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Schriftsteller macht Bonn für Anschläge in Lübeck mitverantwortlich

Günter Grass plädiert für Revision des Einigungsvertrages
Von AP/ddpADN/jW

Der Schriftsteller Günter Grass hat Polizei und Staatsanwaltschaft in Lübeck vorgeworfen, die Ermittlungen wegen der jüngsten Brandanschläge und rechtsextremen Schmierereien zu verschleppen. Die Ermittlungen seien »jämmerlich und beschämend«, sagte Grass, dessen Büro in der Hansestadt ebenfalls mit Hakenkreuzen beschmiert worden war, in einem am Mittwoch veröffentlichten Gespräch mit der Hamburger Zeitung Die Woche.

In Lübeck habe »der Rechtsradikalismus, der sich nun auch in terroristischer Form äußert, nach wie vor wenig zu befürchten«, kritisierte Grass. Nach den Schmierereien an seinem Büro habe ein Polizist die Schrift des Täters fotografiert und erklärt, nach erstem Augenschein handele es sich um denselben Sprayer wie bei dem Brandanschlag auf eine katholische Kirche in Lübeck. Sechs Tage später sei ihm erklärt worden, die Fotos seien noch nicht entwickelt. »Während dieser sechs Tage gab es den nächsten Brandanschlag«, sagte der Schriftsteller. »Das ist nicht nur Schlamperei. Da ist der Verdacht der Verschleppung der Ermittlungen angebracht.« Der zuständige Staatsanwalt habe die Schmierereien einen »Dummenjungenstreich« genannt, den er nicht hochspielen wolle. »Die Täter sind in der Regel Jugendliche, die nicht sehr viel Überblick haben.« Er sei aber überzeugt davon, »daß sie für so gezielte Anschläge Weisungen bekommen haben«.

Politische Schuld wies Grass Bonn zu: Die Hauptverantwortung liege in einer tendenziell fremdenfeindlichen Politik. »Was Innenminister Manfred Kanther mit immer neuen Abschiebeerlassen anrichtet, ist die Vorgabe für das, was in Städten wie Lübeck geschieht«, erklärte Grass.

Im gleichen Interview forderte Grass eine neue Verfassung für die Bundesrepublik und eine Revision des Einigungsvertrages. Eine Verfassungsdebatte gäbe den neuen Bundesländern und damit auch den Bürgern der ehemaligen DDR die Möglichkeit, sich im vereinten Deutschland wiederzufinden und einige Erfahrungswerte aus ihrer DDR- Zeit einzubringen.

Der Schriftsteller sprach sich des weiteren dafür aus, die Stasi-Akten weitgehend zu schließen, weil »das Gift, das durch die westdeutsche Initiative freigesetzt wurde«, weiter wirke. Er wäre sehr dafür, die Archive nur noch zur Verfolgung von Straftaten und für wissenschaftliche Zwecke zugänglich zu machen.

Zu seiner Forderung nach Revision des Einigungsvertrages sagte Grass, für ihn stünde im Vordergrund, das Unrecht aus dem Prozeß der deutschen Einheit, soweit dies noch möglich sei, wiedergutzumachen. Zwar werde die Eigentumsordnung schwer zu ändern sein, weil »schon viel kaputtgeschlagen« wurde und eine »Enteignung der Ostdeutschen« stattgefunden habe. Die Entwicklung müsse jedoch gestoppt werden. »Auf keinen Fall darf auch noch die Bodenreform rückgängig gemacht werden«, so Grass.