Die Zeit der »Experten«
Von Kai Köhler
Kriegstüchtigkeit, wie der zuständige Minister Boris Pistorius sie einfordert, ist niemals nur eine Sache von genügend Soldaten und ihrer Ausstattung. Ohne eine Gesellschaft, die das Kriegführen mindestens stillschweigend duldet, aber besser noch aktiv unterstützt, ist auch der größte materielle Aufwand von beschränktem Nutzen.
Auch deshalb begann spätestens 2022 die große Zeit der »Experten«: eine überschaubare Zahl von nach ideologischen Kriterien ausgewählten Wissenschaftlern, die nun mehr in den Medien als an ihrer Universität existieren und die immer gleichen Behauptungen wiederkäuen. Der »Westen« und insbesondere »Europa« habe jahrelang das eigene Militär vernachlässigt (schließlich betrugen die NATO-Ausgaben für Rüstung 2021 nur das 17fache von denen Russlands). Man müsse wieder lernen, in militärischen Kategorien zu denken (als habe dieser Westen seit 1990 Krieg nicht regelmäßig als erste statt als letztmögliche Option gewählt). Russland führe schon heute einen neuartigen »hybriden Krieg«; der bestehe aus einem Ineinander propagandistischer, geheimdienstlicher und niedrigschwelliger militärischer Maßnahmen, verbunden mit der Unterstützung russlandfreundlicher Gruppen (kurz, genau das Instrumentarium, das der Westen bei der Beseitigung missliebiger Regierungen seit je anwendet). Falle die Ukraine, sei Russland in wenigen Jahren drauf und dran, NATO-Gebiet anzugreifen (eine Angstmacherei, die von keinerlei ernstzunehmenden Indizien gestützt wird, aber zunehmend politikbestimmend ist).
Alles das bestätigt die alte Einsicht, dass sich im politischen Raum nicht das durchsetzt, was wahr ist, sondern was oft genug wiederholt wird. Besonders gilt das für die Außenpolitik, wo nur selten unmittelbare Erfahrung die Ideologie korrigiert. Der Verlag C. H. Beck hat nun im März gleichzeitig zwei schmale Bändchen von zwei dieser Kriegsintellektuellen herausgebracht, und tatsächlich bietet der Inhalt keinerlei Überraschungen.
Etwas mürrisch
Der in Potsdam lehrende Militärhistoriker Sönke Neitzel stellt in der Reihe »Wissen« die Bundeswehr vor. Der historische Teil ist eingestandenermaßen eine Kurzfassung dessen, was Neitzel im Bundeswehr-Kapitel seines Buchs »Deutsche Krieger« (2020) entwickelt hat. Neben brauchbaren Informationen zu Aufwuchskonzepten, Ausstattung und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Kalten Krieg durchzieht die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Militär die Darlegungen. Neitzel stellt etwas mürrisch fest, dass stets das Primat der Politik gegolten hat. Immerzu seien Entscheidungen mit dem Blick auf innenpolitisch Durchsetzbares und bündnispolitisch Wünschenswertes getroffen worden.
Will man vor allem ein möglichst starkes deutsches Militär, so ist die Kritik daran nachvollziehbar. In »Deutsche Krieger« argumentierte Neitzel, dass die spezifische Aufgabe von Soldaten – zu kämpfen, zu töten und notfalls zu sterben – eine besondere Prägung erfordere. Entsprechend seien Traditionsbezüge auf frühere deutsche Armeen, bis hin zur Wehrmacht, sinnvoll. Zweitens kritisiert Neitzel, dass Auslandseinsätze wie in Afghanistan und Mali unzureichend geplant wurden. Nötig wären Lageanalyse und Zielbestimmung gewesen, woraus sich die erforderliche Einsatzstärke und Vorgehen ergeben hätten. Statt dessen habe man sich gefragt, mit welchem Minimum man Bündnispartner zufriedenstellen könne, ohne innenpolitisch Verwerfungen zu riskieren. Das ist richtig; freilich sind in diesen Fällen die Planungen von Staaten, deren Bevölkerungen wie die der USA bzw. Frankreichs ein »positiveres« Verhältnis zum Militär haben, nicht solider gewesen.
Je näher Neitzel der Gegenwart kommt, desto mehr gerät sein Überblick zur Streitschrift. Sogar dem Rezensenten der FAZ war unwohl, dass Neitzels Schrift zum »politischen Forderungskatalog« geraten ist. Zu spät, zuwenig: Das ist Neitzels Klagelied zur Erhöhung des Kriegsetats unter Angela Merkel wie zu dem 100-Milliarden-Euro-Paket unter Olaf Scholz. Überhaupt: Warum schuldenfinanziert, statt endlich die Bevölkerung zum Verzicht zu zwingen! Zufrieden ist Neitzel nur mit den Medien, denn da freut ihn ein »Stimmungswandel« auch bei Journalisten, die angeblich mal Bundeswehr-Skeptiker waren und nun Aufrüstungsbefürworter sind. Den Gegenpol sieht er bei den Universitäten, insbesondere den Geisteswissenschaften und einer »üppig finanzierten institutionalisierten Friedensforschung«.
