Gegründet 1947 Freitag, 25. April 2025, Nr. 96
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 22.04.2025, Seite 12 / Thema
Regierungspolitik

Die Rückschrittskoalition

Die neue Regierung von CDU, CSU und SPD will zurück zum Neoliberalismus. Eine Analyse des Koalitionsvertrags
Von Christoph Butterwegge
12-13.jpg
Treten den Marsch in die Vergangenheit an: Lars Klingbeil, Markus Söder, Friedrich Merz und Saskia Esken nach einer Pressekonferenz zum Koalitionsvertrag (Berlin, 9.4.2025)

Hatten sich die Spitzenpolitikerinnen und -politiker von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrages noch als »Fortschrittskoalition« inszeniert, so machen CDU, CSU und SPD im Grunde keinen Hehl aus ihrer Bildung einer »Rückschrittskoalition«. Aufbruchstimmung wird zu Beginn der gemeinsamen Regierungszeit nicht einmal mehr simuliert.

Die ideologische Basis der neuen Bundesregierung bildet der Neoliberalismus mit seiner Richtschnur, mehr »Leistungsgerechtigkeit« durch Belohnung der Leistungsträger und Schlechterstellung der Leistungsbezieherinnen und -bezieher herzustellen und den eigenen »Wirtschaftsstandort« durch Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung wettbewerbsfähiger (als die Konkurrenten auf den Weltmärkten) zu machen.

Dass die Wirtschaft für CDU, CSU und SPD ganz oben auf der Agenda steht, zeigt schon ein oberflächlicher Blick in den Koalitionsvertrag, der den Titel »Verantwortung für Deutschland« trägt. »Wettbewerbsfähigkeit« ist denn auch ein Schlüsselwort des Koalitionsvertrages – ganz so, als wären diese Dokumente auf dem Gipfelpunkt des Neoliberalismus kurz nach der Jahrtausendwende verfasst worden. Gerade angesichts der Exportlastigkeit von Deutschlands Industrie wäre es sinnvoller, die unberechenbare Außenwirtschaftspolitik (Verhängung und Rücknahme von Schutzzöllen) des US-Präsidenten Donald Trump mit einer Stärkung der Binnenkaufkraft zu beantworten.

Schon im Vorgriff auf eine Kommission zur Sozialstaatsreform, die CDU, CSU und SPD gemeinsam mit Ländern und Kommunen einsetzen wollen, haben sie vereinbart, das Bürgergeldsystem zu einer »neuen Grundsicherung« für Arbeitsuchende umzugestalten. Von den wenigen Verbesserungen und Erleichterungen für Arbeitsuchende, die mit der Bürgergeldreform von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP verbunden waren, werden die meisten wieder abgeschafft. Zwar wird die umbenannte Regelleistung nicht – wie von Politikern der Union im Vorwahlkampf gefordert – gekürzt, aber der Anpassungsmechanismus beseitigt, mit dem die Ampelkoalition dafür gesorgt hatte, dass inflationäre Entwicklungen schneller Berücksichtigung fanden.

Außerdem entfällt die Karenzzeit für Vermögen, ursprünglich von der großen Koalition während der Covid-19-Pandemie im März 2020 eingeführt, um materiell bessergestellten, aber in Not geratenen Facharbeiterinnen und Facharbeitern sowie Selbständigen den Hartz-IV-Zugang zu erleichtern. Ähnliches gilt im Hinblick auf die Karenzzeit für die Unterkunftskosten: Wenn das Jobcenter die Miete oder die Heizkosten von Arbeitsuchenden für »unverhältnismäßig hoch« hält, fällt die Karenzzeit, in der die Unterkunftskosten nicht geprüft werden, weg. Selbst viele Angehörige der Mittelschicht, die bisher nie Angst vor Armut hatten, mussten wegen des Ukraine-Krieges, der anschließenden Energiepreisexplosion und der Inflation jeden Cent dreimal umdrehen. Um so unverständlicher ist, dass CDU und CSU die genannten Regelungen nicht mehr für notwendig halten.

Ein wichtiger Kerngedanke der Bürgergeldreform, von dem sich CDU, CSU und SPD nunmehr verabschieden, war die Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung, nicht zuletzt begriffen als notwendige Qualifizierung von Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher für den Arbeitsmarkt, auf dem Fachkräfte fehlen. Weil die »schwarz-rote« Koalition unter Friedrich Merz den Vermittlungsvorrang wieder einführen will, kann es kurz vor dem Abitur stehenden Kindern einer alleinerziehenden Mutter im Grundsicherungsbezug künftig erneut passieren, dass sie vom zuständigen Jobcenter aus dem Gymnasium heraus in einen McJob hineingezwungen werden.

