistance and the origins of the United States of America. New York, 2014
Marc Püschel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. November 2024 über den philosophierenden Schumacher Jacob Böhme: »Ringen um Ausdruck«.
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Kapitalismus und Sklaverei