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Aus: Literatur/Buchmesse Leipzig, Beilage der jW vom 23.03.2017
Literatur

Wo, bitte, bleibt das Negative?

Allegorie auf die junge Sowjetunion: Andrej Platonows neuübersetzter Roman »Die Baugrube«
Von Stefan Gärtner
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»Muttergrube« für den Sozialismus. Arbeiten an einem Schacht der Moskauer Metro 1933

Da soll die Zeitungswissenschaft mal schnüffeln: Vielleicht bin ich ja der erste, der eine Buchrezension mit der Rezension des Nachworts beginnt und vorher noch den Verlag an den Ohren zieht dafür, die Neuübersetzung eines Buches, das als vergessenes Meisterwerk der (sowjet-)russischen Literatur gilt, von einer so selbstgefällig reaktionären Null wie Sibylle Lewitscharoff benachworten zu lassen, die Andrej Platonows kleinen Großroman »Die Baugrube« (1930) nur als »Abrechnung mit dem Stalinismus« verstehen kann, wie sie »schärfer, unerbittlicher« nicht zu denken sei. Denn »Hekatomben« würden hier geopfert beim Ausheben einer Baugrube für ein proletarisches Hochhaus, und »grundsätzlich ist man in diesem Roman immer froh, wenn wieder einer ins Gras hat beißen müssen«, sofern nicht eben Schnee liegt. »Gestorbensein, das heißt nichts anderes, als vom Leiden erlöst zu sein, auch wenn danach nichts folgt«, außer eben das »Haus des künftigen Lebens«, wie es im Roman heißt, für das die »Muttergrube« auszuheben ist. Das alles ist freilich so dick allegorisch, dass es Lewitscharoff nicht sehen kann, und so geht unter, dass wir es eher nicht mit einer Dokumenta­tion zu tun haben, weil die Allegorie kein realistisches Verfahren ist: Kann sein, die Grube ist ein Grab, aber doch so offiziell in effigie (»als Bildnis«), dass sie, abstrakt, »nur als Beispiel, als Exempel« (Goethe) wirkt. Und eben nicht »wie ein Schlachthieb auf den Leser niederfährt« (Lewitscharoff).

In Lewitscharoffs Lesart, die ihren Antrieb gern ausspricht: »Nein, in diesem Fall ist der Tod kein Meister aus Deutschland«, ist »Die Baugrube«, die erst lange nach Platonows Tod (1951) erscheinen konnte, ein naturalistisches Horrorstück, antisozialistischer Realismus: »Getändel, Arabesken, der Funkenschlag von Sarkasmus und Ironie fehlen gänzlich. [...] Es handelt sich um eine permanente Übersollerfüllung des Plans der Grausamkeit, die der Roman unter dem Sturmsegel der Gerechtigkeit konsequent betreibt, über alle Hindernisse hinweg«, und das darf man sich jetzt aussuchen: ob da eine, unter dem Sturmsegel der eigenen Geschwätzigkeit, bloß spinnt oder schon schwindelt, denn kein Wort davon ist wahr; wie der Witz an der Neuübersetzung ja ist, dass der Roman als unübersetzbar galt. Und warum wäre er das als plane, grimme Darstellung barrierefreier Grausamkeit, ohne Getändel, Arabesken, Sarkasmus?

Doch zum Roman; so fängt er an: »Am dreißigsten Jahrestag seines persönlichen Lebens gab man Woschtschew die Abrechnung von der kleinen Maschinenfabrik, wo er die Mittel für seine Existenz beschaffte. Im Entlassungsdokument schrieb man ihm, er werde von der Produktion entfernt infolge der wachsenden Kraftschwäche in ihm und seiner Nachdenklichkeit im allgemeinen Tempo der Arbeit.« Wie eins bereits hier, im allerersten Satz, den Funkenregen von Satire und Ironie übersehen kann und im Gegenteil behaupten, »dass die Distanzmittel fehlen«, muss schleierhaft bleiben; denn wenn etwas Distanz schafft, dann doch eine Sprache, die eben keine des Alltags noch eine der Schrift ist, sondern der Versuch, im Tastgang eine diffuse, monströse, im engen Wortsinn groteske Wirklichkeit, die der frühen Sowjetunion nämlich, ins Wort zu holen, in der sich alt und neu, vorher und nachher als prinzipiell unvereinbar und feindlich überlagern. Dass, wie die Übersetzerin Gabriele Leupold arglos glaubt, »alle Figuren, der Erzähler eingeschlossen, […] sonderbar und falsch« sprechen, wenn »das ›Neusprech‹ der Sowjetepoche« etwa »mit der alten bäuerlichen Rede und der Sprache der Bibel« kollidiere, ist dann nur zur Hälfte richtig: Denn was hier seinen sonderbaren, aber doch dialektisch gemäßen und durchaus auch grotesk-komischen Ausdruck findet – Lewitscharoff: »Nein, das ist leider nicht komisch« –, sind die Konkurrenzen von Leib und Pathos, Wort und Parole, Individuum und Kollektiv (»am dreißigsten Jahrestag seines persönlichen Lebens«), zumal die im Bild von der Bau-Grube präformierten von Leben und Tod, Kraft und Schwäche, Geschichte und Natur. Wo die Gegenwart mit Kraft helle Zukunft werden soll, wird alles Vergängliche, Menschliche, »Unorganisierte« zur Schwäche, die zu »liquidieren« ist. Aber erzählt der Roman, in allegorischer Diskretion, auch von Zwang, Propaganda, Aberwitz und Totschlag – wiewohl von Hekatomben keine Rede sein kann und die Brutalitäten der Kollektivierung Gewalt nicht erfinden, sondern ausdrücklich spiegeln –, so handelt er doch nicht simpel davon, »dass Kommunismus nicht funktionieren kann« (Süddeutsche Zeitung); eher schon von der Nachdenklichkeit im allgemeinen Tempo und davon, was vorm Absoluten, Eindeutigen, Selbstgewiss-Maschinellen zuschanden wird, auch ohne Revolution. Er handelt, kann man finden, von Lewitscharoffs Nachwort, mindestens aber von dem, was Adorno in einer »emanzipierten Gesellschaft«, die sich um das »Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen« entwickelt, als »wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen« zutage treten sah: »Kollektivität als blinde Wut des Machens«, wo doch Freiheit »Emanzipation gerade von solcher Totalität« bedeuten müsste.

