Manifest intim
In der Volksbühne Berlin-Mitte hat
Silvia Rieger am Samstag Bertolt Brechts »Lehrgedicht von der
Natur des Menschen« vorgetragen. Brecht hat mit diesem Text die
»propagandistische Wirkung« des Kommunistischen Manifests
»durch ein Aufheben des pamphletischen Charakters erneuern«
wollen. Rieger hätte mit ihm keine Volksrede schwingen können,
die Zeiten sind nicht so. Gerade mal eine gute Handvoll zahlender
Gäste hatte sich nach dem Ende der großen Vorstellung auf
der Hinterbühne eingefunden. Riegers Darbietung entsprach der
intimen Situation. Sie kauerte vor einem Spiegel auf dem Bühnenboden,
sprach über weite Strecken tonlos Hexameter vor sich hin,
veranschaulichte hin und wieder auf naheliegende Weise Passagen, die
ihr persönlich nahe lagen. Eine Selbstvergewisserung, erfüllter
Herzenswunsch einer einzigen Schauspielerin – gut zu wissen, daß
in der Volksbühne für so etwas noch Überschichten
geschoben werden. Jetzt, liebes altes Haus, wäre es der
propagandistischen Wirkung zuträglich, den Text in Auszügen
von einem Planwagen herunter vorzutragen, als klassisch nervtötende
Werbemaßnahme, nur eben für den Kommunismus. So könnte
bald die erste Handvoll richtiger Proleten vom Theater für den
Klassenkampf gewonnen sein.
(jW)
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