Gegründet 1947 Mittwoch, 30. April 2025, Nr. 100
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 30.04.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Union Busting

Fristlos gefeuert

Schützen Arbeitsgerichte Lohnabhängige vor Unternehmerwillkür? Verfahren zu lang. Anwälte fordern mehr Richter
Von Jessica Reisner
3.jpg
Ein schwerer, oft langwieriger Gang der Geschassten vor den Kadi mit offenem Ausgang (Bielefeld, 15.4.2009)

Sie trifft Lohnabhängige existentiell: die fristlose Kündigung. Die außerordentliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist der Vorschlaghammer im Werkzeugkasten unternehmensnaher Arbeitsrechtskanzleien. Um so wichtiger ist für Gekündigte eine schnelle gerichtliche Klärung. Doch viele Arbeitsgerichtsverfahren dauern lange, für Betroffene oft zu lange. Unternehmern und ihren Anwälten kann es hingegen oft nicht lang genug gehen. Sie wollen gefeuerte Kollegen entkräften, entnerven, mürbe machen.

Um eine fristlose Kündigung zu kassieren, reicht es mitunter, in der Firma den im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) vorgesehenen Betriebsrat (BR) gründen zu wollen. So erging es etwa einem Angestellten des Digital Career Institute (DCI) in Berlin. Das DCI bietet Weiterbildungskurse an, maßgeblich finanziert über »Bildungsgutscheine« der Bundesagentur für Arbeit.

Der DCI-Beschäftigte wollte mit Kollegen im Sommer 2024 einen BR gründen. Nach einer diskussionsreichen Wahlversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes kündigte die Firma ihm fristlos und begründete dies mit seinem Verhalten auf der Wahlversammlung. Ein abenteuerliches Konstrukt. Das schien man auch beim DCI so zu sehen und legte sicherheitshalber noch zwei Kündigungen nach. Auch drei weitere Initiatoren der BR-Gründung flogen raus.

Ein klarer Fall von Behinderung der BR-Arbeit nach Paragraph 119 BetrVG, kurz: Union Busting. Ein Fall, der arbeitsgerichtlich in kürzester Zeit zu klären wäre. Möchte man meinen. Zumal ein Gütetermin nach dem Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) rund zwei Wochen nach Klageerhebung vorgesehen ist. Tatsächlich fand die Güteverhandlung im besagten Fall sechs Monate später, im Januar 2025, statt. Der erste Kammertermin am Arbeitsgericht Berlin wird sogar erst am 31. Juli 2025 stattfinden.

Das drastische Beispiel ist kein Einzelfall. Angestellte und ihre Anwälte erleben häufig, dass arbeitsrechtliche Verfahren allein in erster Instanz viele Monate dauern. Geht ein Fall in die nächste Instanz, vergehen bis zur Urteilsfindung mal eben eineinhalb oder zwei Jahre. Das liegt auch an häufigen Terminverschiebungen auf Antrag der Unternehmensanwälte.

Die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales erklärte auf jW-Anfrage, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Kündigungen in Berlin 2023 bei 3,1 Monaten lag. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen kommt auf 2,4 Monate. Mittelwerte zwischen flotten Einigungen und langwierigen Verfahren. Übereinstimmend erklären Berlin und NRW, keine Statistik über Terminverschiebungen nach Antragstellern zu führen. Ein Fehler, denn so bleiben Häufungen unerfasst.

Fest steht, Unternehmen, die das Grundrecht auf Mitbestimmung unterlaufen, treten reichlich arbeitsrechtliche Verfahren gegen Beschäftigte los. Viele davon sind konstruiert und fallen erfahrungsgemäß vor Gericht in sich zusammen. Die Verfahren erfüllen dennoch ihren Zweck. Beschäftigte werden maximal gestresst und von Kollegen isoliert, die Belegschaft eingeschüchtert.

Die Akteure in den Chefetagen sitzen die Verfahren dagegen bequem aus. Jede Terminverschiebung spielt ihnen in die Hände. Es sei denn, solidarische Unterstützer Gekündigter haben Protest angekündigt, mobilisieren beispielsweise zu einer Kundgebung vor das Arbeitsgericht. Unabhängig davon, ob die Verhandlung stattfindet oder kurzfristig abgesagt wurde. Denn solche Aktionen schaffen kritische Öffentlichkeit, inklusive Imageschaden für das Unternehmen, das engagierte Gewerkschafter im Betrieb schassen will.