Mitwirkungspflichten und Sanktionen sollen »im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern« verschärft werden: »Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.« Somit kehrt Hartz IV in modifizierter Gestalt zurück, und es geht vorwärts in die Vergangenheit.

Vom Finanzmarkt abhängig

War die Ampelkoalition nicht zuletzt daran gescheitert, dass sich die FDP-Bundestagsfraktion im Unterschied zu ihren Kabinettsmitgliedern geweigert hatte, das derzeitige Rentenniveau vor Steuern in Höhe von 48 Prozent bis zum 1. Juli 2040 zu garantieren, so versprechen CDU und CSU im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der SPD, es gesetzlich bis zum Jahr 2031 abzusichern. Die sich dadurch ergebenden Mehrausgaben sollen aus Steuermitteln finanziert werden. Stärken wollen CDU, CSU und SPD zudem die betriebliche Altersversorgung; deren Verbreitung in kleinen und mittleren Unternehmen sowie bei Geringverdienerinnen und -verdienern soll vorangetrieben werden.

Neben dem kollektiven Solidarsystem der gesetzlichen Rentenversicherung möchte die CDU/CSU/SPD-Koalition durch Einführung der »Frühstartrente« ein individuelles Ansparmodell etablieren, das die Altersvorsorge von der Entwicklung an den Finanzmärkten abhängig macht: »Wir wollen für jedes Kind vom sechsten bis zum 18. Lebensjahr, das eine Bildungseinrichtung in Deutschland besucht, pro Monat zehn Euro in ein individuelles, kapitalgedecktes und privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot einzahlen. Der in dieser Zeit angesparte Betrag kann anschließend bis zum Renteneintritt durch private Einzahlungen bis zu einem jährlichen Höchstbetrag weiter bespart werden. Die Erträge aus dem Depot sollen bis zum Renteneintritt steuerfrei sein.«

Nichts spricht dafür, aus Steuermitteln ein Altersvorsorgedepot auch für die Sprösslinge von Reichen und Hyperreichen zu schaffen, deren Wohlstand im Alter schon aufgrund eines Steuersystems gesichert ist, das ihre Eltern weitgehend verschont. Einer zusätzlichen Altersvorsorge bedürfen höchstens die Kinder aus sozial benachteiligten Familien, sofern aus ihnen arme Erwachsene werden, die als Geringverdienerinnen und -verdiener, prekär Beschäftigte oder Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher nicht genügend Rentenanwartschaften erwerben. Profitieren dürften von der »Frühstartrente« hauptsächlich Finanzmarktakteure, neben Brokern und Investmentbankern vornehmlich solche, deren Anlageportfolio unverhoffte Kursgewinne durch zusätzliche, langfristige und milliardenschwere Anlagen des Staates verzeichnen kann. Wie risikoreich ein solches System verglichen mit der umlagefinanzierten, lohn- und beitragsbezogenen Rente trotzdem ist, haben gerade erst die weltweiten Börsenturbulenzen nach der Verhängung von Schutzzöllen durch US-Präsident Trump gezeigt.

Bekämpfung der Geflüchteten

Flucht und Migration werden im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD bezeichnenderweise im Kapitel zur inneren Sicherheit abgehandelt. So findet die »migrationspolitische Wende« (Alexander Dobrindt) – von der CDU/CSU-Fraktion und ihrem Vorsitzenden Friedrich Merz am 29. und 31. Januar 2025 per nur mit Stimmen der AfD mehrheitsfähigem Fünf-Punkte-Plan und ihrem knapp gescheiterten, von der SPD noch vehement bekämpften »Zustrombegrenzungsgesetz« proklamiert – ihre Fortsetzung. Dessen wesentlichen Inhalten hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen zugestimmt.

In der »irregulären Migration«, die nur zum geringsten Teil eine illegitime Migration ist, weil jeder Mensch das Recht hat, einer ausweglosen Situation im eigenen Land zu entfliehen, sehen CDU, CSU und SPD offenbar die Mutter aller politischen Probleme. Denn sie behaupten schon in der Präambel ihres Koalitionsvertrages: »Irreguläre Migration polarisiert unsere Gesellschaft.« Dabei ist es die wachsende soziale Ungleichheit, die im globalen Maßstab polarisierend wirkt, resultieren aus ihr doch nicht bloß ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen, Kriege und Bürgerkriege, sondern auch größere Migrationsbewegungen.

