Der nötige Bruch
Von Sebastian CarlensWar der jugendliche Mao Zedong ein früher Hipster? Der 1893 geborene spätere »große Vorsitzende«, der sich als angehender Lehrer vom Dorf Shaoshan in die Provinzhauptstadt Changsha aufgemacht und hier Anschluss an eine libertär orientierte Jugendbewegung gefunden hatte, würde heute vielleicht so bezeichnet werden. Dort tauchte er in das Leben der jungen Intellektuellen ein, versuchte sich an neuen Lebensformen, studierte Darwin und den Anarchisten Kropotkin, dachte über alternative Lebenskommunen nach und politisierte sich in der bürgerlichen Revolution und den folgenden Studentenunruhen.
Die Jugend Chinas war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Bewegung, die Einkreisung ihres Landes durch imperialistische Mächte, die Verknöcherung des jahrtausendealten Kaiserreiches hatte ihnen dessen drohenden Untergang vor Augen geführt. Mit der Oktoberrevolution erhielten die zunächst westlich orientierten Reformer 1917 ein Vorbild: Auch rückständige Nationen können sich ihren Weg bahnen. Mao, noch mehr Freigeist als Kommunist, rebellierte gegen feudale Zwänge, propagierte die Frauenbefreiung und ging als einer der ersten aus seinem Freundeskreis eine Liebesehe ein, ohne Trauschein – ein radikaler Bruch mit den konfuzianischen Verhältnissen. Dass er es sein würde, der einmal das alte China samt Konfuzius begraben sollte, war nicht absehbar.
Doch Mao unterschied sich von vielen seiner frühen Weggefährten, die zum Studium nach Japan oder Europa gingen; er blieb und wandte sich der sozialen Frage zu. In seiner Heimatprovinz Hunan befragte er die bitterarmen Bauern – diese Analyse sollte seine erste theoretische Arbeit und der Grundstein seines Programms zur Macht werden. Nicht die dogmatischen, in der UdSSR ausgebildeten Reisekader, die auf das kaum vorhandene Proletariat der Großstädte setzten, sondern der Bauernsohn aus der Provinz sollte die Revolution siegreich anführen.
Hat hauptsächlich Mao China geprägt oder China Mao? Sein Biograph Helwig Schmidt-Glintzer schreibt, vieles spreche dafür, den Vorsitzenden »weniger als Diktator denn vielmehr als Vollstrecker von Handlungsoptionen« zu begreifen. Unter dieser Prämisse gelingt ihm eine sachliche, auch auf neuen Quellen aus sowjetischen Archiven basierende Biographie.
Die ist nötig. Denn der auf westlicher Seite aufgetürmte ideologische Ballast im Umgang mit dem Gründer der Volksrepublik verstellt den Blick auf China. Die Politkampfschriften, die in der BRD als wissenschaftliche Werke gehandelt werden (etwa Chang/Halliday) lösen in China selbst höchstens Verwunderung aus. Und das hat weniger mit Verehrung Maos dort denn mit Personenfixierung hierzulande zu tun: Erst bei seinen Kritikern mutiert der »Steuermann« zur demiurgischen Figur.
Er selbst war da sachlicher. Dieses Denken brachte sein enger Mitstreiter Zhou Enlai, zur Kulturrevolution befragt, auf den Punkt: »Wir setzen uns lieber an die Spitze, als dass wir darauf warten, dass irgend etwas passiert.« Jede gesellschaftliche Stabilität ist relativ, nur der Kampf ist absolut, hätte der Dialektiker Mao, der die großen Zeitläufe bevorzugte, dazu gesagt.
In tausend Jahren, im Kommunismus mit seinen ganz neuen Widersprüchen, würden auch Marx und Lenin ziemlich albern und überholt wirken, meinte er, sich selbst nicht ausnehmend. Heute aber steht sein Bild im Bewusstsein vieler Millionen Chinesen für den oft komplizierten und manchmal tragischen, insgesamt aber erfolgreichen Aufbruch des riesigen Reiches in die Moderne. Eine Versachlichung des Mao-Bildes hilft beim Verständnis Chinas und der Verehrung, die der Staatsgründer dort bis heute erfährt. Schmidt-Glintzer: »Die von ihm und seinen Mitstreitern angestrebte Entwicklungsrichtung erweist sich im Prinzip bis heute als Erfolgsweg.«
Helwig Schmidt-Glintzer: Mao Zedong. »Es wird Kampf geben«. Eine Biographie. Matthes und Seitz, Berlin 2017, 465 Seiten, 30 Euro
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