Anwälte Beschäftigter fordern bei Anträgen auf Terminverschiebungen am Arbeitsgericht die Vorlage von Beweisen, zum Beispiel durch Atteste. Es braucht außerdem eine statistische Erfassung der Verschiebungsanträge, der Antragsteller und der Begründungen. Sonst werden Arbeitsgerichte zu unfreiwilligen Komplizen von Union Bustern. Und das, obwohl Kündigungsschutzverfahren nach dem ArbGG vorrangig zu erledigen sind.

Zurück zum DCI-Fall: Die verschleppte Verhandlung hat mit zeitnaher Rechtsfindung nur noch wenig zu tun. Der gefeuerte BR-Gründer ist dann länger als ein Jahr aus dem Betrieb, die Chance einer Betriebsratsgründung ist längst vertan. Bei Arbeitsgerichten nichts Ungewöhnliches: Mehr als 80 Prozent der Kündigungsschutzklagen endeten 2023 bundesweit mit einem Vergleich. Für aggressive Chefs ein Sieg auf ganzer Linie: Betriebsrat verhindert, Exempel statuiert. Und die Kosten? Die gelten als Betriebsausgabe.

Fazit: Die Arbeitsgerichte benötigen mehr Personal. Und die Lohnabhängigen brauchen mehr Schutz vor Unternehmerwillkür. Passiert hier nichts, können Union Buster weiter mit dem »Vorschlaghammer« hantieren.

: Arbeitsgerichte

Wer hat’s erfunden? In der Frage der Arbeitsgerichte Napoleon. Zumindest in Köln. Hier wurden Konflikte zuvor nach alter Sitte, mit Mistgabeln und Fackeln, gelöst. Unzivilisiert und dringend neu zu regeln. Nach dem Vorbild des Lyoner »Conseil de Prud‹hommes« (CPH) schuf Napoleon deshalb am 26. April 1811 per Dekret den »Rat der Gewerbeverständigen«.

212 Jahre später arbeiteten deutsche Arbeitsgerichte laut Statistischem Bundesamt 2023 exakt 283.116 Fälle ab. Klingt viel. Doch damit auch die Qualität stimmt, muss ständig nachjustiert werden. Wie steht es etwa um die Neutralität und Unabhängigkeit der Richter an Arbeitsgerichten? Fragwürdig sind hier besonders hoch dotierte Vorträge und Seminare vor Unternehmensverbänden oder Managerschulungen durch Arbeitsrichter. Anfragen des Kölner Vereins »Aktion gegen Arbeitsunrecht« ergaben, dass nur vier von 16 Landesministerien für Justiz hierzu eine Statistik führen.

Viele Kündigungsverfahren enden mit Vergleichen. Das hat mit Rechtsfindung wenig zu tun, sondern ist oft ein fauler, intransparenter »Justizhandel«. Vor allem, wenn Gekündigte eine Schweigeklausel unterschreiben, die verbietet, über erfahrenes Unrecht zu sprechen.

Vergleiche haben für Richter den Vorteil, dass sie kein Urteil schreiben müssen. Und da auch die Anwälte von Vergleichen profitieren, sehen sich Gekündigte von gleich drei Seiten unter Druck gesetzt. Das kann auch heißen: Geld statt Recht. 130.516 von 158.450 Kündigungsverfahren endeten 2023 mit Vergleichen.

Zu guter Letzt: Wer wird eigentlich Richter? Beschäftigtennahe Arbeitsrechtler warnen, dass vermehrt Rechtsanwälte in Richterämter kommen, die zuvor bei unternehmensnahen Kanzleien tätig waren, die auch als Union Buster auftreten. Mangelnde Transparenz. Auch hier. (jr)

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Gegenstand des Aufrufs: Großdemonstration gegen Rassismus und di...
    09.01.2025

    Abmahnung nach Demoaufruf

    Arbeitsgericht gibt Freier Universität Berlin recht: Zusammenhang zwischen prekären Beschäftigungsverhältnissen und »Rechtsruck« sei Schmähkritik
  • 17.08.2023

    Krisenreflexe bei Getir

    Beschäftigten von Lieferdienst werden mittels Vertragsklausel Stunden gestrichen
  • Essenslieferanten: Kaum auf dem Sattel – und schon geschasst (Be...
    16.03.2023

    Flink vor die Tür gesetzt

    Berlin: Arbeitsgericht erklärt Kündigung von Initiator eines Betriebsrates für ungültig – Arbeitsvertrag dennoch aufgelöst

Regio:

Mehr aus: Schwerpunkt