Die freiwilligen Bundesaufnahmeprogramme (zum Beispiel für Ortskräfte aus Afghanistan, die der Bundeswehr zugearbeitet haben) werden »soweit wie möglich« beendet, erst recht keine neuen aufgelegt, und Zurückweisungen an den Außengrenzen auch bei Asylgesuchen vorgenommen. Das soll »in Abstimmung« mit den Nachbarstaaten erfolgen; unter dieser von der SPD durchgesetzten Einschränkung verstehen ihre Koalitionspartner aber etwas anderes. Steigern will man auch die Zahl der als »Rückführungen« verharmlosten Abschiebungen. Für subsidiär Schutzberechtigte wird der Familiennachzug zwei Jahre lang ausgesetzt.

Ob all diese Maßnahmen, etwa die geplante »Rückführungsoffensive« und Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien, mit der Genfer Flüchtlingskonvention, dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind, ist mehr als fraglich. Trotz der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands wird Abschied vom Flüchtlingsschutz genommen und bloß noch die »qualifizierte Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt« aus ökonomischem Eigeninteresse akzeptiert.

Während die Rüstungsausgaben und die »jährlichen Investitionen in militärische Infrastruktur« deutlich steigen sollen, wird bei den öffentlichen Entwicklungsleistungen, die neben einer »Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen« auch das Ziel der »Fluchtursachenbekämpfung« verfolgen, aufgrund der Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung eine – wie es im Koalitionsvertrag heißt – »angemessene Absenkung« erfolgen. Offenbar bekämpft man lieber die Geflüchteten als die Fluchtursachen.

Konzentration des Reichtums

Während sie auf die Armen mehr Druck ausüben will, sei es durch verschärfte Sanktionen für Menschen im Bürgergeldbezug oder durch Ausweisungen und Leistungsentzug für Geflüchtete, hält die Koalition von CDU, CSU und SPD für Reiche trotz knapper Finanzmittel großzügige Geldgeschenke bereit. So ermöglicht eine degressive »Turboabschreibung« auf Ausrüstungsinvestitionen von jeweils 30 Prozent in den Jahren 2025, 2026 und 2027 großen Unternehmen höhere Gewinne, die anschließend auch noch geringer besteuert werden, weil die Körperschaftsteuer ab 2028 in fünf Schritten von 15 auf zehn Prozent gesenkt wird. Nur zur Erinnerung: Unter dem Kanzler Helmut Kohl (CDU), der ja kein Kommunist war, betrug die Körperschaftsteuer noch 30 bzw. 45 Prozent, je nachdem, ob eine Kapitalgesellschaft ihre Gewinne ausschüttete oder einbehielt.

Trotz enorm steigender Staatsausgaben bleiben Steuerhöhungen – egal für wen – in dieser Legislaturperiode erneut aus. Stattdessen haben sich CDU, CSU und SPD auf eine Senkung der Einkommenssteuer »für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislatur« geeinigt. Unklar bleibt bei dieser pauschalen Feststellung, wie das geschehen soll, ohne im linear-progressiven Steuersystem der Bundesrepublik die großen Einkommen nicht sehr viel stärker zu begünstigen.

Das verteilungspolitische Kardinalproblem unseres Landes, die zur Mitte vordringende Armut und die gleichzeitig fortschreitende Konzentration des Reichtums bei wenigen (Unternehmer-)Familien, finden im Koalitionsvertrag so gut wie keine Beachtung. Hierzulande gibt es keine wachsende Ungleichheit, wenn man dem Grundlagentext dieser Regierung glaubt.

Obwohl das Bundesverfassungsgericht am 26. März 2025 den Solidaritätszuschlag auch in der von CDU, CSU und SPD im Jahr 2019 modifizierten Form für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, aber in seiner Urteilsbegründung den Wegfall dieser Ergänzungsabgabe zur Einkommens-, Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer im Jahr 2030 angedeutet hatte, wollte ihn die Union möglichst sofort abschaffen. Dass der »Soli« wenigstens vorerst fortbesteht, ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben und gilt schon als Erfolg der SPD, die dafür Konzessionen an anderer Stelle machen musste.

