»Es geht um Leben und Tod«
Von David Siegmund-Schultze
Die linke Präsidentschaftskandidatin Luisa González in Ecuador hat das vom Wahlrat, CNE, verkündete Ergebnis, nach dem der rechte Amtsinhaber Daniel Noboa mit weitem Vorsprung gewonnen habe, nicht anerkannt. Worauf beruht González’ Vorwurf des Wahlbetrugs?
Ihr Vorwurf, aber auch der vieler weiterer ecuadorianischer und internationaler Organisationen, hat zwei Ebenen. Die erste betrifft Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmzettel. Die zweite die strukturell undemokratischen Verhältnisse in Ecuador.
Gibt es denn Beweise für einen direkten Betrug?
Es gibt eine Reihe von Hinweisen. Die Beobachtungsmission der Organisation Amerikanischer Staaten, OAS, stellte etwa fest, dass die Wahlzettel eine symmetrische Form hatten, wodurch die Tinte sehr leicht von einer Seite auf die andere übertragen werden konnte, wenn eine der Präsidentschaftsoptionen angekreuzt wurde. Darüber hinaus wurde von verschiedenen Akteuren hervorgehoben, dass viele Abstimmungsunterlagen nicht unterschrieben waren. Es braucht also eine unabhängige Untersuchung des gesamten Wahlprozesses.
Außerdem ist der Unterschied zwischen dem Ergebnis der ersten und der zweiten Wahlrunde außergewöhnlich groß.
Ja, nämlich mehr als zehn Prozentpunkte, obwohl alle vorherigen Umfragen, auch die von der Regierungspartei in Auftrag gegebenen, González mit knappem Vorsprung vorne sahen. Laut dem offiziellen Ergebnis hat sie aber nicht nur ihre Stimmenzahl nicht erhöht, sondern in mehreren Provinzen wie Pichincha, El Oro, Azuay und Guayas sogar Stimmen verloren.
Gerade in diesen Provinzen, in denen González in der ersten Runde noch gewonnen hatte, hat Noboa einen Tag vor den Wahlen den Ausnahmezustand verhängt. Welche direkten Auswirkungen hatte das?
Der Erlass setzt für 60 Tage Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, Bewegungsfreiheit und politische Rechte außer Kraft. Die Staatsgewalt hat also freie Hand und eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung geschaffen. Diese Militarisierung zeigte sich deutlich, als der CNE die vorläufigen Wahlergebnisse bekanntgab – im Hintergrund standen zahlreiche bewaffnete Soldaten; ein Symbolbild der autoritären Verhältnisse.
Was ist noch wichtig, um den Kontext der Wahlen zu verstehen?
Das Land befindet sich seit dem Noboa an der Macht ist in einem permanenten Ausnahmezustand, nicht nur in rechtlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht. Verschiedene Bereiche des sozialen Lebens wurden durch Prekarisierung und Kürzungen im Gesundheits- und Bildungswesen torpediert. Darüber hinaus werden Menschenrechte verletzt, wie der Fall der außergerichtlichen Hinrichtung von vier afroecuadorianischen Kindern in Guayaquil vom Dezember 2024 zeigt.
Die EU und die von Washington dominierte OAS haben das offizielle Ergebnis anerkannt. Haben diese Akteure ein Interesse an einer zweiten Amtszeit Noboas?
Die Verflechtungen zwischen der ecuadorianischen und regionalen Oligarchie sowie den transnationalen Unternehmen sind vielfältig. Die Militarisierung und die Mordrate, die heute die höchste des Kontinents ist, haben auch strukturelle Gründe. Wir wissen, dass Noboa mit seinem Familienunternehmen Anteilseigner eines Konzerns ist, der Kokain nach Europa schmuggelt. Er hat zudem rechtswidrig öffentliche Gelder verwendet, um Söldner paramilitärischer Milizen wie Academi, ehemals Blackwater, aus den USA anzuheuern. Blackwater-Gründer Erik Prince war noch kurz vor der Wahl im Land, um Noboas Wahlkampf zu unterstützen.
