Versprechen und Wirklichkeit
Von Matthias István KöhlerDie Zeit für Versöhnung sei gekommen, sagte Mexikos linker Präsident Andrés Manuel López Obrador vor einigen Tagen. Er hatte eine »historische Aussöhnung« vor Augen, als er Spanien um eine Entschuldigung für die vor 500 Jahren begangenen Verbrechen während der Eroberung und Unterwerfung der indigenen Völker Lateinamerikas bat.
Die Antwort? Die Regierung des EU-Mitgliedslandes Spanien wies die Bitte »mit aller Entschiedenheit« zurück, die damaligen Ereignisse könnten »aus zeitgenössischer Sicht nicht beurteilt werden«. Die liberalen Ciudadanos sprachen gar von einer »unerträglichen Beleidigung«. In der Kommentarspalte der Tageszeitung El País wurde der mexikanische Präsident online beschimpft: Er solle sich lieber um Korruption und Drogenhandel in seinem Land kümmern.
Das ist die Wirklichkeit Europas. Das zivilisatorische Versprechen, das bis heute so unauflösbar mit dem Namen dieses Kontinents verbunden ist und jetzt vor den EU-Parlamentswahlen von den politischen Vertretern eines geistig abgewirtschafteten Bürgertums so penetrant beschworen wird, trennen davon Welten. Das zeigt nicht zuletzt dieses jüngste Beispiel aus Spanien.
Die vorliegende Beilage fragt: »Wohin steuert die EU?« Sie widmet sich damit einer Institution, die das in der Epoche der Aufklärung geborene Versprechen von Emanzipation, der Befreiung des Menschen aus unmenschlichen Verhältnissen, vor sich her trägt, als wäre es bereits Wirklichkeit. Arnold Schölzel schaut sich an, was es mit den Anfängen der Europäischen Union als »Friedens- und Wohlstandsprojekt« auf sich hat. Die EU als Verfechterin des Freihandels? »Gemach, gemach«, schreibt Jörg Kronauer. Der Staatenbund weiß um die Konsequenzen des uneingeschränkten Handelsverkehrs, wenn man nicht »am längeren Hebel« sitzt. Sabine Lösing und Jürgen Wagner analysieren die neuesten Entwicklungen in der hartnäckig vorangetriebenen Militarisierung der EU.
Robert Griffiths, Generalsekretär der britischen Kommunistischen Partei, geht der Frage nach, warum die Linke in Europa versagt hat. Unsere Kollegen aus Dänemark vom Arbejderen schildern ihren Kampf gegen die EU und auch, warum der »Brexit« für sie neue Perspektiven eröffnet. Reinhard Lauterbach beschreibt, wie in Polen »erfolgreich abhängig« gewirtschaftet wird – und warum das die Regierenden in dem Land skeptisch macht.
»Wohin steuert die EU?« fragten wir uns mit Blick auf den Austritt Großbritanniens aus dem Staatenbund. Die Beilage sollte wenige Tage nach dem »Brexit« am 29. März erscheinen. Die europäische Wirklichkeit hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht, auch wenn es schon bei der Planung der Beilage begründete Zweifel gab, dass der Austritt wirklich an diesem Tag vollzogen würde.
Die Unentschiedenheit des britischen Parlaments in den letzten Monaten, die unzähligen Eingaben, Änderungsanträge, parteiübergreifenden Bündnisse für und gegen den »Brexit« erwecken den Eindruck, ob es nun einen Austritt geben wird oder nicht, sei zu einer zweitrangigen Frage geworden. Dass zur selben Zeit die politische Klasse auf dem Kontinent so widerlich herablassend und gönnerhaft den Zirkus auf der Insel kommentiert, kann von ihrer eigenen Rat- und Planlosigkeit nicht ablenken.
Was das britische Bürgertum wirklich in panische Angst versetzt: Labour-Chef Jeremy Corbyn und eine Sozialdemokratie, die wieder ihren Namen verdient, könnten an die Macht kommen. Dabei markiert Corbyns Ansatz nur seit langem wieder einen ersten vorsichtigen Versuch, das europäische Versprechen ernst zu nehmen. Nicht mehr. Der Labour-Vorsitzende kann sich in Großbritannien auf die derzeit stärkste linke Bewegung in ganz Europa stützen. Ob diese den reaktionären Kräften auf der Insel etwas entgegensetzen kann, wird auch für die Zukunft des Kontinents entscheidend sein.
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