Gegründet 1947 Freitag, 10. Oktober 2025, Nr. 235
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 04.10.2025, Seite 8 / Ansichten

München 2.0

Wladimir Putin in Sotschi
Von Reinhard Lauterbach
imago1067295302.jpg

Ist Wladimir Putin des Krieges in der Ukraine müde? So offen hat er es bei seinem Auftritt auf der Jahrestagung des offiziösen Waldai-Klubs in Sotschi nicht gesagt, aber seine Wortwahl war aufschlussreich. Nichts mehr von »militärischer Spezialoperation« war zu hören, sondern diesmal sprach Putin von der »ukrainischen Tragödie«. Man weiß natürlich nicht, ob er diesen Vergleich im landläufig-moralischen Sinne meinte oder in der strengeren Fassung der klassischen Ästhetik: der Tragödie als eines Konflikts zweier gleichrangiger Interessen oder Prinzipien, der zwangsläufig zum Unglück führt.

Einiges spricht dafür, dass Putin nicht einfach alles furchtbar schade fand, wie der gesunde Menschenverstand, wenn er von »Tragödie« spricht. Denn den Hauptteil seiner Rede widmete Putin den ganz großen Themen der Weltordnung, und hier klang sie wie eine Wiederholung der Thesen, die er Anfang 2007 auf der Münchener »Sicherheitskonferenz« formuliert hatte: Vor allem die von der Überlebtheit der durch die Dominanz der USA und ihrer europäischen Satelliten geprägten unilateralen Weltordnung, die dem Rest der Welt »seinen Platz in der weltweiten Hierarchie zuweisen« wollte.

18 Jahre später – davon dreieinhalb Jahre mit Krieg – wirkt die Wiederholung trotzdem anders, erfahrungsgesättigter. Ihr habt uns nicht zugehört, aber welches Problem habt ihr denn gelöst? Putin berief sich auf die in der Tat erstaunliche Resilienz Russlands gegen die westlichen Sanktionen, um seinen denkbaren Adressaten im Westen deutlich zu machen: Klein kriegt ihr uns sowieso nicht, dafür erhöht ihr mit der weiteren Eskalation das Risiko des ganz großen Krieges. Also überlegt euch, ob ihr das wirklich riskieren oder vielleicht doch mit uns wieder ins Gespräch kommen wollt. Unter Gleichen.

Noch etwas wurde aus den Zwischentönen seiner Rede deutlich: während er die Hoffnung auf die europäischen »Nachbarn« offenkundig aufgegeben hat, machte er der Trump-Administration offen Avancen. Seine Wunschvorstellung scheint zu sein, sich mit den USA auf einen »großen Deal« zu einigen, dem sich die machtlosen Europäer letztlich unterwerfen müssten. Ein Szenario, das allerdings seiner eigenen Vorstellung von entstehender Multipolarität einigermaßen widerspricht.

So recht Putin mit der Feststellung hat, dass die starke Tendenz zur Multipolarität eine direkte Folge von Jahrzehnten westlichen, als »regelbasierte Weltordnung« verkleideten Dominanzanspruchs ist – das ist guter dialektischer Materialismus – , so naiv wirken seine kritischen Worte an die ­Adresse der einstigen Wunschpartner Russlands: Sie seien »geistig nicht vorbereitet« auf die globalen Veränderungen gewesen. Nein. Der Imperialismus ist nicht zu blöd, die Prozesse zu begreifen. Er versucht nur, sie unter dem Deckel zu halten, weil sie seinen Interessen widersprechen.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (4. Oktober 2025 um 15:13 Uhr)
    Sotschi im Herbst 2025 – das Meer rauscht, der Präsident spricht, und wieder einmal soll die Welt begreifen, was sie nicht begreifen wollte. Der Waldai-Klub, einst ein Diskussionsforum, wirkt mittlerweile wie ein Spiegelkabinett der Macht. Dort erklärt Wladimir Putin, was er schon 2007 in München sagte – nur diesmal mit grauerem Bart, aber festerer Überzeugung: Die Welt ist nicht mehr unipolar, sie ist, so wörtlich, »polyzentriert«. Doch die eigentliche Neuigkeit steckt nicht in der Geopolitik, sondern im Vokabular. Kein Wort mehr von der »militärischen Spezialoperation« – stattdessen: »ukrainische Tragödie«. Ein Wort, das alles kann: Bedauern, Überlegenheit, Entschuldigung, Geschichtsphilosophie. Tragödie, das klingt nach Schicksal, nicht nach Schuld. Nach antikem Konflikt, nicht nach Angriff. So verwandelt sich Krieg in ein Weltendrama – und Russland bleibt darin, versteht sich, die tragische Hauptfigur. Während draußen Sanktionen drücken und Drohnen fliegen, wird drinnen vom »Ende der westlichen Vorherrschaft« gesprochen. Europa? Abgeschrieben. Amerika? Vielleicht wieder Partner – für einen »großen Deal«. Multipolarität heißt also: Zwei reden, der Rest hört zu. In den Diskussionssälen geht es offiziell um »Instabilität«, »globale Ordnung«, »Resilienz« und »neue Machtzentren«. Inoffiziell um das alte Thema: Anerkennung. Russland will kein Schüler mehr sein, sondern wieder Lehrmeister der Weltgeschichte. Und so klingt der Waldai-Klub 2025 wie München 2007 – nur dass die Mahnung zur Warnung, und die Warnung zur Selbstrechtfertigung geworden ist. Tragödie? Vielleicht. Aber eine, die sich selbst applaudiert.

Ähnliche:

  • Gefallene Festung. Kämpfe in und um Awdijiwka (Aufnahme vom 17. ...
    24.02.2024

    Kiewer Konkursverschleppung

    Militärische Verschiebungen, politischer Stillstand. Der Ukraine-Krieg geht ins dritte Jahr
  • »We don’t need no thought control«: Roger Waters bei »The Wall« ...
    08.02.2023

    Künstler am Pranger

    Kommunalpolitiker wollen Konzerte von Musiker Roger Waters in Deutschland verhindern. Hintergrund sind dessen Positionen zu Israel und der Ukraine

Mehr aus: Ansichten