Manche Passagen des einleitenden Wirtschaftskapitels im Koalitionsvertrag lesen sich, als wären sie von der Blackrock-Marketingabteilung verfasst worden: »Wir werden einen Deutschland-Fonds einrichten. Dieser ist das Dach, unter dem wir die Kraft der privaten Finanzmärkte mit dem langfristig strategischen Vorgehen des Investors Staat verbinden.« Kurz darauf heißt es, ebenfalls in der PR-Lyrik eines Finanzkonzerns für Investmentbanker, Broker und Börsianer: »Dieser Fonds soll als Dachfonds bestehende Finanzierungslücken im Bereich des Wachstums- und Innovationskapitals, insbesondere für Mittelstand und Scale-ups, schließen. Die konkreten Investmententscheidungen werden in einer unternehmerischen Governance getroffen, der Investmentfokus liegt in Deutschland.«

In den »Deutschland-Fonds« fließen nicht weniger als zehn Milliarden Euro. Auch sonst werden hauptsächlich die materiellen Interessen der Klientel von CSU und CDU bedient. Das gilt etwa für so teure Maßnahmen wie die »Vollendung der Mütterrente« durch Anrechnung von drei Kindererziehungsjahren unabhängig vom Geburtsjahr. Statt bedürftige Seniorinnen und Senioren, die von Altersarmut betroffen oder bedroht sind, durch Wiedereinführung einer auskömmlichen Rente nach Mindestentgeltpunkten stärker zu unterstützen, schüttet die »schwarz-rote« Koalition nach dem Gießkannenprinzip fast fünf Milliarden Euro über allen Seniorinnen (oder im Einzelfall: Senioren) aus, die vor 1992 Kinder bekommen haben.

Die für eine Zersiedlung der Landschaft mitverantwortliche Pendlerpauschale wird erhöht, die umweltschädliche Subventionierung des Agrardiesels vollständig wieder aufgenommen und die Umsatzsteuer der Gastronomie für Speisen dauerhaft von 19 auf sieben Prozent reduziert, was vor allem der Systemgastronomie (Fast-Food-Ketten) und Besserverdienenden zugute kommt. Anstatt das milliardenschwere Dienstwagenprivileg für (leitende) Angestellte, die ihren Firmenwagen auch für Privatfahrten nutzen, endlich abzuschaffen, erhöhen CDU, CSU und SPD die Bruttopreisgrenze bei der steuerlichen Förderung von elektrisch betriebenen Dienstwagen auf 100.000 Euro.

Wie die Ampelkoalition, die mit dem Bürokratieentlastungsgesetz IV die Aufbewahrungsfrist für Buchungsbelege im Handels- und Steuerrecht von zehn auf acht Jahre verkürzt und damit die Strafverfolgung von Steuerbetrügern erschwert hat, versteht auch die CDU/CSU/SPD-Koalition unter Entbürokratisierung hauptsächlich eine Deregulierung des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts im Sinne der Unternehmen. So wird die von einer Bundesregierung derselben Parteien im Jahr 2016 eingeführte Bonpflicht abgeschafft, mit der Steuerbetrug in Bäckereien, Geschäften und Dienstleistungsfirmen erschwert oder verhindert werden sollte. Dasselbe gilt für eine Flexibilisierung im Interesse der Kapitalseite. Zwar wird die Ermöglichung einer wöchentlichen anstelle einer täglichen Höchstarbeitszeit als Schritt zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf hingestellt, man kann darin allerdings auch einen Angriff auf den Achtstundentag sehen.

Als ihren Haupterfolg feiert die SPD den Passus zum Mindestlohn, der aber wachsweich formuliert ist: »Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns wird sich die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren. Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar.« Friedrich Merz hat recht, wenn er darin keine Gewähr für das Erreichen dieses Bruttostundenlohns für alle sieht. Dafür hat die SPD aber einmal mehr ihre steuerpolitischen Forderungen (Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Wiedererhebung der Vermögensteuer und Verschärfung der Erbschaftsteuer für Firmenerben) fallengelassen.

Das größte Manko des gesetzlichen Mindestlohns besteht darin, dass er nicht politisch, sondern auf der Grundlage des Votums einer paritätisch von Kapitalverbänden und Gewerkschaften, einem oder einer »neutralen« Vorsitzenden sowie zwei nicht stimmberechtigten Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern besetzten Kommission festgelegt wird. Daran halten CDU, CSU und SPD laut ihrem Koalitionsvertrag fest. Trotz der EU-Mindestlohnrichtlinie, die fortan gleichfalls Berücksichtigung finden soll, orientiert sich die Kommission nach wie vor paradoxerweise nachlaufend an der Tariflohnentwicklung. Schließlich ist ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland bloß deshalb nötig, weil die Gewerkschaften in vielen Branchen inzwischen zu schwach sind, um ausreichend hohe Tariflohnsteigerungen durchzusetzen.

