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Aus: Schweiz, Beilage der jW vom 04.04.2018
Schweiz

Kein Land ohne Arbeitskämpfe

In der Schweiz wird wieder gestreikt. Nach Jahrzehnten des Stillhaltens entwickelt sich ein neues Selbstbewusstsein der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften
Von Johannes Supe
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Sie kämpfen wieder: Die Schweizer Belegschaften lassen sich die vielen Zumutungen der Chefs nicht mehr gefallen

Manche Streikgeschichten können sich deutsche Kolleginnen und Kollegen kaum vorstellen. Zu phantastisch mutet es etwa an, wenn Bauarbeiter mit nur einem einzigen Tag Ausstand ihr Rentenalter um fünf Jahre senken – von 65 auf 60. Doch genau so hat es sich im kleinen Nachbarland Schweiz zugetragen. Unzufrieden damit, sich den Rücken krumm zu schuften, bis der verdiente Ruhestand nicht mehr ohne Schmerzen genossen werden kann, legten die Arbeiter Kellen und Schaufeln beiseite. Da das den Chefs, denen man das Zugeständnis abtrotzen wollte, noch nicht genug Angst machte, legten die Kollegen noch eins drauf. Tausende von ihnen blockierten den Bareggtunnel, einen zentralen Verkehrsknotenpunkt. Nichts fuhr mehr, der Unternehmerverband geriet in Panik – und knickte einen Tag darauf ein. Geschehen ist das zu Beginn des neuen Jahrtausends. Der Ausstand sollte ein Wendepunkt in der zuvor trüben Geschichte der Arbeitskämpfe des Landes werden.

Der Mythos von einer Schweiz ohne Streik begann sich aufzulösen. Mancher, wie Andreas Rieger, früherer Chef von Unia, der größten Gewerkschaft des Landes, hält ihn bereits für erledigt. Denn schon seit Ende der 90er Jahre nimmt die Zahl der Arbeitskämpfe im Land wieder zu, Belegschaften und ihre Verbände wehren sich häufiger. Von dem Prozess will diese Beilage berichten.

Noch immer sind die Bauarbeiter – sie selbst bezeichnen sich als »Büezer« – umtriebig, machen ihren Chefs Probleme. Zum Glück. Ginge es nach den Unternehmern, würde es auch diesmal keine Lohnerhöhung geben, so wie in den Jahren zuvor. Weshalb es nun anders wird, davon berichtet Ralph Hug, der für die Unia-Zeitung Work die Branche seit Jahren begleitet. Seine Einschätzung: »Der nächste Sommer könnte auf den Baustellen heißer werden als sonst.«

Doch nicht nur unter den Arbeitern regt sich immer größerer Unmut. Auch in Bereichen, von denen man das bislang nicht kannte, wird heute wieder der Arbeitskampf geführt. Die Schweizer Journalistin Patricia D’Incau schreibt von den Beschäftigten der Nachrichtenagentur SDA, die sich mit Streiks gegen geplante Entlassungen im Unternehmen wehren.

Solche Kämpfe zeigen, wie langsam ein neues Selbstbewusstseins der Belegschaften entsteht – und zwar eines, das an die durchaus streikreichen Zeiten im Land anknüpft. An die erinnern Tarek Idri und Florian Sieber. Ihr Artikel gleicht einer Spurensuche: Welche Traditionen besitzt die Arbeiterbewegung im Land? Und weshalb wurden sie aufgegeben? Soviel sei vorweggenommen: »Arbeitsfrieden« und »Sozialpartnerschaft« entstanden auch in der Schweiz nicht einfach so, vielmehr mussten sie mit Gewalt durchgesetzt werden. Gewünscht wurde das vom Kapital, in die Tat umgesetzt aber auch von den Spitzen in Sozialdemokratie und Gewerkschaften.

Gerade letztere mussten dafür einen hohen Preis zahlen. Nach Jahrzehnten der Demobilisierung standen die Gewerkschaften den Angriffen der Unternehmer, die in den 90er Jahren erfolgten, weitgehend wehrlos gegenüber. Zehntausende Beschäftigte verließen in der Folge ihre Verbände.

Die Beschäftigtenorganisationen scheinen daraus etwas gelernt zu haben. Zwar finden im internationalen Vergleich noch immer wenig Streiks statt, doch bisweilen werden die Auseinandersetzungen mit erstaunlicher Energie geführt. Aus dem Zusammenschluss verschiedener Verbände entstand mit der Unia eine Gewerkschaft, deren Selbstverständnis um ein Wort kreist: kämpferisch. Andreas Rieger, der der Organisation früher vorsaß, fasst die Entwicklung so zusammen: »Wir wollen nie wieder in eine Situation geraten, in der wir die Angriffe auf die Beschäftigten wehrlos hinnehmen müssen.« Es ist ein Vorsatz, den sich auch deutsche Gewerkschaften zu Herzen nehmen sollten.

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