Entscheidung für den Widerstand
Von Ulrike Eifler
April 2025: In den Medien tobt eine beschämende öffentliche Debatte über die Teilnahme russischer Vertreter an den Feierlichkeiten des 80. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus. Selbst die Gedenkstättenleitungen ehemaliger Konzentrationslager (KZ) folgen der Empfehlung des Außenministeriums und kündigen an, russische Vertreter des Gedenkstättengeländes zu verweisen. Das Primat der Außen- und Sicherheitspolitik erreicht die Erinnerungsarbeit und soll nun also auch hier eine Zeitenwende herbeiführen. Bei dem Versuch, dem herrschenden Diskurs meine ganz persönliche Familiengeschichte entgegenzustellen, führen mich politische Recherche und Familienforschung nach langer Zeit zurück in meine Heimatstadt Eberswalde – eine industriell geprägte Kleinstadt in der Nähe von Berlin.
Auf der Westseite des Finower Messingwerke-Friedhofs lag bis vor wenigen Jahren das Grab von Wilhelm Philipp Eifler. Aus meinen Recherchen weiß ich: Die geräuschlose Auflösung seiner Grabstätte hebt sich merkwürdig banal ab vom ausdrucksvollen Pathos seiner Beerdigung 30 Jahre zuvor. Im Februar 1983 hatte hier ein Bläser über die Köpfe einer riesigen Trauergemeinde hinweg das Lied vom kleinen Trompeter angestimmt. Politische Weggefährten hatten sich von einem Mann verabschiedet, der mit seinen 1,75 Metern und knapp sechzig Kilo äußerlich stets schwächer gewirkt hatte, als er innerlich war. Ein glühender und zugleich seltsam gebrochener Kommunist. Einer, der seinen Weltglauben im KZ verloren hatte, nicht aber seinen Stolz.
Wilhelm Philipp Eifler ist mein Großvater. Ehe ich mich auf den Weg einer familiären Spurensuche machte und in den Archiven nach Hinweisen auf sein Leben suchte, war meine persönliche Erinnerung an ihn blass. Der hellblaue Gartenzaun vor dem Haus meiner Großeltern in der Heinrich-Mann-Straße waberte ebenso losgelöst durch mein Gedächtnis wie sein südhessischer Dialekt. Erst meine Nachforschungen setzten die einzelnen Steinchen zu dem Mosaik zusammen, das sein Leben war. Und je mehr ich verstand, dass seine furchtbaren Hustenanfälle in Wirklichkeit lebensbedrohliche Asthmaattacken waren, eine Folge jahrelanger Lagerhaft, desto mehr prägte sich die politische Bedeutung seines Lebens in mein eigenes politisches Bewusstsein. Und ich verstand, wie sehr seine Geschichte auch Teil meiner eigenen Geschichte war.
Eberswalde wurde für meinen Großvater gegen Ende seines Lebens zur Wahlheimat und das kleine Häuschen mit Garten in der Clara-Zetkin-Siedlung zu einem späten Rückzugsort. Hier saß er an seiner Schreibmaschine und tippte sich die schmerzhaften Erinnerungen seiner Lagerhaft in bewegenden Berichten von der Seele. Hier korrigierte er Forschungsmanuskripte und stand Historikern als Zeitzeuge zur Verfügung. Hier war er an Buchprojekten beteiligt. Hier hielt er bis zum Schluss Briefkontakt zu seinen Kameraden. Und hier ging zu Ende, was im Dezember 1909 im hessischen Hirschhorn begonnen hatte.
Eingesperrt in Dachau
Wilhelm Philipp Eifler kommt als Sohn eines Binnenschiffers in der am Neckar gelegenen Kleinstadt Hirschhorn zur Welt. Armut und Hunger prägen das Leben der Familie. Mein Großvater wird 1931 Mitglied der KPD und schnell der politische Leiter der Ortsgruppe. Die Hirschhorner KPD-Mitglieder organisieren Streikunterstützungen, Schulungsabende und politische Versammlungen. Mit der Machtübernahme Hitlers wird diese Arbeit zunehmend gefährlicher: Tausende Kommunisten werden verhaftet, die Gewerkschaftshäuser gestürmt, Oppositionelle gefoltert und ermordet. Mein Großvater entschließt sich, bei einer Reederei anzuheuern, und entgeht so seiner Verhaftung. Mehr als ein Jahr ist er auf deutschen Gewässern unterwegs, bis es ihn im September 1934 zurück nach Hirschhorn spült. Unvermittelt setzt er seine politische Arbeit fort. Bei einem öffentlichen Aufmarsch der SA dreht er sich für alle sichtbar weg und verweigert den Hitlergruß. Die Gestapo wird sofort auf ihn aufmerksam. Kurze Zeit später schmuggelt er aus Frankfurt Flugblätter nach Hirschhorn und verteilt diese unter hohem Risiko an Gleichgesinnte. Gleichzeitig zieht er die alten Genossen zu geheimen Treffen zusammen.
Seine Umtriebigkeit bleibt nicht unbemerkt. Die Gestapo notiert, dass Personen, die als Kommunisten bekannt waren, plötzlich wieder reger werden. Sie schleust einen Spitzel in die Gruppe ein, der Namen und Gesprächsinhalte weitergibt. Als es zu Hausdurchsuchungen kommt, findet die Gestapo bei meinem Großvater hinter der Holzverschalung eines Fensters belastendes Material. Er wird verhaftet und wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach verbüßter Zuchthausstrafe kommt er zur »Schutzhaft« ins KZ Dachau. Das war im Februar 1938.