Man muss daher kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich unter der Koalition von CDU, CSU und SPD weiter vertiefen wird. Denn die Konzepte der neuen Regierung lassen erwarten, dass sie die Reichen reicher und die Armen zahlreicher macht. Daher muss eine Kernforderung lauten: Umverteilung des Reichtums statt Verschuldung ohne Limit!

Rüstungs- oder Sozialstaat?

Einen radikalen Bruch mit dem Regierungshandeln der Ampelkoalition gibt es nur in einer Hinsicht: Durch eine erheblich höhere Kreditaufnahme des Bundes werden mehr Investitionsmöglichkeiten geschaffen, die man für ein gigantisches Aufrüstungsprogramm nutzen will. Wohin die übrigen 500 Milliarden Euro fließen, bleibt hingegen unklar.

Aufgrund des Blankoschecks, den sich CDU, CSU und SPD für das Militär und die Geheimdienste haben ausstellen lassen, sind die vermeintlich »mageren« Jahre für Bundeswehr und Rüstungsindustrie endgültig vorbei. Auf den Weg gebracht wird das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik, nicht aus dem Staatshaushalt, sondern ohne Grenzen auf Pump finanziert. Aktuell besteht sogar die Gefahr, dass der kriselnde Finanzmarktkapitalismus auf ein Konjunkturprogramm nach Art des Rüstungskeynesianismus setzt und auch in Deutschland ein militärisch-industrieller Komplex entsteht, vor dessen politischer Macht US-Präsident Dwight D. Eisenhower am 17. Januar 1961 in seiner Abschiedsrede warnte.

Weil die neuen Verschuldungsmöglichkeiten bloß für zusätzliche, über den Status quo hinausreichende Maßnahmen und nicht für konsumtive Zwecke genutzt werden dürfen, Substitutionseffekte gegenüber den normalen Staatsfinanzen also weitgehend ausgeschlossen sind, bleibt der Druck auf die öffentlichen Haushalte bestehen. Auch müssen die Zins- und Tilgungslasten der kreditfinanzierten Hochrüstung wie auch des Sondervermögens für die Infrastruktur im Bundeshaushalt gegenfinanziert werden. Daher lautet die hinsichtlich der künftigen Gesellschaftsentwicklung zu treffende Richtungsentscheidung trotz der partiellen Herauslösung der Militärausgaben aus dem regulären, vollständig der Schuldenbremse unterliegenden Bundeshaushalt im Kern: Rüstungs- oder Sozialstaat?

Nur wenn der außerparlamentarische Druck in Form eines breiten Bündnisses von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Glaubensgemeinschaften, globalisierungskritischen Organisationen, Arbeitslosenforen, Armutskonferenzen und Flüchtlingsinitiativen wächst, lässt sich verhindern, dass die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Migrationspolitik der Bundesregierung von CDU, CSU und SPD eine weitere Zunahme der sozialen Ungleichheit bewirken. Andernfalls ermöglicht das politische Klima der Entsolidarisierung und Entdemokratisierung in nächster Zeit einen radikalen Sozialabbau, wie es ihn zuletzt kurz nach der Jahrtausendwende mit Gerhard Schröders »Agenda 2010«, der Riester-Reform und den Hartz-Gesetzen gab.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher »Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung« sowie »Umverteilung des Reichtums« veröffentlicht. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 16. Mai 2022 über die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche: »Generation Corona«.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Markus Söder, Friedrich Merz und Lars Klingbeil am Mittwoch in B...
    10.04.2025

    Bagger gegen Faxgeräte

    Koalitionsvertrag steht. Verschärfungen in Migrations- und Sozialpolitik. Linnemann voraussichtlich Wirtschafts-, Dobrindt Innen-, Wadephul Außenminister
  • Friedrich Merz verlangt eine »nationale Kraftanstrengung«. Da wi...
    14.03.2025

    Werben fürs Sterben

    Fastkanzler Merz, SPD und Bündnis 90/Die Grünen verlangen im Bundestag Hunderte Milliarden Euro für Waffen. Linke will bei Reform der Schuldenbremse helfen
  • Auch bei Militärausgaben im Höchsttempo: Friedrich Merz am 20. J...
    04.03.2025

    Merz: Aufrüstung sofort

    CDU-Chef will bis Mittwoch Einigung mit SPD. Partei Die Linke gegen Sondervermögen, aber für Reform der Schuldenbremse