Neben der mexikanischen Präsidentin Claudia Sheinbaum hat auch Kolumbiens Gustavo Petro Zweifel am Wahlergebnis geäußert. Er erwähnte dabei auch die Verfolgung von Oppositionspolitikern.
Die zugespitzte Verfolgung von Leonidas Iza, der als Kandidat der indigenen Pachakutik-Bewegung González unterstützt hat, ist beispielhaft für das Klima, das in Ecuador herrscht. Darüber hinaus sind nach den Wahlen Listen mit Fotos und Namen von oppositionellen Politiker*innen und Aktivist*innen in Umlauf gebracht worden, die an Sicherheitskräfte und Grenzbehörden weitergeleitet wurden.
Welche Rolle spielten die Massenmedien bei der Wahl?
Sie sind ein wesentlicher Akteur und in der Hand von Familien, die auch Anteile an den großen Wirtschaftszweigen des Landes besitzen. Als beispielsweise die Verbindungen von Noboa zum Drogenhandel enthüllt wurden, hätte man erwarten können, dass ein solcher Skandal in den Zeitungen und Nachrichtensendungen des Landes aufgegriffen wird – das war aber nicht der Fall. Die Desinformation ist allgegenwärtig; auch über die politische Verfolgung wird nicht berichtet. Die Medien tragen dazu bei, dass auf dem politischen Spielfeld ungleiche Voraussetzungen zugunsten Noboas herrschen.
Wie sieht Ihre Prognose für die nächste Zeit aus?
Die Zukunft ist düster; sie hängt am seidenen Faden. Es gibt aber noch einen Funken Hoffnung, dass es eine unabhängige Untersuchung der Wahlen geben wird. Die Folgen einer neuen Amtszeit von Noboa wären verhängnisvoll. Uns stünden Jahre voller Blut, Schmerz und Widerstand bevor. Ohne pathetisch klingen zu wollen: Es geht um Leben und Tod. Sein autoritäres Regime erinnert uns an die blutigsten und repressivsten Zeiten der Diktaturen der 80er Jahre in Lateinamerika. Noboa will die Verfassung von 2008 abschaffen, die etwa die kollektiven Rechte der indigenen Völker sowie der Natur festgeschrieben hat; eine der fortschrittlichsten Verfassungen weltweit. Wir müssen sie mit aller Kraft verteidigen. Die Rechte der Natur und die kollektiven Rechte der Indigenen, die historisch so viel Blut und kollektiven Kampf gekostet haben, dürfen nicht angetastet werden.
Im August 2023 wurde mit breiter Mehrheit für ein Referendum gestimmt, das darauf abzielt, das Öl im Yasuní-Regenwald unter der Erde zu lassen. Bislang wurde es noch nicht umgesetzt.
Das ist etwas, das wir jetzt völlig vergessen können. Die Genoss*innen, die an vorderster Front in den Abbaugebieten Widerstand leisten, wissen, dass die Militarisierung bereits stark zugenommen hat. Noboas Politik wird Ausmaße annehmen, die wir uns noch gar nicht ausmalen können. In der ersten Amtszeit hat sich gezeigt, dass er Repressionen und eine Politik der ausgestreckten Hand gegenüber transnationalen Konzernen vereint. Mit Bergbauunternehmen hat er illegale Deals gemacht, die nicht die notwendigen demokratischen Kanäle durchlaufen haben. Die Verquickung von autoritärem Neoliberalismus, Rohstoffausbeutung und Tod, verbunden mit der illegalen Drogenwirtschaft, die wir heute in unserem Land erleben, ist ein explosiver Cocktail und eine Zeitbombe. Deshalb brauchen wir jede Form von Solidarität aus dem Ausland.
Belén Díaz ist ecuadorianische Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lateinamerikainstitut der FU Berlin
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