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»Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen«. Gleisarbeiter an der Transsibirischen Eisenbahn 1929

»Die Baugrube« ist ein zutiefst melancholischer Roman, sogar ein Roman über Melancholie, für welche die Revolution, aporetisch genug, keine Verwendung hat. Für Melancholiker wie Weschtschow, der »an den freien Tagen allerlei Unglückskroppzeug der Natur, als Dokumente der planlosen Erschaffung der Welt, als Fakten der Melancholie eines jeden lebendigen Lebens« sammelt, oder den Ingenieur Pruschewskij, der das Leben als eins zum Tode versteht, ist der revolutionäre Positivismus und die ihm folgende, erbarmungslose Positivität – »dass die Trübsal bei uns annulliert ist!«, wie es ein Genosse formuliert – das, was aushalten zu müssen ihren Selbstkern trifft: »Ihm war es behaglicher, Schmerz zu empfinden auf dem erloschenen Erdenstern; fremdes und fernes Glück erregte in ihm Scham und Unruhe; er würde wollen, dessen nicht gewahr, dass die ewig in Bau befindliche und noch unerbaute Welt seinem zerstörten Leben ähnlich wäre.« Das ist ein Wunsch, legitim und illegitim zugleich, und der Roman lässt diesen Widerspruch gelten als melancholischen schlechthin. »Ihm schien das Leben gut, wenn das Glück unerreichbar ist und davon nur die Bäume rascheln und die Blasmusik im Gewerkschaftsgarten singt.« Klingt wie Sozialdemokratie, ist aber Kunst, im Zweifel romantische.

»Die Melancholie«, schreibt Walter Benjamin im »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, »verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten.« Ein totes Ding, dem sich bei Benjamin die barocke, vom Ende aller Dinge sprechende Allegorie verdankt, ist bei Platonow diese Melancholie selbst, denn revolutionär verstandene, marxistische Geschichte ist ja nicht mehr Benjamins todverfallene »Natur-Geschichte«, sondern im Gegenteil eine, welche dieser Natur, die in der »Kahlheit des Herbstes« ihr »ewiges Versöhnlertum« (Platonow) ausstellt, Geschichte als vom Menschen und seiner Gesellschaft bestimmte entgegensetzt: »alles, was es auf der welt gibt, wird gemacht« (Schernikau). Es wäre dann ein historisch gedachter Sieg romantischer Ironie, dass es bürgerliche, gewissermaßen konterrevolutionäre Melancholie ist, der allegorisch das Waisenmädchen Nastja als Verkörperung der Revolution entspringt, dessen altkluger bis zynischer Optimismus gegen den eigenen, kreatürlichen Tod nichts ausrichtet. In einer Art Epilog macht »der Autor« seine Nastja als »Sowjetina« kenntlich: »Der Autor konnte irren, wenn er in Gestalt des Todes des kleinen Mädchens den Untergang der sozialistischen Gesellschaft darstellte, doch dieser Irrtum kam nur aus der übermäßigen Unruhe um etwas Geliebtes, dessen Verlust gleichbedeutend ist mit der Zerstörung nicht nur der gesamten Vergangenheit, sondern auch der Zukunft.«

Denn das Glück ist, wie Woschtschew einem Kader brav bestätigt, »sowieso eine bourgeoise Sache«. Als nämlich, natürlich, Unglück. – Und apropos: »Auch von der Natur«, weiß unsere Trefflichste, »weiß der Roman nichts Günstiges oder gar Schönes zu sagen. Lehmschmierig oder knochentrocken ist der Boden, Pflanzen führen keine Tänze in schäumender Blütenpracht auf, kein zartes Geraschel der Blätter gibt sich zu hören, wogendes Gras bewegt die Gemüter nicht. Der Mond senkt keine traumerfüllte Sehnsucht in die Herzen der Menschen, die Sonne lächelt nicht mild auf ihre geschundenen Körper herab. Kein Liebesgelispel trägt der Wind durch die Flure.« Es ergeht hiermit an Suhrkamp die von Thomas Bernhard geborgte Bitte, das nächste Großwerk »bitte gleich von einem […] Schimpansen oder Maulaffen besprechen« zu lassen. Dann wird es billiger, und besser wird’s auch. Spassiba.

Andrej Platonow: Die Baugrube. Aus dem Russischen übersetzt, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen von Gabriele Leupold. Mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 240 Seiten, 24 Euro

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