Masalas »Szenario«
Einer, den er damit mit Sicherheit nicht meint, ist sein Kollege Carlo Masala, der Internationale Politik an der Hochschule der Bundeswehr München lehrt. Masala entwickelt unter dem Titel »Wenn Russland gewinnt« ein »Szenario«. Das geht so: Die europäische Unterstützung für die Ukraine reicht nicht aus, und Russland setzt eine Friedensvereinbarung durch, nach der es die eroberten Gebiete behält und die Ukraine neutral bleiben muss. Wladimir Putin tritt zurück und macht dem (fiktiven) jungen, charismatischen Wirtschaftsfachmann Oleg Obmantschikow Platz. Der Westen glaubt nur zu gerne, dieser sei ein zweiter Michail Gorbatschow, und vernachlässigt die notwendige Rüstung. 2028 fühlt sich Russland stark genug für den nächsten Schritt. Russische Agenten zwingen Afrikaner, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, so dass die EU zur Abwehr Kriegsschiffe aus der Ostsee verlegt. China lenkt derweil durch Übergriffe auf philippinisches Gebiet ab. Dann besetzten russische Truppen die Grenzstadt Narwa in Estland und eine estnische Insel. Außerdem schießen sie aus Gründen, die ebenfalls allein Masala kennt, ein Flugzeug mit dem Vorstandsvorsitzenden des europäischen Rüstungskonzerns »Ruhreisen« ab.
Wie reagiert die NATO? Polen, die baltischen Länder, Großbritannien wollen wie auch der deutsche Bundeskanzler den Bündnisfall erklären. Andere Länder, wie das mittlerweile vom Front National regierte Frankreich, sind dagegen. Und auch die USA sehen nicht ein, wegen eines estnischen Städtchens einen Nuklearkrieg zu riskieren. Kurz: Die NATO erweist sich als Papiertiger, und Obmantschikow kann den »Diktator in Peking« anrufen. Das Schlusswort gehört Xi Jinping, der »die chinesische Vorherrschaft über die Welt zum Greifen nahe« sieht.
Das Ganze ist mit kleinen, vollständig fiktiven Episoden aufgelockert, die zeigen, dass Masala als Literat leider sowenig taugt wie als Politikwissenschaftler. Nun kann man, je nach politischem Interesse, beliebige Szenarien entwerfen. Etwa: Nach einem Friedensschluss wird die Ukraine neutral, der Zustand vor dem Kiewer Putsch 2014 ist wiederhergestellt und ermöglicht eine europäische Friedensordnung. Oder: Die ab 2026 geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa wird in Moskau als derart bedrohlich eingeschätzt, dass sich Russland für einen Präventivschlag entscheidet. Kann man alles glauben oder auch nicht. Interessant wird es, wenn es um die Wahrscheinlichkeit von Szenarien geht – hier führt Masala als Quelle »viele Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen« an sowie »War Games«, an denen er als Beobachter teilnahm. Ein inhaltliches Argument sieht anders aus.
Kriegsideologen
Szenarien können dazu dienen, verschiedene Handlungsoptionen mit ihren Vor- und Nachteilen durchzuspielen. Nichts davon geschieht. Masala fordert selbstverständlich eine Aufrüstung der Bundeswehr und eine kriegsbereite deutsche Gesellschaft, um sein ausgedachtes Szenario abzuwenden. Freilich setzt sich die russische Führung in seiner Geschichte durch, weil sie mit dem Atomkrieg droht und die USA dieses Risiko nicht eingehen wollen. Masala erfindet ein Problem und schlägt Lösungen vor, die nicht zum Problem passen. Das intellektuelle Niveau ist denkbar trostlos.
Dennoch ist das Buch erfolgreich. Warum? Unfreiwilligen Aufschluss liefert das Nachwort, in dem Masala seine Story für die begriffsstutzigsten unter seinen Lesern noch mal erklärt. Hier beklagt er »Angstunternehmer«, die Befürchtungen vor einer Eskalation zu einem »Geschäftsmodell« gemacht hätten und so russische Interessen bedienten. Man hat es also nicht mit Leuten zu tun, die einfach eine andere Einschätzung der Lage haben, sondern mit Verrätern. Die Feinderklärung gilt aber auch nach außen. Ein scheinbar kompromissbereiter neuer russischer Präsident ist eine für den Verlauf des Szenarios gar nicht nötige Zutat, Masala könnte Putin ebenso wie Xi im Amt belassen. Das Perfide der Idee ist: Egal wie der Russe sich gibt – er ist und bleibt der Angreifer. Mehr noch als Neitzel ist Masala selbst ein Angstunternehmer, und sein Geschäftsmodell als Kriegsideologe läuft prächtig.
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende. C. H. Beck, München 2025, 128 Seiten, 12 Euro
Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario. C. H. Beck, München 2025, 120 Seiten, 15 Euro
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