In Dachau ist der Anteil kommunistischer Häftlinge überdurchschnittlich hoch. Sie besetzen wichtige Leitungsposten und organisieren die Solidarität im Lager. Mein Großvater schließt sich diesem Widerstand an. Als Blockältester gelingt es ihm, dem einen etwas Essen zuzustecken und den anderen in einem leichteren Arbeitskommando unterzubringen. Einen dritten rettet er nur Minuten vor dessen Abtransport trotz strenger Bewachung der SS, indem er frech eine Vernehmung beim Lagerführer erfindet. Es sind einfache und doch beeindruckende Geschichten, die der Häftling mit der Nummer 13583 viele Jahre später aufschreibt.
Im November 1944 lässt die SS schließlich mehrere hundert überwiegend kommunistische Häftlinge auf dem Appellplatz antreten und presst diese in eine Strafeinheit. Sie sollen in den letzten Kriegstagen als Kanonenfutter an der Ostfront eingesetzt werden. Zur Demütigung werden sie jedoch zuvor in SS-Uniformen gesteckt und müssen tagelang unter den Augen ihrer Kameraden auf dem Appellplatz exerzieren. Am 10. November 1944 verlässt mein Großvater gemeinsam mit Hunderten weiteren Häftlingen das Lager. Sie kommen in die Strafeinheit Dirlewanger, eine brutale Truppe aus Wilddieben und Berufsverbrechern, die hinter der Front für Plünderungen und Massaker an der Zivilbevölkerung eingesetzt wird. Die Häftlinge aus Dachau verweigern sich diesen Säuberungen und laufen am 15. Dezember 1944 im ungarischen Hont, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben, geschlossen zur Roten Armee über.
Fremd in Westdeutschland
So überlebt mein Großvater den Krieg in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager. In seinen Berichten weiß er nur Gutes über jene Zeit zu berichten. Hunger, Kälte und Krankheiten prägten natürlich das Leben der Kriegsgefangenen. Aber Schikane, Schreckensherrschaft, Auspeitschungen, Folter oder gar systematische Hinrichtungen, wie er sie aus den deutschen Konzentrationslagern in Dachau und Flossenbürg kannte, erlebte er dort nicht. Wenige Monate nach Kriegsende wird er entlassen und macht sich von der Ukraine zu Fuß auf den Weg zurück nach Deutschland. Ausgemergelt und mit einem schweren Magenleiden, chronischer Bronchitis und einer Herzmuskelerkrankung kommt er am 2. Januar 1947 in Hirschhorn an. Seine alte Wohnung ist durch einen Dachstuhlbrand zerstört, die wenigen Habseligkeiten verbrannt. Der Gemeinderat teilt ihm einstimmig eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Küche im Hause des ehemaligen Nazibürgermeisters zu. Eine politische Entscheidung: Solange Nazis noch immer in Wohnungen mit zwei und mehr Zimmern wohnten, wollte man ehemals politisch Verfolgte nicht ohne Obdach lassen.
Wenige Monate später findet Wilhelm Philipp Eifler eine Anstellung bei einer Konsumgenossenschaft. Im darauffolgenden Jahr heiratet er. Zu den zwei Kindern, die seine Frau mit in die Ehe bringt, kommen zwei gemeinsame Kinder. Es hat den Anschein, als habe mein knapp 40jähriger Großvater endlich sein Glück gefunden. Doch die lange Haftzeit hat ihm gesundheitlich zugesetzt, in der Konsumgenossenschaft fällt er krankheitsbedingt immer wieder aus. Gleichzeitig ist der Kampf um Entschädigung mühselig und kräftezehrend. Es gelingt ihm schließlich, Entschädigungsgelder zu bekommen, von denen er sich ein kleines Textilgeschäft einrichtet. Inzwischen prägt jedoch ein wachsender Antikommunismus die Nachkriegszeit. Mindestens zweimal verweigert die Polizei die Strafverfolgung von Nazis, die mein Großvater als seine Peiniger aus Dachau identifiziert und zur Anzeige bringt. Gleichzeitig fordert der Pfarrer die Kirchengemeinde auf, nicht im Geschäft des Kommunisten Eifler einzukaufen.
Die Enttäuschung über diese Entwicklungen sitzt tief. Gleichzeitig wird die Versorgung der Familie immer schwieriger. Meine Großmutter häkelt nachts Strümpfe, die mein Großvater tagsüber im Umland bei Türverkäufen anpreist. Politisch desillusioniert und materiell an die Wand gedrückt, siedelt die Familie Eifler im April 1955 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Ostberlin über. Sie lassen sich zunächst im thüringischen Zeulenroda und einige Jahre später in Eberswalde nieder. Einer dauerhaften Beschäftigung kann mein Großvater nicht mehr nachgehen. Doch er nutzt die Zeit, seine Erinnerungen an das Lagerleben aufzuschreiben oder als Zeitzeuge in den Schulen davon zu berichten. Es sind Geschichten über die Kraft der Solidarität, eine beeindruckende Kraft unter den widrigsten Bedingungen.
Mein Großvater stirbt im Februar 1983. Er gehörte zu einer Generation, die sich wie keine andere zwischen Widerstand und Anpassung entscheiden musste und zugleich alle Abgründe des 20. Jahrhunderts erlebte. Die Auflösung seines Grabes nach über 30 Jahren ist normale gesellschaftliche Gepflogenheit. Und doch war sie für mich ganz persönlich die Auslöschung eines Ortes, der mir die Erinnerung an die bewegenden Lebensgeschichten jener Generation leichter gemacht hat. Lassen wir nicht zu, dass nun auch unsere von unten erkämpfte Erinnerungskultur durch Russophobie, Nationalismus und Kriegsabsichten ausgelöscht wird.
Ulrike Eifler ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft und Mitglied des Vorstands von Die Linke.
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